Als ich zum ersten Mal in einer Immendorff-Ausstellung war, habe ich viel geredet. Um mich herum wurde ebenso viel geredet. Man machte einander auf Details aufmerksam, man lachte, verlängerte Ideen, erkannte Motive wieder. Es war wie das Aufschlagen eines Marvel-Comics, wo man auch immer Verweise auf alte Hefte findet, wo von Folge zu Folge der Leser zum Experten eines Kosmos ausgebildet wird, wo ihm das Dechiffrieren von Ereignissen, das In-Beziehung-Setzen zu einem historischen Ganzen beigebracht wird.
Die Figuren dieser Immendorff-Welt sind neben vielen selbstgeschaffenen Motiven, Zeichen, Typen, die guten Bekannten des deutschen Medien-Alltags. Es sind Figuren, die diesen Medien-Alltag diskutierbar machen, ihm ein Gesicht geben: Die Politiker, die Skandalhelden, die Schriftsteller, die Heroes und Zeroes, die soziologischen Idealtypen – die Objekte der Karikatur. Doch anders als im System der Karikatur treten diese mit Bedeutung vollgesogenen, „schweren“ Figuren aus der einen Funktion heraus, für die sie die an Eindeutigkeit interessierte Karikatur benötigt. Immendorff versetzt sie in ein Paralleluniversum, wo alles von neuem losgeht.
Jean Pierre Leaud sagt in einem Godard Film: „Ich bin Lumumba“. Wo doch jeder weiß, daß er Jean Pierre Leaud ist. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten sich der Welt zu nähern. Entweder einer hält die Dinge für schwer und belastet, für undurchschaubar vernetzte Gebilde, religiös aufgeladen gar, und bildet seine Verzweiflung über diese Unzugänglichkeit ab. In den Ausstellungen wird nicht geredet, Münder schnappen von unten zu und Laute wie „mumpf“ oder „oh“ sollen dem ungeheuer dramatischen Zustand Tribut zollen, dem eine solche Kunst sich anzunähern vorgibt.
Oder einer zerschlägt diese Behauptung, indem er Sichtbarkeit und Konturen behauptet, Gedanken auch dann als Elemente einer diskursiven Schlacht zeigt, wenn sie sich von ihrer Natur gegen eine solche Vorgehensweise sperren. Zu den Bildern, und dem sonstigen Mobiliar Immendorffs gehört es, die Idee aus ihrer gesicherten Lage im Diskurs herauszureißen und ihnen einen Platz in einer Schlachtordnung zuzuweisen, bzw. einen solchen Platz offenzulegen. Nicht in einer realen Schlachtordnung, die bislang verdunkelt geblieben wäre und die Immendorff nun aufklärerisch oder ideologiekritisch der Obskurität entrissen hätte, sondern in einer Fiktion von Schlacht, die sowohl Modell wie Zerrbild, Utopie und Perspektive ist, die neben oder unter den pluralistisch vernebelten, liberal befriedeten Auseinandersetzungen tobt. Immendorff hat in seinen Cafes, Kneipen, Eisblöcken nur immer wieder strategische Situationen inszeniert, für entworfene, erwünschte Kriege die Topographien, Begrenzungen, Szenarios erfunden. Derartige Szenarios, bei Immendorff meistens Räume, die in sich durch Grenzen aufgeteilt sind, schaffen erst die Voraussetzungen das militärische Potential von Gedanken, Stereotypen, Topoi und Klischees freizulegen, sie zu entschärfen.
Die Wiederholung der Räume unter leichter Variation der Szenarios bewirkt den Charakter des Seriellen, wie wir ihn aus „Dallas“ kennen und schätzen. Die minimalen Veränderungen in einer im Großen starren Struktur tragen zur Verschärfung bei. Die deutsche Teilung – für uns Heutige nur ein kitschiges Streichermotiv einer uralten Filmmusik – wird in den Rang einer großen Gunfight-Situation erhoben, wie wir sie aus großen Western kennen.
Immendorff verweigert die Frage, wie Realität am besten darzustellen sei. Er gibt sich mit der Repräsentation der Welt, wie sie die Medien vornehmen, zufrieden. Allein er versetzt deren Figuren und Requisiten. Das ist mehr als nur ein Brechtscher Verfremdungseffekt , der nur die Künstlichkeit von Kunst vorführt, aufklärend darstellt, daß die Bühne nur eine Bühne und die darauf agierenden Personen keine realen Personen, sondern bezahlte Schauspieler, die ihre Arbeit tun, sind. Immendorffs Bilder sagen nicht nur, daß sie nur Bilder sind, sie sagen auch nicht nur, daß Havemann und Honecker und Trotzki und Lenin, nur Namen, strategische Zeichen, sind, die für etwas stehen, daß „Punks“ und „Eiszeit“ nur Stereotypen, aufgeblasene Erfindungen seien, die im anderen Zusammenhang der Immendorff-Szenarios zerplatzen wie Seifenblasen. Denn er nutzt und liebt diese Stereotypen. Es gibt kein Entlarven im Cafe Deutschland. Das Cafe Deutschland ist eine Erweiterung, ein Aufnehmen der von den Medien, den populären Ideologien, den verbreiteten geschichtlichen und politischen Diskursen angebotenen Motiven und Topoi.
Vor der Erweiterung aber steht die Öffnung der Schleusen, das Passierbarmachen von unwegsamen Gelände. Die Bilder stellen Gleichheit her, Gleichberechtigung zwischen dem, was gemeinhin als Wort für gedanklich, als Realität für real, als Bild für Kunst gehalten wird. Das System GROSSE KUNST und die damit verbundene Vorstellung von Distanz und Abstraktion und auf der anderen Seite die Medienwelt und die ihr zugeschriebene Nähe zu, bzw. Identität mit dem, was man gemeinhin für Realität hält, auf eine Ebene zu bringen, als zwei Systeme zu nehmen, zwischen denen ein Austausch möglich ist, ist die Voraussetzung für Immendorffs Arbeit.
Was ihn von jener Öffnung für das Gesicht der Medien, für die von Fernsehen und Graphik verbreiteten einfachen Wahrheiten, für die Schönheit der simplen Nachricht, für die Faszination an der strukturellen Weisheit der Slogans, von der historischen Pop-Art also, unterscheidet, ist diese Umkehrung: Für die 60er-Pop-Art war es wichtig, daß Kunst nicht mehr als Kunst zu erkennen war und daß umgekehrt Massenbilder gewürdigt würden. Für eine spätere aktuelle Strategie war es wichtig den Schein der Kunst, die damit verbundene Strenge, die Grenzen zwischen dem, was möglich ist und dem, was verboten ist zu regenerieren. Nicht nur weil zu lange alles erlaubt war und nicht nur, um sich von beliebigen Gedankenspielen abzusetzen. Nicht nur, weil die einstmals als avantgardistisch empfundene Zeichenflut, der sich ständig selbst aufhebenden Kunst längst den Herrschenden am allermeisten nützte. Diese bekannte Regeneration von Kunst als Kunst aus den mittleren Siebzigern zog jedoch gleichzeitig eine Regeneration archaischer, unreflektierter Ideen von Künstlertum, von Phantasie, Individualität und Schönheit nach sich, die die Beliebigkeit lediglich aus dem Gedanken ins Objekt und zum Subjekt verlagerten, den Rückschritt in eine noch ältere Haltung ermöglichten. Immendorff hat diese Entwicklung gekreuzt, teil- und zeitweise deckten sich seine Ziele mit den Zielen eines neuen Malens. Immendorffs Bilder drängten jedoch nach Abgrenzung, weil sie aus der Not eines ständig wütenden Abgrenzungsbedürfnis gemacht werden mußten. Nicht weil ein Bild gemalt werden mußte, sondern weil ein anderes Bild, eigenes oder fremdes, oder ein Satz korrigiert werden mußte, mußte ein neues Bild gemalt werden, bzw. ein Bilder-Feldzug initiiert werden. Jede andere Ausübung des Künstlerberufes hat weniger Statement-Charakter als das gerahmte, gemalte Bild.
Es trägst die Schlieren und Spuren eines lebendigen Urhebers, Blut, Sperma, Schweiß und Tränen, lauter bürgerlicher Mist. Aber dem tobenden Einzelnen, dem Handwerker sind Grenzen gesetzt aus Holz, geometrisch gemaßregelte, was aber der ganzen Ideologie, die das Gemälde mit sich herumschleppt, noch keinen Einhalt bot, als es als Bestätigungsfeld wiederentdeckt wurde. Was Immendorff malte war jedoch von jeher nichts, was hätte gemalt werden müssen, was vom Sujet her den Pinsel und das ganze materielle Rüstzeug der Malerei verlangt. Das Gemalte war ein Bonus, ein Luxus, ein Streicherarrangement.
Gleichzeitig verhalf das Gemalte dem Bild durch Nachdruck zum Thesencharakter und entbanalisierte die, in Immendorffs maoistischer Phase gemalten, linken Spruchweisheiten durch einen schwer zu beschreibenden Verfremdungseffekt, der die Wahrheit von, sagen wir, Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ nicht denunzierte, aber auch von ihrem durch zähen, tausendfachen Gebrauch bei frommer, linker Erziehung erworbenen Fadheit befreite. Der Brecht-Satz: „Cäsar eroberte Gallien. Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei“, gedacht als Vermittlung eines materialistischen Gesichtsbildes, erscheint in Immendorffs Illustration als sarkastische Zurschaustellung der von Brecht befehdeten bürgerlichen Geschichtsschreibung, als trockener Witz über den Satz „Cäsar eroberte Gallien“.
Daß es aussieht wie Gemälde und doch die Fortsetzung eines Satzes mit anderen Mitteln ist, ist ein Trick, den Immendorff in der Linken erworben haben muß, beim Studium von Propaganda-Ästhetik. Bei ihm wird aus dem zurecht als platt empfundenen Diktat des sozialistischen Realismus, einer Kunst im Dienste der Massen, eine zusätzliche, heute nützliche Dimension abgerungen: wenn man nämlich die bildende Kunst reduzieren will auf einen Telegraphen, der die richtigen Botschaften übermittelt und dann dennoch malt, stellt man mit allem, was zusätzlich, einfach aufgrund der technisch-menschlichen Notwendigkeiten der Malerei entsteht, jenseits der telegraphischen Übermittlung, einen reinen starken Effekt, einen reinen gebündelten Nachdruck zur Schau.
Dieser reine Nachdruck – wir haben ihn schon einmal Streicherarrangement genannt – ist, wenn dieses Wort denn irgendeinen Sinn haben soll, Punk. Wenn man begreift, daß Punk etwas Kozeptionelles, nicht etwas Soziales ist. Punk ist in einer diffusen Weise linkssektiererisch, nietzscheanisch und vor allem anti-sozialdemokratisch in einem. Ist die Fortsetzung der politisierten Kunst in anderen Zeiten, mit anderen Mitteln. Immendorff wählte das „Cafe Greco“, eine Arbeit des eurokommunistischen Perfektionisten Guttuso, um an ihm, mit dem „Cafe Deutschland“, seine Position als Gegenposition zu verdeutlichen. Das Gute an Immendorf ist, daß er Recht behalten will. Dabei entsteht jene Qualität, die wir als Humor bei ihm kennen, sozusagen als Nebenprodukt. Daß die einzige Chance, in die Welt einzugreifen, im Willen zum Rechthaben begründet liegt, ist eine Weisheit, die in unseren liberalen Zeiten mit aller Macht zu desavouieren versucht wurde. Alle hatten recht. Amerikanische Raketen sind eine Bedrohung und keine Bedrohung. Schön ist, was gefällt. Maler malen aus dem Bauch, weil der Kopf alles immer so verbissen sieht. Doch Immendorff verschwand in ein künstlerisches Exil, in dem seine Leidenschaften, Wahrheitsfindungen und Rechthaben, noch etwas galten, beziehungsweise unter Naturschutz standen, er wurde, wie man so sagt, orthodoxer Maoist.
In diesem Exil, das er während der Jahre der sozialdemokratischen Euphorie besiedelte, verfeinerte er seine Form der Thesenmalerei, die durch die Deutlichkeit, die Raffinesse beim Auswählen eines für welchen Satz, welche Losung auch immer, beweiskräftigen Motivs, durch den lärmenden, krachenden, „dilettantischen“ Pinselschwung diesen Heavy-Punk-Humor abwarf, dem nur wenige gewachsen waren. Als er dieses Exil verließ war klar, daß seine Fähigkeiten, seine Größe vor allem darin bestand NICHTGUTTUSO zu sein. Er rettete die Lektion der Propaganda in die aktuelle Kulturkriegsführung. Er war in dem Sinne Punk, in dem Punk bedeutet: Lärmen mit einem strategischen Bewußtsein davon, was man tut. Und in dem Sinne, daß Punk der Gegenentwurf war zu Bohemia, zu Camp, zu Akademie und zu Videoperformance.
Es ist wichtig Immendorff zu sehen. Ich verstehe Immendorff, weil ich ihn als Pop-Star kennengelernt habe: als verbissen Gestylten, übersät von Zeichen, Emblemen und Verweisen auf seiner Ledermontur. Pop-Art wurde sehr bald Art und hörte, von Ausnahmen wie Warhol abgesehen, auf Pop zu sein. Immendorff, anders als die Pop-Art, die im Verlauf ihrer Geschichte Pop in die Kunst integrierte, um Pop alles zu nehmen, was an Pop schnell, direkt, wahr und gefährlich ist, nahm die endlich wieder als Kunst erkennbare Malerei, die Kunst (Art), um sie zu behandeln, wie der Pop-Musiker, der gute Pop-Musiker, die Musik: roh, kämpferisch, brüllend-lustig, verspielt, eklektizistisch, diskursiv, antimetaphysisch, semiotisch und instrumentell.
Und in einem anderen Sinne: Alles war den Bach runtergegangen. Alle Systeme, politische, philosophische, künstlerische, hatten versagt. Da kam von irgendwoher wieder ein Maler, besetzte die leeren, zerstörten Plätze vor der Leinwand, den ganzen Dreck und die Dilemmata des Disasters in seiner Malerei hinterlassend, und malte so, als wäre die Revolution nicht gescheitert, sondern siegreich gewesen. Als könnte man von Neuem anfangen, Bilder zu machen, ohne sich noch um das ganze kulturelle Elend zu kümmern, das mit dieser Tätigkeit verbunden ist. Und das heißt in diesem Falle sich erst recht um das Elend zu kümmern, aber von einer Position der Stärke aus.