Ghetto-Realismus und unwichtige Konzerte

Es gab wirklich verdammt wenig zu erleben, wenn man sich in dieser Stadt für Musik interessiert. Ich rede vom vergangenen Monat. Das „Schöne Aussichten“ zeigt jetzt Videos, und wenn man Glück hat, kann man „The Message“ von Grandmaster Flash sehen, ein New York-Video zwischen modischem Ghetto-Realismus und schwarzer Selbstironie. Oder ein Video von Haircut 100 in TV-Show-Afrika mit Lianen, Lendenschurzen, einem lustig grimassierenden Medizinmann und Background-Sängerinnen im Kochtopf. Dazu muß man sich dann leider Satzfetzen anhören, die darauf schließen lassen, daß die anwesenden Jungmänner nichts anderes interressiert als so ein entsetzlich niedriges, blödes Anliegen wie die Anschaffung von Winterreifen. Viel besser: ein Mädchen im gleichen Alter, das ein Plakat für eine „Teen-Party“ betrachtet, in das unter anderem ein Bild von Culture Club eingearbeitet ist, und ausruft: „So eine Frechheit, Culture Club für diese Teen-Party zu mißbrauchen!“

Sonst war noch los, daß ich freitags im neueröffneten „Alles Wird Gut“, das jetzt „Kein Schöner Land“ heißt, ab halb zwei Platten auflege. Ansonsten fanden diverse Konzerte statt, die nicht so wichtig waren.

Es gab Depeche Mode, denen man sein kann: sie haben jede Menge gute Singles gemacht, und die haben sie live gespielt. Hit auf Hit und 60 % kam vom Band, was bei Depeche Mode aber scheißegal ist. Ihr Sänger David Gahan sieht gut aus, kann aber nicht so gut singen wie Martin Gore, der alle Songs schreibt und nicht so gut aussieht. Dessen helle Stimme konnte man bei Background-Vocals hören, und es klang wie der Verzweiflungsschrei eines einsamen Klosterschülers hinter ganz dicken Mauern. Das Publikum war so wunderbar wie schon lange nicht mehr in Hamburg: ekstatische Teenager, die den vier Bürschchen auf der Bühne von Begin an zuflogen. Demjenigen, der sich für scharfsinnig hielt, als er mir hinterher sagte, er halte so ein Band-Publikum-Verhältnis für faschistoid, rufe ich zu, er möge sich seinen Faschismusverdacht in den Arsch stecken oder ihn bei einem Rolling-Stones-Konzert suchen gehen. Wenn er dann noch erläuternd hinzufügt, Personen seien nicht so wichtig, daß man sie zu Stars überhöhen kann, sage ich, nicht die Personen sind wichtig, nicht die Personen der Stars, nicht die Stars als Personen, wohl aber die Stars als Stars. In dieser Hinsicht waren Depeche Mode sehr modern. Sie verzichten gleich darauf Personen zu sein und sind nur Stars, Instant-Stars.

Es gab Jah Wobble, dem man schon eher böse sein kann. Öde Weather-Report-Hilfs-Miles-Davis-Jazz-Rock-Sülze mit einem Joe-Zawinul-artigen Elektro-Piano-Quälgeist und immerhin einer hübschen Posaunistin. Es gab Madness, die taten, was zu tun war, Hits spielen. Leider in der „Fabrik“, wo nur 2 Prozent der Zuschauer etwas sehen können und wo es überall so plump und stumpf und dumpf aussieht, daß der elektrisierende, befreiende Spaß, der von Madness und ihrer britischen Smartness ausgeht, keine Chance hatte und sich mit dem Nebel der Bierschwaden zu einer Atmosphäresülze verdichtete, die nichts mit dem zu tun hat, was Madness eigentlich ist. Vorher standen alle eine halbe Stunde im Regen, weil jeder einzelne Besucher am Eingang nach Waffen abgesucht wurde.

Es gab fünf Tage Rockpalast mit Rockgruppen der Sorte altaltalt. Und einen kleinen Mitternachtsauftritt der reizenden Mathilde Santing, die schöne Lieder zu ihrem kleinen Melodiemaschinchen sang. Leider auf dieser komischen Galerie der Markthalle, wo keine Intimität herrscht, wo alte Rockmänner, die vom Peter-Green-Konzert kamen, die Atmosphäre verdarben, wo ich nicht zuhören konnte, weil ich Halsschmerzen bekam.

Es gab, endlich mal wieder, ein Zickzack-Konzert. Auch Zickzack richtet sich in letzter Zeit mehr an Pop aus. Das letzte Singles-Paket enthielt mit der FSK-Maxi eine sehr schöne, intelligente Produktion und auch die Zimmermänner-LP ist endlich mal eine gelungene deutsche Antwort auf das, was England im letzten Sommer bewegte. In der Markthalle präsentierte man uns Fort der mutigen Frauen (kenne ich nicht und habe ich verpast, kenne nur Fort Fliegentrutz), Fähnlein Fieselschweif und Große Freiheit. Fähnlein Fieselschweif habe ich schon vor Jahren erzählt, daß ihr Name bescheuert ist. Sie wollten nicht hören. Sie machen jetzt eine etwas raffiniertere, sehr rhythmische, hamburgische Schräg-Funk-Musik, bei der der Gitarrist wie Fehlmann vom Vorbild Schaumburg zur Trompete greift. Der Sänger singt „Ich bin eine Ameise“, was ziemlich albern klingt. Ich will damit nicht sagen, daß es relevanter wäre, wenn er singen würde „Ich bin ein Arbeitsloser“. Ich habe nur die Schnauze voll von Jugendlichen, die glauben, Unsinn sei Dadaismus (schlimmer sind allerdings, besonders in dieser Stadt, Erwachsene, die glauben, nicht schreiben können sei Surrealismus). Große Freiheit habe ich mir nicht mehr angesehen, weil ich sie schon dreieinhalbtausendmal gesehen habe. Ihr Sänger macht einen auf Gustaf Gründgens, obwohl er vielleicht erstmal mit Curd Jürgens anfangen sollte. Die Melodien sind immer ganz hübsch. Die Texte sollen was von Kaffeehaus und Hans Albers haben, klingen aber eher wie Ultravox-goes-Deutschnationale-Volkspartei. Ihr Lied „Piroschka“, ein rechter Ohrwurm, soll jetzt ein Hit werden. Dagegen ist eigentlich nicht viel einzuwenden. Ich finde aber „Nur Geträumt“ von Nena, trotz des versplifften, versyphten Arrangements, besser.