Drei junge Holländer hatten die Idee des Jahrhunderts. Einfach das trennen, was Gott und andere Elvis Presleys zusammengefügt haben. Diedrich Diederichsen hielt die Schere.
Die besten Ideen sind doch immer die einfachsten. Warum müssen sich Gedichte reimen, warum müssen alle Lieder gleich lang sein, warum Buchstaben sich aufreihen wie ein Bataillon Wehrpflichtiger, warum kann man ein Tor nicht auch mit dem Kopf erzielen, oder: was haben eigentlich Musik und Text miteinander zu tun? Gore sagen: nichts. Und wenn, muß der Zusammenhang aufs neue erfunden werden.
Marij Hel: „Ich höre zum Beispiel eine Punk-Band, und die singen was von ‚nuclear bombs‘, und dazu macht das Schlagzeug Bumm-bumm-bumm. Ich frage dich: was haben Atombomben mit Bumm-Bumm-Bumm zu tun? Nichts. Ich kann nicht einsehen, wie man so etwas singen kann. Ich kann das Verhältnis von Text und Musik nicht so natürlich hinnehmen, wie es im allgemeinen hingenommen wird. Es gibt nur ganz wenige Ausnahmen. Wagner zum Beispiel, da leuchtet mir das ein.“
Gore sind drei junge Holländer aus Venlo. Sie haben in kurzer Zeit zwei LPs gemacht, die sich der musikalischen Sprache der diversen Metal/Hardcore-Spielarten bedienen, aber sie singen nicht dazu. Dafür liegt jeder LP ein Textblatt bei, in englischer und niederländischer Sprache, das man zur LP lesen kann und das zu lesen ebenso lange dauern soll wie die Musik auf der LP. Beide LPs haben ähnliche, klar gestaltete Hüllen, auf der Vorderseite je einmal ein von einem langen Messer durchbohrtes Schweineherz und ein einfaches Fleischmesser auf einem zerkratzten Küchentisch, keine Schrift. Auf der Rückseite jeweils der Bandname und die LP-Titel (Hart Gore, Mean Man’s Dream). Innen liegt dann das gefaltete Blatt mit den Texten zu den jeweiligen Songs. Bassist Marij Hel, ein großer Langhaariger mit einer Stimme so laut, daß man ihn in Straßencafés auf belebten Plätzen bittet, leiser zu sprechen, die Bauarbeiter könnten sonst ihre Preßlufthämmer nicht mehr verstehen, schreibt diese Texte und gestaltet die Cover, Gitarrist Pieter De Sury, ein kleiner Langhaariger, denkt sich die Musik aus, und Danny De Lome mit kurzen Haaren spielt Schlagzeug.
„Alle Elemente sind uns gleich wichtig. Die Texte sind so wichtig wie die Musik, und die Cover sind auch sehr wichtig, nur wollen wir das getrennt halten. Wir würden auch sofort Videos machen, aber die hätten dann wieder nichts mit den anderen Sachen zu tun, außer daß natürlich alles zu uns passen muß, zu dem Namen, zu Gore. Es muß wie Gore sein.“ Und er übersetzt dieses Wort, das laut „Pons“ „Blut, Zwickel und (mit den Hörnern) durchbohren, aufspießen“ heißt, mit einigen Panther-verschlingt-fünf-Feldmäuse-auf-einmal-Lauten. Mir kommt das sehr entgegen.
Mir kommt das nämlich sehr entgegen, weil die strenge, formalistisch-pedantische Zerschneidung von Formen mir von je der liebste Kraftakt auf dem Weg zur setzenden Erfindung war. Sei es der beste aller LP-Anfänge, „Non-Alignment Pact“ von Pere Ubu, rechter Kanal hoher Pfeifton, linker Kanal Chuck-Berry-Riff, sei es The Jesus And Mary Chain, linker Kanal Simon & Garfunkel, rechter Kanal Noise, sei es Schoolly D, wo völlig unverbunden eine Jimmy-Smith-Orgel neben einem Hardcore-Maschinen-Rhythmus und einem amusischen Genörgel als Rap dahertapert, sei es Jimi Hendrix’ geistesgestörtes von Kanal zu Kanal rastlos Hinundherwandern auf Electric Ladyland (als gerade ein paar archaische Studiotricks Premiere hatten), sei es Jaki Liebezeits unbestechliches Klopfen gegen oder mit umgebenden musikalischen Ereignissen auf frühen Can-Platten, sei es die pedantische Solisten-Reihenfolge bei Slayer und anderen Speedmetal-Bands: Stumpfe, einfache, unanfechtbare und in sich logisch richtige Tricks, die dem Blödsinn von organischer Entwicklung widersprechen, sind nicht nur eine intellektuelle Wohltat, sie schaffen immer wieder die Grundlagen für musikalische Umbrüche.
„In unserer Musik muß alles funktionell sein. Ich kann es nicht leiden, wenn ich Dinge sehe, die offensichtlich keine Funktion haben, das habe ich schon mit 15 Jahren nicht leiden können. Weg mit Dekorationen“, spricht Marij Hel. Nur daß die meisten alten und immer so schnell impotenten Funktionalismen sich immer nur mit dünnem feinem Strich aufgetragen wissen wollten … oder auf Disketten gespeichert. Ihr Name war Heaven 17, Max Bill, New Age oder Brian Eno. Zum Kotzen, weil die im Grunde genommen richtigen Gedanken des Funktionalismus auf die falschen Absichten angewandt wurden. Musik zur Stille braucht eben nur, wer Stille braucht: abgespannte Lehrer und Stadtflüchtlinge. Niemand, mit dem man was zu tun haben wollen würde.
Gore-Musik ist eher so, als hätte man ein gutes Dub-Album genommen, in Noten festgehalten und dann von einer kompetenten Hardcore-Band nachspielen lassen. Hier geht es nicht um das lädierte Nervenkostüm eines falschen Bewußtseins, sondern um gute, runde Ärsche. Dicke Striche. Funktionalismus, der sich dialektisch seinen Bedingungen stellt: Wem dienen? Dem Volke! Ist das Volk ein Arsch, der kreist? Hat das Volk eine Fuzzbox? Auf jeden Fall, das Happy-End vorweg: Der Arsch kommt mal wieder frei. Und was daraus folgt, laß ich mal offen (vgl. Age Of Chance).
Es ist jedenfalls nicht damit getan, daß man unbeteiligt das geile Konzept bewundert. Ich bewundere die Musik. Innerhalb von zwei Tagen habe ich Gore zweimal gesehen, einmal gut, zum intensivsten Hinhören nötigend, vor 25 Leuten am Kreislauf-Kollaps-Tag in Köln im Rose Club (Was waren wir tot! Die meisten hatten sich zum Sterben nach Bochum zu Suicidal Tendencies verzogen.), einmal zerfasert vor 200 Leuten als Vorgruppe von Sonic Youth in Aix-la-Chapelle. Gore ist das ständige Unterstreichen, Nachdruck-Verleihen durch Hilfsmittel wie Fettdruck, Kursivierung, Ausrufezeichen – nur die Worte fehlen, die zu unterstreichen wären. Beziehungsweise: das steht auf einem anderen Blatt.
Pieter De Sury: „Auf der ersten Platte war nur eine einzige Empfindung. Das war immer die gleiche Sache. Auf der zweiten Platte sind das kleine Szenen. Und mit denen ist schon etwas sehr Genaues gemeint. Nur was – das sollen die Leute selber herausfinden, das soll ihnen nicht ein Sänger erklären. Ich kenne zwei Leute, die zu der Musik etwas Präzises erzählen können, das genau stimmt. Der eine ist er (zeigt auf den Bassisten Marij), die andere ein Mädchen. Nur in Zukunft … “
Marij: „Wir wollten doch nicht von der Zukunft reden …“
Pieter: „Ja, aber das muß ich jetzt sagen. Wir haben da so ein sehr langes Stück, das wir auch live spielen und das es noch nicht auf Platte gibt, und das ist eine Story. Da kann man auch hören, daß da eine Geschichte erzählt wird …“
Gore hassen es, von der Zukunft zu reden, und sie hassen es, ihre Cover zu erklären, die wären doch nun wirklich ganz klar. Stimmt. Ein durchbohrtes Herz. To gore heißt durchbohren. Hart klingt wie Heart. Und der böse Mann träumt natürlich von Taten mit dem Küchenmesser. Am besten auf dem Küchentisch. Wir sprechen von frühen Black-Sabbath-Platten, den ausgiebigen Instrumentalpassagen, schleppenden Fuzzbeschwörungen, ohne solistischen Ehrgeiz und oft viele Minuten lang, bevor sich Ozzy dazwischenschaltet. Das ist ihr Ausgangspunkt.
Heute mögen sie Swans, Bad Brains und Neubauten. Ihre Musik kurvt den ganzen Abend schleppend, über mit der willkürlichen Bösartigkeit altgewordener Neurotiker servierte Breaks zu aufpeitschenden Wagga-Wagga-Speed-MC5/Blue-Cheer/Stooges-Riffs. „Die Leute fangen dann mit Pogo an, und dann plötzlich, wenn wir wieder langsam werden, stürzen sie ins Leere.“
So ist es. Für mich war es an diesem Abend auch eine neue Übung in Apodiktik. Apodiktik, das haben inzwischen fast zu viele gelernt, ist der angemessene Sound der richtigen Rede. Wenn man überhaupt etwas zu sagen hat. Wenn das, was man zu sagen haben wird, noch im Gären, im Werden ist, kann man sich präpotente Späße erlauben – wozu einiges gehört – oder man macht Trockenübungen, erstreitet Möglichkeiten für Apodiktik. Gore macht letzteres und geht noch darüber hinaus: mit Strenge die lockersten Dinge schütteln, die Wichtigkeit der Wichtigkeit unterstreichend. Sagen „So ist es aber!“. Und dem geneigten Zuhörer überlassen, was wie ist. Aber ohne Entscheidung läßt man ihn auch nicht weg.
