Fünf Freunde und die Schleyer-Entführung

Für den Rest seines Lebens haben sie den Peter-Jürgen Boock hinter Gitter gesperrt. Dort hat er einen Roman geschrieben, in dem steht, was sich zugetragen hat, der aber keinen denunzieren will. Es ist eine Geschichte der Katastrophe des Jahres 1977, auch eine Geschichte, die zwischen Hippies und Punk-Rockern spielt

„Rock-music is breeding soldiers and killers“
Henry Rollins

Wie ungenau Pop-Musik sein kann (oder wie allgemeingültig)! Wie Millionen andere in aller Welt, die zwanzig Jahre später schlecht gelaunte Rundfunk-Moderatoren geworden sind oder einfach SPD-Mitglieder, wurde Peter-Jürgen Boock von Eric Burdon & The Animals und Country Joe & The Fish politisiert. Der Soundtrack zur romantischen, gefährlichen Ein- oder Zweisamkeit (in anonymen Interconti-Zimmern) war der gleiche wie bei vielen Millionen Drogen-Hippies, Individualanarchisten und 68ern mit künstlerischen Neigungen, die heute vor dem Musée d’Orsay für die Van-Gogh-Ausstellung Schlange stehen oder Bücher von Matthes & Seitz lesen: „Strange Days“ von den Doors.

Das ist die späte miese Rache der Legalen. Die großen, bösen, konsequenten Terroristen haben sich mit den gleichen schlappen sentimentalen Hippie-Lebenslügen getröstet wie die letzten Penner vom Campus. „Strange Days“ und dazu ein Joint, etwas Rotwein und mit der Genossin in die Badewanne gehen, sich gegenseitig Lebensgeschichten erzählen. Grusel, aber so war’s, so steht es geschrieben. Die Illegalen suchen in Kampfpausen Erbauung bei den allerlegalsten aller Subkulturvergnügungen, bei bekannten billigen Platten und bekannten billigen Gefühlen und bekannten billigen Drogen. Das Erstaunen darüber steht für den Mythos, daß einer, der zur Waffe greift, irgendwie mehr wissen, ein „höheres Bewußtsein“, eine „Erleuchtung“ erlebt haben muß.

Der Unterschied, der in Boocks „Roman“ zwar nicht herausgearbeitet, aber ablesbar ist, besteht allerdings darin, daß die Legalen diese Mittel zur Steigerung ihres Lebens benutzten, die Illegalen aber zur Dämpfung, zur Beruhigung. Man trifft sich in der Mitte. So wie immer alle großen US-Revolutionäre oder einfach nur Outcasts immer irgendwann bei Gospel oder Country & Western und Mutters Apple Pie enden, durchzieht das ganze Buch die Gefahr, die die Sehnsucht nach dem ganz billigen Gefühl, der großen, schönen korrumpierenden Sentimentalität – als Absturz aus der als notwendig erkannten Isolierung von allen Darreichungsformen der verschiedenen, in der Welt da draußen existierenden Common Senses – bereithält.

Wenn Du ein Schreiber bist, mußt Du hingehen und nachsehen, wie es ist. Aber da, wo Du hingehst, kannst Du auch umkommen, sagt William Burroughs. Und das geht natürlich auch umgekehrt, wie eine Vielzahl von Büchern zeigt, die Leute nur geschrieben haben, weil sie irgendwo waren (oder sind), wo sie auch hätten umkommen können. Fast schon professionell zaubert Boock die Toten aus dem Hut, wenn die Story langweilig werden könnte, in kunstvoll eingeschachtelten Rückblenden. Wie plötzlich das Gehirn eines libanesischen Freundes an seinem T-Shirt, ohnehin verschwitzt, klebt, wie dem Genossen Hans der tote Kopf seiner Freundin, der Genossin Lore, auf den Schoß sinkt, woraufhin dieser wild um sich zu schießen beginnt, was wiederum einem Polizeibeamten das Leben kostet, wie Christliche Milizionäre in Beirut eine Genossin zu Tode foltern, indem sie eine ausgehungerte Ratte sich durch die Vagina in das Körperinnere fressen lassen … Überhaupt Beirut, aus Beirut kommt er in der gleichen Verfassung zurück wie der all american GI aus Vietnam. Es war nicht so, wie sie es ihm gesagt haben. Die Fronten waren nicht klar, jeder schoß auf jeden. Das Konzept Stadtguerilla kam aus Südamerika und scheiterte in Beirut. Die Strategien des US-Imperialismus sind eben vielfältig, nicht immer nimmt er die leicht zu bekämpfende, geschenkt gehaßte Fratze des Militärdiktators mit altmodischer Sonnenbrille, des Latifundista oder der United Fruit an, da wo die Strategie der USA einfach nur noch Destabilisierung heißt, ist auch jede Guerilla nur ein Faktor der von den anderen gewollten Destabilisierung, spielt deren Spiel. Seit Beirut, so Boock immer wieder, war er nicht mehr der Alte.

Die alte und zu einfache These, daß die RAF im Prinzip deren Spiel gespielt hätte, Vorwände geliefert für das, was damals auf Flugblättern „Faschisierung von Staat und Gesellschaft“ genannt wurde, für Repression und bis vor kurzem fälschungssicheren Personalausweis (wie wenig ein Staat dafür Vorwände braucht, sieht man heute), wird in diesem Buch schon mal einem legalen Unterstützer, dann wieder einem holländischen schwulen Hippie und Popjournalisten in den Mund gelegt, auch das eine oder andere Gruppenmitglied öffnet sich in sentimentalen oder kritischen Momenten Einwänden oder Vorwürfen, wie dem des verlorenen Kontaktes zur Basis/den legalen Unterstützern. Diskutiert/entschieden wird eigentlich nichts. Wo Aust sich in die Psychologie rettet, um nicht Stellung zu nehmen (und damit Stellung nimmt: Terrorismus oder Sozialdemokratie? – eine Sache der Temperamente), nimmt Boock die Literatur zu Hilfe. Action und Horror und Liebesszenen zerreißen dann die Analyse. Was aber schon in wesentlich ungefährlicheren, bescheideneren Entscheidungsprozessen in everybody’s autobiography den Tatsachen entspricht; denn es ist ja in jedem Leben der Trick der Welt, mit Action, Horror und Liebe die ungestörte, zu richtigen Entscheidungen führende Reflexion zu zerreißen.

Und der, der hier „ich“ sagt, was ist das für einer? Boock ist sich überhaupt nie sicher. Selbst wenn er als harter Revolutionär auftritt, vergißt er nicht hinzuzufügen, was er „wirklich“ gedacht hatte, „in Wirklichkeit lieber“ gesagt hätte. In den entscheidenden Momenten der vielen Diskussionen mit seinen beiden Freundinnen in der Guerilla, Anna und Renate, zieht er sich auf seine „Ganovenehre“ zurück, die ihm auch unabhängig von allen politischen Erwägungen gebietet, „die Stammheimer“ zu befreien, weil sie ihm seinerzeit geholfen haben, als er im Heim saß. Damit ist er dann ganz alleine in der Gruppe, der „Strange Days“ hörende Ex-Dealer. Strange days have found us, strange days have tracked us down und die Verse des kleinbürgerlichen Rimbaud-Fans und Drogen-Existentialisten Jim Morrison, Sohn eines US-Offiziers, helfen den ganzen isolierten, selbstgewählten Kriegsstatus als einen seltsamen Trip auszupolstern, in den man vulgär-existentialistisch „geworfen wurde wie ein Hund ohne Knochen“ (Morrison, a.a.O.). Und das kann ich gut verstehen, auch wenn es doch zu seltsam ist, daß andere Leute dasselbe Lied benutzten, um mit schlechten Schulnoten, schlechtem Haschisch oder weggelaufenen Freundinnen fertig zu werden.

Immer wenn die Dritte-Welt-Argumentation durch ist, verlangen die legalen Freunde und Unterstützer nach einer Einschätzung der Lage in der BRD. Und dann kann Boock seinem holländischen Pop-Kenner-Freund Willem auch nichts anderes erzählen als die Leier von den TV-Zombies und -Spießern, die dringend befreit gehören, dann mokiert er sich über McDonald’s „Plastik“-Essen wie der blödeste Juso-Studienrat, dann fragt man sich, wer hier eigentlich wirklich der Spießer ist.

Ein RAF-Kommando bezieht mit acht Personen eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem dieser berühmten anonymen Appartementhäuser. Sie achten auf Anpassung. Am ersten Abend gestatten sie sich Lärm und Fröhlichkeit und Rotwein und den gemütlichen Joint, weil sie das den Spießern gegenüber als Einweihungsparty deklarieren können. Von da an müssen die zwei, die sich als das junge Mieterpaar ausgeben, jeden Morgen zu der Zeit, wenn die Spießer das Haus verlassen, weil sie nämlich arbeiten, ebenfalls jeden Morgen das Haus verlassen, die anderen dürfen sich nicht mehr bemerkbar machen, allenfalls nachts sich davonschleichen, sogar die Toilettenbenutzung wird rationiert.

Dabei weiß jeder, der jemals in so einem Haus gewohnt hat, daß sich da in der Regel weit schlimmere Dinge zutragen als ein wenig Guerilla. Man schmeißt Kinder aus dem Fenster, verprügelt abgeschleppte Stricher, killt Callgirls und geht in den seltensten Fällen einer geregelten Arbeit nach. Mit so erzspießigen Dingen wie einer Housewarming Party halten sich höchstens die paar Studenten auf, die gerade keinen WG-Platz in einem schönen Altbau mit Stuck abgekriegt haben. Selten so deutlich wie in diesen Szenen wird einem, wie für die deutsche Guerilla die Maxime ihrer Vorbilder sich dramatisch ins Gegenteil verkehrt hatte: Nicht von einer sympathisierenden Unterstützerszene freundlich umgeben sind sie, sondern spießigen Arbeitsrobotern – die schon lange vor der großen Terrorhysterie offensichtlich nichts anderes im Kopf haben, als zur Rettung von McDonald’s und TV-Zombietum abweichende Verhaltensweisen aufzuspüren – ausgesetzt. Das ewige 68er-Problem: Über dem Kampf gegen die Spießer wird man zwangsläufig selber zum Spießer.

Eine der sympathischsten und am anschaulichsten geschilderten Figuren ist „der Lange“, Boocks großer Freund aus dem Heim, mit dem er, bevor er in den politischen Untergrund einsteigt, eine Dealerkarriere macht. Der Lange ist von Anfang an gegen die Bürgerkinder und „Studententussis“ mißtrauisch. Es macht ihm Spaß, die Kiffer vom Campus abzuziehen, es macht beiden Spaß, das Geld mit beiden Händen auszugeben, erster Klasse zu reisen und die Minibars im Interconti zu plündern (eine Neigung, die Boock sympathischerweise auch bei der RAF nicht los wird und den puritanischen Genossinnen auf rührende Weise als strategische Notwendigkeit – nicht auffallen etc. – zu verkaufen versucht). Der Lange setzt sich später, von Drogen ruiniert und vom abtrünnigen Freund enttäuscht, live vor Boock und seiner Freundin den goldenen Schuß. Jeder kannte damals so einen, so einen schlacksigen Dealer, der vor nichts Angst hatte, von dem man sich gerne linken ließ, dessen cooler wortkarger Humor Vorbild für die Jungen und Erbauung für die Gleichaltrigen war. Und von dem man dann irgendwann hören mußte, daß er sich den goldenen Schuß gesetzt hatte. Dieses Leben wäre für Boock die einzig denkbare Alternative zur RAF gewesen.

68 wurde die Alternative geboren, Drogenhippie zu werden oder Linksradikaler, 77 Punk oder Yuppie. So steht es in den Geschichtsbüchern geschrieben. Lange hat man 68 mit friedlichen Demonstrationen vieler friedlicher oder nur begrenzt gewalttätiger Langhaariger assoziiert und 77 mit Beendigung kläglicher und korrupter Existenzen und nihilistischen Punkrocks. Folgt man diesem Buch, war die RAF nichts anderes als extremes Hippietum, politisch extremer und drogenerfahrungsmäßig extremer, nicht aber das andere, Anti-Hippie-Bewußtsein, das im Punk populär wurde. Die Alltagsansichten, die Alltagskultur, die Lieblingsfilme (Casablanca), die Diskussionen, bei denen am Ende der Recht erhält, der mit „dem Bauch“ oder aus der Betroffenheit argumentiert, alles pur Hippie, wie es der Punk-Rocker haßte. Die Stammheim-Begeisterung der Punk-Rocker wäre demnach nichts als Kult, weltfremde Heroisierung irregeleiteter Jugendlicher auf der Suche nach einem Leitbild. 

Ich glaube das nicht, ich neige eher dazu, daß die Katastrophe der RAF, die das Jahr 77 darstellte, im Punk-Rock ihr angemessenes Spiegelbild gefunden hat, der ja nichts anderes zum Ausdruck brachte als die Enttäuschung, daß man seine Aggressionen nicht mehr politisch sinnvoll in Terror umsetzen könne. Der, der für diese Einsicht sein Leben gegeben hat, ist natürlich ein Held. Mogadischu ist das Golgatha jeder weißen, kleinbürgerlichen, europäischen Jugendrebellion. Der Haß, das Aufbegehren hat seitdem die Form eines rituellen Dennoch angenommen, ohne die Chance, in seinem Sinne die Welt zu gestalten. Viele verzichten heute von vornherein auf ihre Jugend. Haß darf keinen Sinn mehr haben, heute, das ist die große Niederlage. Denn es gibt natürlich immer noch und immer wieder genauso viel gerechten Haß wie ehedem. Dem Hippie aber, den die Punk-Rocker dann in Form von sozialdemokratischen Lehrern bekämpft und gehaßt haben, wurde eigentlich nur vorgeworfen, nicht wie seine Gesinnungsgenossen beizeiten sein Leben gegeben zu haben.

Was ist ein Roman? Wenn man aufschreibt, was sich zugetragen hat, aber niemanden denunzieren will. Solche einfachen Wahrheiten werden einem noch einmal klar, wenn man Romane von Terroristen liest.

Sehr lange habe ich darüber nachgedacht, woher ich die extrem unangenehme, unangemessene Sprache kenne, die Boock wählt, wenn er die Terroristen sich unterhalten läßt. Der sonst normal geschriebene Roman wird fast unlesbar, wenn es zu Gesprächen oder Diskussionen kommt. Egal ob im Angesicht des Todes oder beim konspirativen Treff in Amsterdam, die Figuren reden in einem umständlichen, blumigen, mit müden Witzen und Formulierungen wie „Spaß beiseite“ gewürzten Deutsch, das mir von irgendwoher bekannt vorkommt. Ist es die „eh, Du“-Sprache der 70er Jahre? Teilweise. Ist es das bemüht Verbindliche von Rockerpfarrern? Nicht ganz. Nach 150 Seiten etwa wußte ich, was es ist: Enid Blyton, 5 Freunde und die Schleyer-Entführung. Nachdem das klar war, konnte ich es wieder gut aushalten. Schließlich ist das nur ein weiterer Aspekt des tiefgreifend-rührend-sympathischen Charakters des Peter-Jürgen Boock, der dieses Buch durchzieht und nur Haß zuläßt auf einen Staat, der es für nötig befunden hat, diesen netten, leicht ältlich-vergrübelten, unglaublich bemühten und verantwortungsbewußten Bürger Boock in erster Instanz für dreimal lebenslänglich plus fünfzehn Jahre hinter Gitter zu sperren.

Es gibt nach wie vor keinen Grund, sich auf die Schulter zu klopfen, weil man damals nicht dabei war: Man dachte ja nicht anders, war nicht schlauer als die, die in diesem Buch zu Wort kommen, man war ja nur zu klein, zu alt oder zu feige. Ebenso unzulässig, wie aus diesem Buch Rückschlüsse über die RAF oder gar die deutsche illegale Linke im allgemeinen zu ziehen, wäre es, die in irgendeiner Weise „typische“ Autobiographie eines Heimkindes herauslesen zu wollen, dem nur die eine oder andere Sorte von Illegalität blieb. Eher kann man von der Gefangennahme durch eine Zeit sprechen, die bis heute für Boock andauert und unauslöschlich Grundsätze festgelegt hat. Daß viele andere, die diese Grundsätze teilten, mit sehr viel heilerer Haut davongekommen sind als Boock und der Lange, verdankt sich der Gestapo-Logik, nach der diese Welt organisiert ist: Muckt ein Dorf (Generation, Klasse, Religion) auf, wird halt willkürlich jeder Zehnte herausgegriffen und erschossen.

Peter-Jürgen Boock: Abgang. Lamuv Verlag 1988, 327 S., 38 DM