Ein prophetischer Brief aus London

So fortschrittlich-unzeitgemäß, wie sich die Themsestadt derzeit dem Besucher darstellt, wird es in Hamburg auch bald zugehen. Alles nur eine Frage der Zeit – steht uns eine rosarote Phase bevor?

Daley Thompson kommt erst auf Platz drei. Vor ihm liegen zwei andere zentrale Anliegen der Londoner: 1.) „Keep The GLC!“ 2.) „Free Nelson Mandela!“. Daß mit dem GLC (Greater London Council) muß man sich so vorstellen: Die Hansestadt Hamburg wird schon seit Jahren von einem sehr populären Linksaußen der SPD in Koalition mit den Grünen regiert. Sehr zur Zufriedenheit der Hamburger, gar nicht zur Zufriedenheit der Regierung Kohl. Die Stadt gibt Millionen aus für Randgruppen wie die berühmten schwarzen, lesbischen Vegetarierinnen, die gehbehinderten, pakistanischen Afrikanern und so weiter. Sie veranstaltet Free Concerts mit Wave-Bands, Straßenfeste die Menge, verhindert den Transport von Atommüll durch Hamburger Stadtgebiete, baut Arbeitslosigkeit ab, indem sie sozialistische Kollektivbetriebe subventioniert und erklärt die einzelnen Bezirke der Stadt zu „Sozialistischen Republiken“.

Nun setzt die Regierung Kohl die Abschaffung des Stadtstaat-Status für Hamburg durch, und zwar mit Hilfe einiger hinterfotziger Machenschaften, die sogar CDU-Mitgliedern suspekt vorkommen. Daraus entsteht in Verbindung mit der Solidarität mit Scargills Bergarbeitern eine revolutionäre Stimmung. Noch hat der GLC London in der Hand. Alle Busse sind mit GLC-Propaganda beklebt, jede freie Plakatfläche wurde von modernistischer Minimal-Werbung für Bürgermeister Ken Livingstone („der rote Ken“) und seine Stadtverwaltung genutzt. Seine Biographie („Citizen Ken“) ist ein Bestseller. Und an den Straßen stehen abgerissene Lumpenproletarier und sammeln für die Miner.

Die südafrikanische Botschaft wird rund um die Uhr belagert. Wer nachts ausgeht, kommt kaum umhin, seine Unterschrift unter die Petition für Mandelas Freilassung zu setzen (etwas schärfer formuliert als der Song aus der letzten Kolumne, der gleichwohl mehrmals am Abend vor der Botschaft gesungen wird). Täglich versammeln sich auf sogenannten Straßenfesten Menschen aller Art, von rohen, bauchigen, britischen Dartswerfer-Originalen über Football-Lads, violette Frauen bis hin zu Wavern (speziell der weibliche, nicht totzukriegende Typ der „Siouxsie“) und nackten Negern mit afrikanischen Trommeln und sind gemeinsam links. Dazu spielen Bands mit eben afrikanischen Trommeln oder ganz viel Bläsern (Brecht / Eisler / spanischer Bürgerkrieg) das Ganze ein progressiver Anachronismus: So wie uns England Wirtschaftskrise, Rechtsrutsch und Arbeitslosigkeit fünf Jahre voraus hatte, so kann man jetzt hoffen, daß Londons revolutionäre Stimmung Deutschlands fortschrittlichste Stadt, diese nämlich, in fünf Jahren erreichen wird. Die Happiness-Explosion der Swinging-Wilson-Jahre erreichte uns auch erst 1972, als Willy Brandt und die zu ihm passende Droge Haschisch mildes Glück über das Land verbreiten (die Droge zu Schmidt ist natürlich Kokain, das er sich ja bekanntlich nicht scheute, in aller Öffentlichkeit von der Faust runterzuschnupfen).

Der andere große progressive Anachronismus Londons ist der Blues. Der allerhipste Club ist das „Gaz Rockin’ Blues“ und Gaz ist kein anderer als Gaz Mayall, der Sohn von Hobby-Blueser und Porno-Sammler John Mayall, Autor der großartigen Platten „Bare Wires“ und „The Turning Point“ und verantwortlich für jede Menge Schrott und viele Pornos. Hier geht David Bowie mit Schnauzbart und Iggy Pop hin, und lustige Country-Blues-Gruppen mit einem Rasta als Bluegrass-Fiedler (ich sage euch, für so eine saugeile Schmelztiegeligkeit müßte sich New York noch ganz schön anstrengen), die auch ihre elektrische Gitarre unverstärkt spielen (was eigentlich nicht geht) und sich acht Mann hoch um ein einziges 30er-Jahre-Radio-Mikrophon gruppieren, singen „That’s Alright, Mama“.

Bei Paul Butterfield, dem großen alten Mann mit der Mundharmonika, im „Dingwalls“, einem bierigen Proll-Laden, der noch vor einem halben Jahr so unhip war, daß man nicht für geschenkt reingegangen wäre, stehen die Leute Schlange für einen Mann, der daheim in den USA nicht mehr gekannt wird, und bezahlen 5 Pfund. Derselbe notorische Hipster Bowie (mit Schnauzbart und Klein-Iggy) tanzt den ganzen Abend ausgelassen in der vordersten Front, und wenn seine neue LP nicht nach Heu und Südstaatenelend duftet, eß ich meinen Hut.

P.S.: Lieber Jörg! Ganz recht, so unglaublich dieser Präzedenzfall ist: Ich habe einen Fehler gemacht. In meiner Erinnerung war immer Mike Patto Sänger und Gitarrist und Olli Halsall der Bassist. Doch berechtigt diese Aufdeckung Dich noch nicht, im selben Heft Tracie, die Paul-Weller-Entdeckung, Response-Künstlerin, die Nena wegen deren Achselhaare so unsexy findet, mit Tracey Thorne von eben Everything But The Girl zu verwechseln. So geschehen in der Everything-But-The-Girl-LP-Kritik.