Zeit was ist das eigentlich? Zeiten – ändern sie sich eigentlich? Ist die Frage so überhaupt erlaubt? Kehrt das Immergleiche getreulich immer wieder oder wiederholt sich die Geschichte nur einmal und dann als Farce?
Daß die Zeiten sich änderten, dachte ich, als ich hörte, daß Simone de Beauvoir gestorben ist, und mir auffiel, wie lange es her ist, daß ich den früher für jedes sogenannte gute Gespräch unabdingbaren Satz gehört hatte: Wir wollen leben wie Sartre und Beauvoir. Heute will wohl kein Paar mehr so leben, daß beide sich austoben, aber oft zum Anhören klassischer Musik zusammenkommen, was angeblich haltbarer und wertvoller ist als jede sexuelle Beziehung. Besonders die Matthäus-Passion.
Jeder kennt sicher die Angst, daß sich die Zeiten nicht ändern. Schließlich müssen wir alle sterben und wer hat nicht einen Horror vor der Vorstellung, daß sich die Zeiten die ganze Geschichte über ständig verteufelt geändert haben und ausgerechnet zu unseren Lebzeiten die Geschichte eine Pause macht. Ist es nicht nur so zu erklären, daß es neuerdings Philosophen gibt, die die Geschichte leugnen?
Daß keiner mehr leben will wie Sartre und Beauvoir gab mir die Hoffnung ein, daß eben doch Zeiten sich ändern, jenseits der verzweifelt herbeigesehnten und herbeigewünschten Zeitlichkeit derer, die unter hörbaren Gehirnknirschen einem vermeintlichen Geist der Zeiten dienen. (Hier fehlt ein obligatorisches Faust-Zitat!) Dann sah ich in einer Ausgabe der „Zeit“, daß der Suhrkamp-Verlag sich traut eine neue Goldene-Worte-von-Herrmann-Hesse-Sammlung anzubieten, nunmehr statt des einbändig bescheidenen goldenen Breviers der Pubertät „Lektüre für Minuten“ eine protzige fünfbändige Ausgabe! Daraus schließen wir, daß die Nachfrage nach Hesse nicht gesunken ist und Pubertäten, im Gegensatz zu Paarbeziehungen von Twens, immer noch nach den gleichen Gesetzen verlaufen wie schon zur Zeit der Währungsreform. Die Zeiten ändern sich also nicht. Sie nehmen nur zu, sie werden dick und dicht, sie sind aus Milch und verhalten sich entsprechend der Chemie der Milch. Was schon Paul Celan ahnte, aber nicht genau wußte, denn er war ein Dichter und er liebte das Ungefähre (um Rilke einmal gegen den Strich, nämlich falsch zu zitieren). Die Zeit ist ein Käse, aber die „Zeit“ aus Hamburg ist mittlerweile so verschimmelt wie ein guter Roquefort und ich muß zugeben, daß sie mir Spaß macht, seit ein paar Monaten. Wie sie jetzt entdeckt haben, daß man Freud als Dichter und nicht als Wissenschaftler zu verstehen hat. Eine Entdeckung, die alle anderen vor 15 Jahren gemacht haben. Wie sie in aller Offenheit Hilflosigkeit eingestehen, indem sie per Annonce einen jungen Menschen suchen, der sich mit Pop, Rock, Jazz und so auskennt! Zu nett.
Ich weiß jedenfalls, daß es Geschichte gibt. Ramón del Valle-Inclán hat es mir gesagt. Der ist vor 50 Jahren gestorben und war Bolschewik und Aristokrat. Logischerweise, denn Kommunismus ist nichts anderes als Aristokratie für alle und Aufgabe des Dichters ist es stets das Endergebnis seiner Bemühungen (als Bolschewik wie als Dichter) schon zu Lebzeiten in sich zu tragen. So gesehen braucht er weder vor dem Tod noch vor der Kefirwerdung der Zeiten Angst zu haben. Was auch Juhnke ahnt, wenn er Kefir trinkt. Auch ein Dichter, der das Ungefähre haßt.
