Zum dritten und bislang größten Festival neuer Musik in Deutschland hatten sich Musiker und Publikum aus allen Teilen der BRD sowie aus England, der Schweiz und Österreich eingefunden – die Markthalle war eine Stunde nach Eröffnung ausverkauft, hunderte warteten im Vorraum, andre fälschten Stempel oder schlichen sich durch Seiteneingänge – der Erfindungskraft waren keine Grenzen gesetzt. Das Interesse des Publikums war eben so vital, wie bei keinem der ihren Set aufführenden Gruppen, die sonst in der Markthalle spielen.
Vom äußeren Erscheinungsbild her teilte sich das Publikum in drei Gruppen: Hardcore-Punks mit Pistols- und Clash-Badges, London 77; Avantgardisten in Fantasie- oder Roboterkleidung, grell oder dezent, Tabea Blumenschein, Kraftwerk oder Bowie; schließlich alle möglichen, die einfach interessiert waren, die wissen wollten, was passiert. Von dieser Gruppe hatte es in den beiden vorhergegangenen Punk-Nächten wesentlich weniger gegeben.
Bei der Auswahl der Bands war auf zweierlei geachtet worden – erstens, daß die Bands möglichst wenig öffentlich gespielt haben und vor allem noch an keiner anderen Punk-Nacht teilgenommen haben und zweitens, daß eine gewissen Ausgewogenheit zwischen Pogo-Punks und Avantgardisten besteht, denn schließlich war es ein Benefiz-Konzert für einen neuen Club in Hamburg in dem die beiden Sektionen der neuen Welle ihren Platz finden sollten.
Eigentlich waren sich nur bei Rotzkotz, die als letzte, nach Mitternacht, Rock’n’Roll (back to the roots) spielten, alle einig, alles was davor geschah, ließe sich, wollte man es sich einfach machen, auf den Satz reduzieren, den einige (waren es Punks?), während des Auftrittes von Liebesgier skandierten: „Wir sind intolerant!“
Fraktionskämpfe und -schlachten bestimmten den Abend. Die Punks, in der Überzahl und selbstbewußter, hatten relativ ungestört ihren Spaß bei den Hamburger Bands Abwärts, Razors und Coroners. Mir haben davon Abwärts am besten gefallen, Alfred die Razors, meinem Nachbarn die Coroners, aufgeregt haben sie niemanden.
Tempo mit ihrer Beat-Musik, manchen etwas suspekt, wurden von, angeblich extra zu diesem Zweck angereisten Berlinern von der Bühne gepfiffen.
Bei Liebesgier, einer vier Frauen/ein Mann-Band aus Berlin, die mit von New York beeinflußter, aber sehr eigenständiger Minimal-Radikal- Musik (deutsche Texte), nicht nur mich zu begeistern wußten, standen sich die „Aufhören!“-Rufer und die „Zugabe“-Rufer, ungefähr gleichstark gegenüber.
Minus Delta T, die beste Band des Abends und für mich der beste Live-Auftritt seit Monaten wurden schließlich gewalttätig von der Bühne geholt. Ihre Musik voller kleiner, hektischer Bewegungen, mit Cello, Synthi, Bohrmaschine, Staubsaugerschlauch etc. hatte dabei sogar im nicht-Avantgarde-Lager Freunde gefunden, es fanden sich Leute, die dazu Pogo tanzen konnten. Außerdem hatten sie das nötige Selbstbewußtsein, das Liebesgier fehlte, sich den Attacken des Publikums zu widersetzen. Schließlich kam es zu einer kurzen Schlägerei auf der Bühne, zu Aggressionen im Publikum, die erst Rotzkotz wieder entspannen konnten.
Man macht es sich zu einfach, wenn man hier Punks und Avantgardisten, Kunstschule und Straße, Toleranz und Intoleranz, gegenüberstellt. Die Liebesgier-Musikerin, die nach ihrem Auftritt auf üble Weise von Berliner-Punk-Frauen verprügelt wurde, die Langhaarigen, die immer, wenn sie die Gelegenheit fanden, die gerade spielende Band von der Bühne zu schreien versuchten – das alles weist auf komplizierte Fraktionsbildungen hin. Lokale Auseinandersetzungen, Kollegenneid, was auch immer – die Atmosphäre war giftig, das Festival nur unter dem Aspekt zu ertragen, daß es eben zur Zeit keine andere Möglichkeit gibt, neue Musik an die Öffentlichkeit zu bringen und, daß der Zweck des Festivals war, sich selbst überflüssig zu machen. Ob allerdings die kontinuierliche Arbeit eines Clubs, die Rivalitäten zu entspannen hilft, bleibt die Frage. Wir werden uns damit in der nächsten Ausgabe auseinandersetzen.
„Geräusche für die 80er“ war trotzdem das beste Festival, das wir uns zur Zeit wünschen können, weil Widersprüche manifest und z.T. ausgetragen wurden, weil es gute neue Musik live zu hören gab, allein eine halbe Stunde Minus Delta T wären das Eintrittsgeld wert gewesen. P.S.: Versäumt habe ich die Salinos. Augenzeugen differieren zwischen „Offenbarung“ und „Katastrophe“.
