Der Spanier Miguel de Unamuno gehört zu jenen europäischen Schreiberdenkern, die außerhalb ihres Landes völlig unbekannt sind
In einer alten Nummer von Mad wurde das Problem so dargestellt: Pubertierender Junge in seinem Kinderzimmer, noch Wimpel, aber schon Poster an der Wand, stellt sich die Frage: Woher eigentlich weiß ich, daß ich ich bin? Im nächsten Bild: woher, daß ich existiere, möglicherweise bin ich nur eine Einbildung? Wer oder was bin ich wirklich? Im dritten Bild sehen wir die Mutter, in der Küche, selbstvergessen abtrocknend: Joey, bist du in deinem Zimmer? Pause. Joey: Ich weiß nicht, Mama?
Seit Calderóns Nationaldrama Das Leben ein Traum weiß man von der besonderen spanischen Affinität für ontologische Zweifel. Daß das barocke Thema vom Leben als Bühne (von dem es zum Individuum als Protagonisten eines göttlichen Traumes/Romans kein weiter Weg ist) sich in der spanischen Kultur nicht nur über dreihundert Jahre halten konnte, sondern der literarischen Avantgarde des 20. Jahrhundert als Vehikel für die spezifisch spanische Definition des Modernen Romans diente, ist nichts Besonderes in einem Land, dessen zweite Moderne, die „Generación del 27“, u. a. und zurecht verkünden konnte, Spanien brauche keinen Surrealismus, die Metaphorik des Volkslieds, das spanische Alltagsbewußtsein sei von jeher surrealistisch gewesen.
Die „Generación del 98“, benannt nach dem Datum der Niederlage Spaniens im Krieg gegen die USA und damit dem Verlust der letzten Kolonie, der Unamuno angehörte, die als literarische Bewegung sowieso diffus, widersprüchlich und bis zur Unübersichtlichkeit heterogen war, aber auch in den einzelnen Künstlerbiographien noch sehr viel mehr Nationalidiosynkrasien zu bieten hatte, unter anderem auch, weil ihr Verhältnis zu besagten Themen-Traditionen nicht eindeutig affirmativ war, wurde im Gegensatz zu ihren berühmten Nachfolgern wie García Lorca, Guillén, Alberti (noch am Leben und politisch aktiv) oder Vicente Aleixandre (Nobelpreisträger 1976) außerhalb Spaniens nie besonders genau oder liebevoll zur Kenntnis genommen geschweige denn gelesen, obwohl ihr mit Azorín, Pio Baroja, Valle-Inclán, im weiteren Sinne auch Ortega y Gasset und eben Unamuno einige der merkwürdigsten und besten europäischen Schreiberdenker des Jahrhunderts angehörten.
In Deutschland kann man seit drei Jahren die Werke des von mir über die Maßen geschätzten Valle-Inclán in Ausgaben des Klett-Cotta-Verlages lesen, wofür diesem Verlag zwar zu danken ist, aber nur, wenn man ihn vorher für das FAZ Magazin-Layout (neckische Initialen, nostalgische Schriftsetzer-Mätzchen, Karikaturen der handelnden Personen als possierliche Schattenrisse) verflucht hat; letztes Jahr wurde der P.S.-Verlag Peter Selinka initiativ, als er Unamunos Abel Sanchez veröffentlichte, jetzt folgt Nebel (Niebla), das bekannteste von Unamunos Büchern, der moderne Roman Spaniens, der Jahre vor Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor einen Autor ins Gespräch mit seinem Helden verwickelt, in dessen Verlauf der vom Autor zum Tode verurteilte Protagonist diesem androht, daß auch sein Gott aufhören werde, ihn zu träumen.
Und so kam es auch. Unamuno und Valle-Inclán, schon durch ihre Nachnamen in jedem ordentlichen Bücherschrank Nachbarn, starben ihre mehr oder weniger natürlichen Tode im Jahre 1936, bevor sie den Rückfall in neue finstere Jahrzehnte erleben konnten, hatte ihr Gott ausgeträumt. Bei Professor Unamuno, seit Sommer 36 in Salamanca unter Hausarrest, sogar exakt am 31.12.1936. Dreißig Jahre vorher hatte er eine neue Gattung erfunden, die nivola, was eine Verballhornung von novela, das spanische Wort für Roman, sein soll, das in der vorliegenden Übersetzung zuweilen korrekt als Roman, dann aber auch wieder unnötigerweise als Novelle wiedergegeben wird; eine groteske neue Gattung, eine angemessene Abart des Romans, angesichts der allgemeinen Bewußtseins- und nationalen Identitätskrise, wie Valle-Incláns „Esperpentos“, eine neue dramatische Farcengattung, die dieser im avantgardistischen Überschwang begründet haben wollte, eine Abart spanischer Bühnentraditionen.
Dies ist z. B. eine sehr anregende Besonderheit der 98er: Ihr unbekümmertes Erfinden, das sich im Gegensatz zu ihren mitteleuropäischen Avantgarde-Kollegen nicht gegen einen herrschenden literarischen Geschmack, gegen ein vorhandenes kulturelles Establishment wenden mußte und wollte, also auch nicht das Stigma des Niveaus der Gegner aushalten mußte, sich vor allem über einen Kampf und eine Gegnerschaft definierend (und nur allzu oft sich darin erschöpfend). Die 98er empfanden sich als Begründer eines neuen Skeptizismus, der weniger mit irgendetwas sympathisierte als so viel wie möglich anzweifelte, damit der Haltung, die man in den 60er Jahren Non-Konformismus nannte, nahekommend, die vorsichtshalber, aber mit Grund sich über seine so fundamentale Gegnerschaft (auch gegen alle organisierten und professionellen Gegnerschaften) definiert („Gegen dies und jenes“ heißt z. B. bezeichnenderweise ein berühmter Essay von Unamuno), daß ihre Vertreter allein dastehen müssen. Was dann auch bei Unamuno wie bei Valle-Inclán zu einer Ethik des Starrsinns führt, die sich dann wieder auf die anderen großen Traditionen des Landes wie den Stolz und den quijotistischen Irrsinn stützen durften. Doch war ihnen ihr Skeptizismus gegen neue wie alte Zeiten, gegen Europäisierung wie gegen den Status Quo kein bürgerlicher Luxus: Valle-Inclán kämpfte für seinen Glauben an eine Idee von Aristokratie (und verlor im Duell einen Arm) wie für seinen Sozialismus (die drei größten Menschen seien Jesus, Mohammed und Lenin), und Unamuno ließ sich während der Diktatur Primo de Rivera nach Frankreich verbannen und später von den Franco-Truppen unter Hausarrest stellen.
Nicht wenige haben, dennoch zu Recht, darauf hingewiesen, daß dem Zweifel an der Existenz des Individuums, des Subjekts und seiner Reichweite/Rechte die Zweifel an der Existenz Spaniens vorausgingen. Der Nebel, so Unamuno später, sei der Nebel über Spanien, ja Europa, dem Universum gewesen, der sich zwar gelichtet hat, aber was er freigab, war nicht erfreulicher.
Durch den vielzitierten Nebel kann der Leser undeutlich das Gerüst der Handlung ausmachen: Augusto verliebt sich in Eugenia, entdeckt die Liebe schlechthin, verliebt sich in jedes weibliche Geschöpf, entdeckt, zum Leben schlechthin erwacht zu sein, das ja auf Seite eins des Romans begonnen hatte, und fährt nach einigen Rückschlägen in der Liebe mit Selbstmordabsichten zum Autor Unamuno nach Salamanca, um diesen zu seinen, in früheren Büchern publizierten Thesen zu Liebe und ontologischem Zweifel zu befragen. Dort erfährt er jedoch, daß seine Tage gezählt seien, denn jetzt, wo er sich in diese Verzweiflung manövriert hätte und mit Selbstmord die Zuständigkeit des Autors für sein Schicksal in Frage stelle, ist er für diesen logischerweise nicht mehr tragbar. Der Erfinder einer Figur kann diese nicht mehr gebrauchen, wenn sie droht, sich selbständig umzubringen. Daß das Subjekt des Textes in diesem eines Tages nicht mehr das Sagen haben könnte, ist die Angst des Autors Unamuno, der doch gleichwohl größte Sympathie zu seinem Augusto entwickelt, der durch die Liebe zum Leben erwacht, darin das Sagen haben will.
Über dieses Problem, das in der Frage gipfelt, wer eigentlich wen träume, a) im Traum, b) im Roman und c) in der Wirklichkeit (das Subjekt den Traum oder der Traum das Subjekt) legt Unamuno eine Fülle von amüsanten Kurzparadoxa, Lehrfabelchen, ja Denksportaufgaben, wie es die spanischsprachige Literatur von Gracián bis Borges in einem in unserem Sprachraum unbekannten Maße liebt, die in unterschiedlicher Distanz um die Nöte des Subjekts/Autors kreisen, das einem endlosen Welt-am-Draht-Modell entsprechend, nun mal nach unten nicht die Kontrolle verlieren will, aber andrerseits über sich keinen Kontrolleur wissen; denn so ist es gebaut, unser europäisches Subjekt.
In diesem Fall müssen wir aber auch an die politischen Nöte von Unamuno denken, der ja nicht von ungefähr Autonomien und Autonomismen durchtestet, während sein Land sich nicht zwischen Afrika, Europa und Mittelalter entscheiden kann. Der spanische Anarchismus war ja eine merkwürdige Verschmelzung aus gewerkschaftlich organisiertem Anarcho-Syndikalismus, der auf seinem Höhepunkt die große Mehrheit der spanischen Arbeiterklasse und fast 50 % der Bevölkerung hinter sich hatte, und einem sozusagen proletarisierten Individual-Anarchismus, demzufolge jeder ein Philosoph ist.
So auch Eugenias Pflege-Vater, der sich mystischer Anarchist nennt, was ihn, Sinnbild der berühmten Madrider Schwätzer-Szene der Zeit, vom Handeln entbindet, und der mithilfe des Esperanto die Welt befreien will. Er lehrt seinem Mündel den Feminismus, allerdings nur um darauf hinzuweisen, daß dies keine Erklärung für die Schwierigkeiten sei, die Augusto mit Eugenia habe (wie ja auch Esperanto kaum taugt, die Welt zu retten). So wie er sie philosophisch schließlich verwirft, verwirft Unamuno auch politische Autonomie als weltfremden Kinderglauben.
Augustos Scheitern wird aber auch mit einem stilbrechenden Anflug von Psychologie, in diesem sonst ganz der Philosophie verpflichteten Werk, auf sein mangelhaftes Lesen der weiblichen Verhaltensmuster der drei Frauen (die allerdings eher das philosophische Problem der Liebe als philosophische, denn als psychologische Figuren darstellen) in seinem Leben geschoben, strindbergmäßig Welterkenntnis gegen Frauenerkenntnis aufrechnend bzw. das alte Problem, daß ein Mann (jedenfalls damals) niemals wissen kann, ob seine Kinder wirklich von ihm sind (bzw. warum sie das und das sagt, aber das und das tut etc. – Nebel hat da einige amüsante Beispiele) als Begründung für einen fundamentalen Skeptizismus nutzend, der zum Selbstmord als zur Wahrung der Autonomie durch Vernichtung führen muß, logischerweise, nur wenn ich mich umbringe, weiß ich, daß ich es war, weder die Frau, Gott, der Autor oder der CIA, was Gott/Unamuno/Eugenia/KGB natürlich nicht gebrauchen können; man spielt nur gern mit Spielmaterial, daß sich seines Status nicht bewußt ist und vom Objekt zum Gegner wird bzw. zum Spielverderber, was wiederum ein in beide Richtungen endloser paranoider Zusammenhang ist, dem man nur entgeht, wenn man an irgendeiner Stelle den Verständigungs- bzw. Erkenntnisdrang abbricht, weshalb der Gewinner der Geschichte Victor Goti heißt, ein Freund Augustos, der die Frauen versteht, weil er sie nicht wörtlich nimmt, daher auch nicht an seiner Existenz zu zweifeln braucht, was ihn von der Idee befreit, sie vernichten zu müssen (um sie sich zu beweisen), weswegen ihn Unamuno über die Strecke des Romans hinaus leben läßt: Er darf am Ende ein Vorwort für den Roman schreiben.
Goti ist es auch, der im Roman die Form des Romans begründet, die Form der nivola. Er arbeitet nämlich an einer eigenen nivola, die wie die vorliegende zum größten Teil aus Dialogen besteht. Gotis Frau hasse in Büchern alles andere als Dialoge. Avantgardisten wird gerne vorgeworfen, sie seien nur welche geworden, weil sie die Konvention nicht beherrschten, dies ist sicher auch bei Unamuno nicht ganz falsch, wenn auch nicht nur ein dumm gedachter Vorwurf, sondern einer der großen Vorzüge dieses Textes. Nur einer, der kein Talent zu und kein Gefallen an den Elendsmotiven des 19ten Jahrhunderts, Landschaft und Porträt, hat, kann so früh, 1914, einen so unterhaltsamen Ideenroman schreiben, wie ihn dann Musil und andere sicher vollständiger und reicher wiederaufgenommen haben, der aber auch Richtungen und Möglichkeiten aufmacht, die weder in der spanischen noch anderen mir bekannten Literaturen weitergeführt worden sind.
Miguel de Unamuno: Nebel. Roman, P.S. Verlag Peter Selinka, 1988, ca. DM 36,–


