Einführungskurs in eine sinnvolle Aneignung der Pop-Geschichte (Proseminar II)

Mache mehr aus deinem Typ! Suche und finde deine Lieblingsmusik aus den Sechzigern! Viele deiner Freunde haben es schon genauso gemacht und dabei viel über sich und ihre Geschichte gelernt. Ein neues Selbstbewußtsein, Persönlichkeit mit Ecken und Kanten, Stärke im Alltag durch Roots. Denn die gibt es auch für weiße Pop-Kinder.

Macht es wie Edwyn Collins oder Mari Wilson! Werdet Meister des Rückgriffs, lernt die geheimen Gesetze des offensiven Zitats! Baut aus dem Gestern das Morgen auf!

Wer sich über die zur Zeit gängigsten und verbreitetsten Retro-Kults informieren möchte, erfährt hier alles über die Kult-Platten und Gruppen, die zur Zeit in der BRD erhältlich sind und als Grundlage für kultische Beschäftigung mit vergangenen Tagen der Pop-Musik als erste Grundlage dienen können. Den erfahrenen Kultisten entlockt die Erwähnung der Seeds, der McCoys oder der klassischen Motown-LPs nur ein müdes Gähnen. Egal, laß ihn weiter bei PSYCHEDELIC LOLIPOP von den Blues Magoos oder bei der siebten Solo-LP des Milchmanns des Ex-Bassisten der West Coast Pop Art Experimental Band von wahrer Musik träumen, er ist zu nahe am Briefmarkensammeln und zu weit weg von Aktualität, um uns hier zu interessieren. Hier geht es um das, was du dir sofort und ohne Sammlerbörse und Auktionslisten zwecks Innenausstattung der Persönlichkeit beschaffen kannst. Plattensammeln ist nämlich eigentlich eines dieser typischen, blöden Hobbies, die nur Jungs interessieren. Der flüchtig großzügige Blick über die erhalten-gebliebenen souveränen Pop-Entwürfe (besonders der Sechziger) dagegen ist ein Spaß für beide Geschlechter.

Angenommen, du bist ein Mädchen und willst, wie etwa Mari Wilson, die verwundbare, gefühlstiefe Jungmädchenethik und Liebestragik der Präpillensechziger mit Kühnheit, Frechheit und Überblick der 80er Pillenbibis verbinden. Du greifst logischerweise zuerst zu den Shangri-Las. Das auf Wiederveröffentlichungen spezialisierte, in diesem Blatt oft gelobte Line-Label in Hamburg (je und je beim Vertrieb der Teldec) hat die beiden Original-LPs der Shangri-Las im Original-Cover wiederveröffentlicht. Wenn du Geld hast, mußt du sie beide kaufen. Da damit aber nicht zu rechnen ist, suche nach dem weit schwerer zu findenden Sampler GOLDEN HITS OF THE SHANGRI-LAS, der neben den besten Songs der LPs alle übrigen Singles der Shangri-Las enthält. Das Mädchen-Trio, hinter dem der besessene Produzent und Komponist Shadow Morton stand (eine Art antik-griechische Ausgabe von Kim Fowley) dürfte den älteren Semestern noch durch die Tragödie „Leader Of The Pack“ bekannt sein, wo es darum geht, daß ein Mädchen den Mann aus dem falschen Teil der Stadt liebt, der später mit dem Motorrad zu Tode kommt. Noch größer sind Stücke wie „Walking In The Sand“, „Past Present And Future“ (wo Virna Lindt ihr „The Dossier On Virna Lindt“ geklaut hat) und vor allem „I Can Never Go Home Anymore“, das in mehreren dramatischen Schichten von der unvermeidlichen Tragik der Schülerliebe erzählt, die damaligen Schülern/innen die Liebe sauer machte und von der heutige Schüler träumen, denen die Antagonismen ausgegangen sind. Außerdem haben heutige Jugendliche begriffen, daß Tragik der einzig wahre Rahmen ist, junge Liebe zu arrangieren, nicht etwa Diskussionen und klärende Gespräche, wie andere Generationen meinten. Am Anfang singt ein Mädchen zu flotter Spector-Pop-Melodie, daß sie von zu Hause abhauen will, da führt ihr die Leadsängerin dazwischen: „Don’t!!!“ Pause. „Cause You Can Never Go Home Anymore“. Dann erzählt sie zu langsamen, Super-Schmacht-Giganto-Arrangements schleppend von ihrem Leid: „You wake up every moming / go to school every day / spend your nights on the corner / passing time away / your life is so lonely / like a child without a toy / then a miracle: a boy / And that’s called: glad / Now my mom is a good mom and she loves me with all her heart / but she says I’m too young to be in love / … / and it’s only my girlish pride / and the boy and I have to part / and that’s called: bad / Chor: Never go home anymore / Solo: If that’s happened to you / don’t let happen this: I packed my clothes / and left home that night / although she begged me to stay / I was sure I was right / and you know something funny / I forgot this boy right away / instead I remembered my mama sing (neue Melodie): Hush little Baby don’t you cry (…) Cassandra-Chöre zu Super Streichern: You Can Never Go Home ANYMORE! Lead-Gesang (gesprochen): „I can never go home anymore / and that’s called: sad.“ (LEADER OF THE PACK und SHANGRI-LAS 65 beide auf Line, GOLDEN HITS vielleicht noch als Billig-LP der „Attention“-Serie von Philips/Phonogram).

Natürlich kannst du nicht ewig ein Mädchen bleiben und dir einreden, deine Liebesgeschichten würden an der Tragik höherer Instanzen wie Eltern, Schicksal oder Tod auf dem Motorrad zusammenbrechen. Irgendwann wirst du dich mit dem Gedanken anfreunden müssen, nun zur jungen Frau geworden, diese Geschichten auf deine eigene Kappe zu nehmen. Dazu paßt die Machtübernahme des schwarzen Pop-Business Anfang der Sechziger. Der frühe Motown-Soul war für die Gefühlswelt junger Erwachsener zuständig. Die erste von Schwarzen kontrollierte erfolgreiche Pop-Musik fiel mit der Zeit zusammen, in der sich so etwas wie Jugendkultur konstituierte: offensive Gefühls- und Tränenpolitik unter der Ägide des Firmenchefs Berry Gordy und der Haus-Songwriter und Stars William „Smokey“ Robinson und Eddie Holland/Lamont Dozier/Brian Holland. Einerseits sagt der frühe Motown-Soul, daß an deinen Gefühlen absolut nichts Besonderes ist, Liebe wird reduziert auf die Formeln größtmöglicher Allgemeinheit, andererseits ist das flirrende Streicher-Arrangement, die supersüße Soul-Stimme, etwa der Supremes, und das von elegant-hinkendem Schlagzeug bestimmte Rhythmusgerüst um nichts mehr bemüht, als die Intensität einer ganz persönlichen Gefühlswallung nachzuzeichnen. Motown-Soul dieser Phase entsprach der kollektiven Bewegtheit des schwarzen Gottesdienstes. Die Religion hieß jetzt allerdings weniger Christentum als My Guy.

Natürlich kennt jeder die Supremes. Jeder muß sie kennen, das ist wichtiger als Goethe. Die Bellaphon hat 100 LPs des klassischen Motown-Repertoires in der BRD zu Billig-Preisen wiederveröffentlicht. Wer der ersten Bürgerpflicht nachgekommen ist, sich die fünf klassischen Motown-Sampler (1964-66, 67-69, 70-72, 73-75, 76-79) zu besorgen, sollte hier weitermachen. Zuerst bei den beiden Supremes-LPs I HEAR A SYMPHONY und THE SUPREMES SING HOLLAND DOZIER HOLLAND, der ersten Anerkennung für das zu gut 60 % für den Motown-Ruf verantwortliche Songwriter/ Producer-Team, das auch so viele andere Hits der Motown-Phase bis 67 geschrieben hat. Z.B. „Heat Wave“, das Nachgeborene vielleicht nur von The Jam kennen. Mit diesem Song rutschten Martha And The Vandellas in den Hit-Himmel. Man braucht deren gleichnamige LP mit Versionen von „If I Had A Hammer“, Bert Kaempfert „Danke Schoen“, dem weißen Girl-Group-Spector-Klassiker „And Then He Kissed Me“ und dem unschlagbaren „Lonely Boy“. Die GREATEST HITS der Marvelettes, der dritten und noch am wenigsten schillernden Girl-Group des Gordy-Stalls reicht, um dich nachhaltig zur jungen Frau auszubilden. Die männlichen Leser können diese LPs ebenso gut gebrauchen. Die Songs stammen schließlich alle von Männern, auch wenn man das nach den vorliegenden klassischen Interpretationen kaum glauben kann.

Trotzdem haben weiße Jungs im allgemeinen größere Schwierigkeiten mit schwarzer Musik als weiße Mädchen. Sie haben sich als Kinder gerauft, und als Pubertäre sind ihre Gefühle zwar verwirrt, aber immer noch wollen sie sich durchsetzen, denken sie nicht daran, einfach „surrender to love“. Bevor sie Smokey Robinson oder Marvin Gaye lernen, landen sie bei den Beau Brummels oder als etwas extremere Charaktere bei den Seeds. Die Beau Brummels sind ein absolut zeitgemäßer Kult. Wie die Byrds zu Zeiten von 5D oder YOUNGER THAN YESTERDAY, die Cream auf DISRAELI GEARS, die Beatles auf REVOLVER sind sie total auf des Messers Schneide, immer knapp vorm Umkippen in irgendein attraktives Elend wie Country-Revival, Jazz oder Solo-Ambitionen, Indien oder Selbstmordphantasien. Musikalisch sind sie sehr kühn und manchmal großartig, verwegen oder bunt. Auf ihren ersten beiden LPs haben sie diese Haare, die fast zu lang sind, diese Bärte, die noch stoppelig sind und nicht fusselig, die Kleidung, die noch zwischen Beat und Ernsthaftigkeit oszilliert. Sie wenden sich in diverse Richtungen, und es überrascht nicht, daß ihre beste LP TRIANGLE (die ersten beiden gibt es bei Line, für TRIANGLE hab ich in New York 30 Dollar bezahlt, plus taxes) in keine der angedeuteten Fallen tappt, sondern einen der wenigen Momente markiert, wo Pop sich in reine Musik verwandelt, ohne daß das peinlich schmeckt. Ähnliches war vorher nur Van Dyke Parks auf seiner ewig mißverstandenen LP SONG CYCLE gelungen. Dennoch tut sich da, wo Pop-Schönheit und musikalische Schönheit sich begegnen, immer ein weiterer Abgrund auf, leicht nachzuprüfen beim Vergleich von guter, gelungener und mißlungener Filmmusik. Von den Beau Brummels kam später nicht mehr viel, ihr begabter Sänger Sal Valentino landete bei Stoneground, einer militanten Hippie-Kapelle.

Die Beau Brummels sind für den, der sein Gymnasium wegen seiner hohen Intelligenz und einer gewissen Anpassungsbereitschaft trotz der pubertätsüblichen Krisen noch einigermaßen erfolgreich abschließt, für den, der vorher fliegt, gibt’s die Seeds, eigentlich schon lange ein Kultobjekt in Musikkennerkreisen, insbesondere bei Cabaret Voltaire-Fans (deren Version vom Seed-Hit „No Escape“ stellt den Höhepunkt ihrer Karriere dar). Die Seeds sind für verhaltensgestörte, drogenausprobierende, nervo-labile Bürgerkinder. Schon auf ihrer ersten Platte, ihrer besten, sehen sie aus wie psychedelische Polit-Rocker, wie Kleinbürger, die Gefahr suchen. Im Grunde sind sie das, was Jim Morrison immer wollte, aber vor lauter Narzismus und schlechter Lyrik nie erreichte. Ihre Songs sind schneidend böse und haben einen Swing wie die Charlatans oder andere frühe Westcoast-Preziosen. Ihr Klavier hüpft und ihr Sänger Sky Saxon ist bis heute eine Kultgestalt, die, zwischen Messianismus und Satanismus hin und herpendelnd, begnadet größenwahnsinnig ist und sich hin und wieder mit absurden LPs zurückmeldet. Mehr gibt es in dem famosen BOMP-Buch von Rowohlt nachzulesen. Die sechs LPs der Seeds, die man bei Line besorgen kann, dokumentieren alle Phasen und Verwirrungen dieser Band, vom psychedelischen Soundnetz (A WEB OF SOUND) über Country & Western mit bösem Blick bis hin zu einer Blues-LP (A FULL SPOON OF SEEDY BLUES), deren Liner Notes Muddy Waters verfaßte. Sky Saxon hält sich auch heute noch, wie so viele ältere Gammler, für einen Heiligen. Du brauchst die Platten THE SEEDS, A WEB OF SOUND und die Live-LP. Wenn du dich aber weiter in Richtung Beau Brummels (Beau Brummel war ein Dandy, und Dandytum ist ja mittlerweile wieder in Mode. Beziehungsweise wird die Dandy-Begrifflichkeit heut gerne und etwas vorschnell auf aktuelle Zeitgeistkonfigurationen angewandt) profilieren willst, also Beat mit Eleganz, aber für deine Eltern noch tolerabel, bekommst du bei Line noch Platten von den McCoys, den Knickerbockers und vor allem den Leaves und den Easybeats. Die Zombies (die einzige Beat-Band, die Schach spielte) gibt es wieder auf Samplern, ziemlich vollständig.

Zum erwachsenen Liebhaber und/oder Ehemann wirst du jedoch erst wieder mit Hilfe von Motown und den 100 wiederveröffentlichten Bellaphon-Klassikern, am besten orientierst du dich an Marvin Gaye oder Smokey Robinson, du kannst es auch mit Curtis Mayfield, Al Green oder Otis Redding versuchen, aber deren gute Platten sind heute schwerer zu bekommen. Allen gemeinsam ist, daß sie ein Gefühl vermitteln, daß es dem Zuhörer erlaubt, durchschnittlich zu bleiben und sich dennoch wichtig, ernst genommen zu fühlen. Den frühen Smokey Robinson (noch mit den Miracles) schlägt man von Wirkung und Lebensgefühl am besten noch zu den Girl-Groups von Motown: das selbe Temperament, die gleichen Symptome von manisch-depressivem Irresein, die gleiche Tiefe.

Doch Smokey denkt mehr (LPs: HI, WE’RE THE MIRACLES, THE TEARS OF A CLOWN, AWAY WE A GOGO and THE TEMPTATIONS SING SMOKEY), er ist smart und cool. Das geht auf Kosten der totalen Hingabe, der bewußtseinsreinigenden Wirkung einer klassischen Supremes-Euphorie. Es geht auf Kosten der zweckfreien Surplus-Gefühle, aber es ist realistischer, näher an Lebenshilfe. Smokey war in jenen Tagen, nach Holland/Dozier/ Holland der unschlagbarste Komponist im Motown-Stall, und er ist es bis heute geblieben. Er ist seit zwanzig Jahren verheiratet und gab kürzlich gemeinsam mit seiner Frau der schwarzen Zeitschrift „Ebony“ ein Interview zum Thema, wie man zwanzig Ehejahre mit diversen Seitensprüngen und Verliebtheiten dank gegenseitiger Toleranz glänzend übersteht. Smokey ist wie gesagt cool und weise. Seinen Reifungsprozeß kannst du auf Bellaphon/Motown-Platten wie A QUIET STORM oder PURE SMOKEY verfolgen, selbst seine beiden letzten LPs sind, wie auch im Falle Marvin Gaye, unschlagbar, und wenn du gar nichts weißt, kennst du bestimmt die Single „Being With You“, vom vorletzten Album.

Marvin Gaye war in den Sechzigern nur (?) Sänger fremden Materials, eine zweite Karriere hängt an Songs wie „What’s Goin’ On?“, „Inner City Blues“ oder „Let’s Get It On“. Schon als Sänger war er eine besondere Nummer (LPs: THAT STUBBORN KINDA FELLOW, MPG, ganz besonders gut: die Duette mit Tammi Terrel und Diana Ross), der leidenschaftlichste von allen, der Typ, vor dem jeder Durchschnittsmensch Angst hat, er könnte ihm die Ehefrau verführen. Marvin wurde dann politisch und sozial wach, croonte im Dienste von Wahrheiten. Die Whitfield/Strong-Rare Earth/Temptations-Edwin Starr-Linie hatte zwar schon, zeitgeistbedingt, mit hervorragenden Schlagzeilen-Songs in den späten Sechzigern die großen Fragen aufs Tapet gebracht, aber Marvin ging, wie Curtis Mayfield, einen Schritt weiter, indem er die Leidenschaft, die er früher darauf verwendete, Frauen zu bezaubern, in die Diskussion warf.

So stelle ich mir das Reifealter eines Mannes vor. Marvin hatte später noch eine Menge Ärger mit seiner Frau, der Schwester von Berry Gordy, dem Motown-Imperator. Über seine hervorragende neueste LP lest ihr in diesem Heft.

Dies war die erste Sitzung. Ich hoffe, ihr lernt auch die entsprechenden Temptations/Commodores-etc.-Platten kennen. Wo die nächste Sitzung stattfinden wird, steht noch nicht fest. Vielleicht werden ein paar ausfallen. Dann aber geht es weiter mit neuen geilen Kultlegenden und anderen Hilfen, um mit Stärke und Würde erwachsen zu werden, um die Welt aus den Angeln zu heben.