Drögis in der Vorstadt

Sei wie dein Vorbild – mindestens für fünfzehn Minuten: In einer Hamburger Vorstadt-Disco veranstaltete die „Bild“-Zeitung einen „Lookalike“-Wettbewerb. Gesucht wurde jenes Paar, daß dem Pop-Duo Haysi Fantayzee am ähnlichsten sieht.

Es war eines dieser „Bild“-Preisausschreiben. Beim ersten Live-Auftritt des Lumpen-Chic-Hit-Duos Haysi Fantayzee in einer Hamburger Vorstadt-Disco sollte ein Tanzwettbewerb, verbunden mit einem „Lookalike“-Contest (wer sieht Haysi Fantayzee am ähnlichsten, wer kopiert das Outfit am genauesten?) darüber entscheiden, wer den Hauptpreis erringen würde: Ein Tag London mit Haysi Fantayzee, Besuch einer Hip-Disco und Limo-Service. Die Paare mögen sich bei der Haysi-Plattenfirma RCA anmelden. Zwanzig könnten teilnehmen.

Es war einer dieser Freitag-Nachmittage. Dröge verstrichen die Stunden. Draußen senkte sich der Abend über die Hansestadt. Was für ein märchenhaftes Glücksversprechen, daß irgendwo da draußen im undurchdringlichen, unerforschten Dschungel der Vororte drei Millionen big leggy-Pillenbibis mit Haysy-Kostümen und Haysi-Beinen um die Palme des Sieges streiten! Millionen quietschender Kinder mit langen, dünnen Beinen und genialen Lumpen-Chic-Ideen, die sich auf diese supervergängliche Sekundenmode stürzen und wissen: nur jetzt, in dieser Hundertstelsekunde der Kulturgeschichte, in dieser flimmernden, hypervergänglichen Künstlichkeit, erfasse ich den historischen Moment, artikuliere ich, mache ich sichtbar.

Da draußen also ein Festival der Evidenz. Hier nur dröge verstreichende Stunden und ein Abendhimmel, der sich dräuend über uns senkt. Was lag näher, als sich ins Auto zu setzen und mithilfe eines Falk-Plans und einer Taschenlampe in die dröge Vorstadt durchzuschlagen.

Wir fuhren also durch Eimsbüttel, Eimsbüttel-Nord, Stellingen, Rellingen, Krukendorf, Barmstedt, Ebenhöh, Billerkamp, Reddingstedt, kriechen kilometerfressend nach Norden und passen uns der ortsüblichen Höchstgeschwindigkeit von 12 Stundenkilometer an. Gleichmäßig nieselt der historische, immergleiche, schon die von Karl dem Großen gegründete Hammaburg belästigende, von Bischof Ansgar, Barthold Hinrich Brockes, Georg Philipp Telemann, Gotthold Ephraim Lessing, Klopstock, Matthias und Herrmann Claudius, Brahms, Arno und Helmut Schmidt beklagte Nieselregen auf die großflächige Windschutzscheibe. Die kühnen Scheibenwischer des 79er Peugeot (aus dem lichtdurchfluteten Frankreich) tun zwar ihr Bestes, um diese deprimierende, nivellierende Geißel des Nordens zurückzudrängen, mit kühnen Streichen wegzuwischen wie Napoleon die Kalmücken vor Nowosibirsk, aber der Nieselregen wird von Kilometerstein zu Kilometerstein dichter und hartnäckiger. Alles verliert nach und nach seine Farbpigmente, erschrocken sehe ich im Rückspiegel, wie meine Haare ausbleichen. Mein Begleiter sieht aus wie Opi. Opi aus Essen.

Schließlich biegen wir in eine Straße, die Dödelwisch oder Kuhlenkamp oder Bockfleet oder Plattdüüdsch heißt, ein. Ein kastenförmiger Kasten dient hier den Einwohnern als Discothek. Der Peugeot aus dem Jahre 79 (aus dem sonnendurchfluteten Frankreich) kommt im einer Parklücke zum Stehen. Griesgrämige Kaimane stehen um das lichte, gleißende Auto herum. Mißtrauisch beäugen sie die Fremden, die in ihre Gegend gekommen sind. Einer versperrt mir mit verschränkten Armen den Durchgang. Ich drücke ihm eine Apfelsine in die Hand, und alles ist in Ordnung. Hier, wo nie die Sonne scheint, winkt sowas Wunder. „Du bruchst Vitamine, Junge!“ Er versteht. Grinst. Ich darf passieren.

Der Zugang zum kastenförmigen Kasten ist breit. Zehn bis fünfzehn Türsteher regeln den Einlaß. Gleich neben dem Eingang hat man in einer schrulligen Laune eine neonbeleuchtete Imbißbude eingerichtet, die neben dem gefährlichen, grottenartigen Discodunkel wie eine Fata Morgana und sehr einladend wirkt.

Wir nehmen einen Kaffee, den es nur in der neonbeleuchteten Imbißbude gibt. Im Grottendunkel führen sie nur schwere Narkotika. Am Nebentisch stehen zwei Dorfmädchen, nein, keine Nordhamburger Vorstadt-Drögmädchen, sondern Dorfmädchen. Original-Import aus den Fünfzigern. Sie unterhalten sich emsig und eifrig und ernsthaft über die Frage, ob „Shiny, Shiny“, die neue Single von Haysi Fantayzee, dem gleichen „Musikstil“ zuzuordnen sei wie „John Wayne Is Big Leggy“, die letzte, sehr erfolgreiche Single von Haysi Fantayzee. Ihre einzige Informationsquelle, ja die einzige Art von Text, zu der sie Zugang haben, ist die Hitparade im Radio. Fernsehen haben die Eltern nicht („So’n Ding kommt mir nich ins Haus, allein schon wegen der Kinder“), die „Bravo“ ist von der nordelbischen Landeskirche offensichtlich nicht zum Verkauf an Gemeindemitglieder unter 18 Jahren zugelassen worden. Also blasen die beiden Mädchen die Hitparade ebenso mit Fantasmen, Einbildungen, Mikroauslegungen und Legendenbildungen auf, wie früher die Völker, die nur ein Buch kannten, die Heilige Schrift aufgeblasen hahen. Enzensberger hat neulich geschrieben, daß der heutige Durchschnittsmensch an so vielen Vorgängen partizipiere, so viele Informationen aufnehme, daß er sich durchaus mit den Gelehrten vergangener Zeiten messen könne, die in wenigen begrenzten Gebieten beschlagen waren. Diese Mädchen ähneln eher dem klassischen Gelehrten, sind nicht dem Zeichengewitter unserer Tage ausgesetzt, sondern brüten ebenso beharrlich über dieser einen faszinierenden Liste wie Thomas von Aquin seinerzeit über der Heiligen Schrift.

Übrigens gaben die beiden – sie hießen Meta und Käte, zwei heutzutage nur noch in Schleswig-Holstein und auch da nur in wenigen infrastrukturell unterentwickelten Gebieten gebräuchliche Namen – der neues Haysi Fantayzee-Single keine großen Chancen. Nicht zu Unrecht, wie ich meine. Die unlängst erschienene Haysi Fantayzee-LP hat außer einem attraktiven Titel („Battle Hymns For Children Singing“), einem Super-Hit („John Wayne Is Big Leggy“) mit dummem Text (über John Wayne macht man keine Witze!) und einem Super-Booklet (sechzehn Seiten Fotos von den tollen Kleidern, Körpern und Gesichtern von Haysi und Fantayzee) nicht viel zu bieten.

Innen in der Disco-Grotte senkte sich die große Enttäuschung wie ein pulverdampfgeschwängerter Abendhimmel über unsere Gemüter und verfinsterte sie. Keine Dorfmädchen und keine Big-Leggy-Girls, sondern Nordhamburger Flegel: brutal, unsensibel und geschichtslos. Der ewige Nordhamburger Flegel, eine Kuturgeschichte in zwei Bänden – Band I: Geschichtlicher Überblick von Carl dem Großen bis Klaus von Dohnanyi und warum der Nordhamburger Flegel keine Spuren dieser Geschichte erkennen läßt; Band II: Der ewige holsteinische Bauernschädel, und warum sich dieser von der Teilnahmslosigkeit während der Bauernkriege über die stillschweigende Tolerierung der dänischen Okkupation bis hin zur Überbewertung der Diskussion des Rauchverbots in Literturwissenschaftlichen Seminaren nicht geändert hat.

Physiognomisch und überhaupt haben sich diese Typen nie geändert. Ihr oberstes Ziel, nie etwas zu verändern und das Leben möglichst hochgradig langweilig und erlebnisarm zu gestalten, blieb unverändert. Seit den Siebzigern bedecken sie ihre Körper mit einer gewissen Karstadt-Mode, aber das verdeckt nicht ihre jahrhundertalte, von keiner Historie getrübte Nieselregenhaftigkeit.

Keine Haysi Fantayzee weit und breit. Keine Kinder. Nur Männer, brummig und stumpf. Nur Männer, von denen sich einige einen lustigen Hut aufgesetzt haben. Vielleicht meinen sie, es sei Kostümfest. Oder sie können ihren Karnevalshut nicht vom Haysi Fantayzee-Hut unterscheiden. Das Nachdenken über die Beweggründe dieser Menschen, einen ganz bestimmten Hut aufzusetzen, erinnert mich an Andy Warhol, der sich fragte, was Menschen, die ein Sweat-Shirt mit der Aufschrift „Miami“ schön finden, wohl häßlich finden mögen. Ein Sweat-Shirt mit der Aufschrift „Chicago“?

Langsam erschienen die ersten Mädchen. Nein, Frauen. Die Frauen der Nieselregenmänner. Mit zusammengekniffenen Beinen und in berechtigter Angst vor diesen Männern sitzen sie an den Rändern. Nein, ich bin ungerecht. Wie immer erwiesen sich diese Frauen als lebendiger, wahrnehmbarer, und historischer als die tausendjährigen Drögis. Dennoch verließ uns langsam der Mut. Dies war bis jetzt nur die Fortsetzung der Drögheit mit anderen Mitteln.

Schließlich tauchten zwei erste Fantayzee-Girls auf, weitgehend dem Original angenähert, aber nicht quietschend und schrill, sondern ernst und um Genauigkeit bemüht. Weitere Mädchen folgten und verzogen sich in Dreiergruppen auf die Damentoilette. Eine Hamburger Drög-Stimme meldete sich aus dem Glaskasten des DJ: „Souo. Jetz möcht ich euch ehrsmahl die Spielregeln erklärn, nech…“ Man erfuhr, daß eine Jury, die aus einem freien Fotografen, einem „Bild“-Journalisten und Haysi Fantayzee bestehen werde, nach Kleidung und Tanzen Punkte vergeben werde. Die zwanzig Paare möchten sich doch in einem gesonderten Raum einfinden.

Wir hatten längst den Sieger gefunden. Da war kein Zweifel möglich. Kurz bevor die echten Haysi Fantayzee ihre fade Playback-Show begannen, entdeckten wir sie am Eingang. Ein Mädchen, das aussah wie Kate (das ist das Mädchen von Haysi Fantayzee), nur, das ihre Beine noch schlanker und länger waren, ihr Gesicht noch hübscher und intelligenter aussah und ihr Outfit noch virtuoser, und ein Junge, der im gleichen Maße besser war als Jeremiah (das ist der Mann bei Haysi Fantayzee). Ihm fehlte allerdings der Charme des viktorianischen Schwulen, der an Jeremiah so gefällt.

Daß Haysi Fantayzee genau deswegen auf der Welt sind (damit man sie kopiert und übertrifft), das bewies der Abend hinlänglich.

Haysi Fantayzee sind eigentlich ein Trio, aber nur zwei, Kate und Jeremiah, zeigen sich. Nachdem der Mann im Glaskasten langatmig allen möglichen Leuten gedankt hatte („… und freuen wir uns ganz besonders, daß auch Drögfred vom Sowieso heute abend hier erschienen ist, das ist ganz riesig, der berühmte Drögfred, den ihr alle von seiner Sowieso-Sendung kennt…“) kamen die beiden sichtbaren Teile des Trios auf die Bühne, jackelten und juckelten zu ihren zweieinhalb Hits, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Die Hits kamen vollständig vom Tape, als Übergänge hatte man kurze Scratch-Geräusche zwischen die Stücke geschaltet und sogar die mimten Kate und Jeremiah vorm Mikro. Es war als Darbietung ebenso öde und provinziell und butterfahrtenhaft, wie der ganze Nachmittag zu werden drohte, wäre nicht dieses wunderbare Paar aufgetaucht.

Nach der Haysi-Kurzshow sollte der Wettbewerb beginnen. Allein, es waren nur drei statt zwanzig Paare zugegen. Angeblich hätten die anderen, laut Glaskasten-Stimme, die Hosen voll. Eine seltsame Veranstaltung, nicht einer Top-Five-Gruppe würdig. Die Paare waren: Zwei alte Leute im Faschingskostüm. Frohsinn im Blut, „Alles-nicht-so-verbissen-sehen“-Mentalität im Herzen und vermutlich CDU auf dem Wahlzettel, zwei jüngere Leute, die ganz gut aussahen und auch ganz schön ähnlich, und unser Super-Siegerpaar, dem sie das Wasser dennoch nicht reichen konnten. Nach zehn Minuten Tanzen war der Wettbewerb vorbei, und die Jury zog sich zur Beratung zurück.

Wir gingen, um uns zu ersparen, daß vielleicht der „Bild“-Mensch aus lauter „Bild“-Mensch-Haftigkeit mit dem „Alles-nicht-so-verbissen-sehen“-Paar sympathisieren und seinen Einfluß geltend machen könnte, nicht unser, sondern dieses Paar zum Sieger zu wählen.

In Bonn regierte derweil Helmut Kohl, aber der HSV konnte die Tabellenspitze halten.