Haircut 100 – Spaß des Jahres? Kann es Schöneres geben an einem Maientag, als nach einem Ausflug ins Paulahölzchen sich im Tanzpalast „Trinity“ zu amüsieren? Und das zu den Klängen einer Band, die nichts anderes sein will als gut. Gut klingen, gut aussehen, gut unterhalten. Bis einem die Seele aufgeht.
Blair Cunningharn nimmt am äußeren Ende des Bühnenrunds hinter seinem Funk-Schlagzeug Platz, Mark (Ilford) Fox stellt sich hinter die Congas und das brasilianische Percussionsarsenal, ganz vorne. Ein deutsches „Wir sind Haircut 100“, von Mark freundlich und bestimmt dem Publikum erklärt, und es geht los. Dichte Rhythmen prasseln auf den Disco-Boden. Da läutet es zur großen Pause und zwanglos ergießt sich der Rest der Band auf die Bühne: Les Nemes am Baß, der stille Popper; Nick Heyward, Gitarrist, Sänger, Songwriter, zwar ständig grienend mit leicht melancholisch nach innen gekehrtem Minenspiel zwischen all der hellen, klaren Fröhlichkeit; Graham Jones, der Lausbub, eine Georg-Thoma/Wilhelm-Busch-Figur, wie Nick hält er seine Gitarre sehr hoch und liebkosend; Phil (Neville) Smith, der beschlagene Jazzer und John-Coltrane-Verehrer stellt sich neben die angeheuerte Bläser-Sektion (Trompete, Posaune), und nun sind alle komplett. Keine Chance, ungeschoren davonzukommen! Eine Welle von Charme flutet durch das verstockte Hamburg, tagklare Helligkeit illuminiert das Disco-Halbdunkel. Eine Wohltat für Geist, Ohren, Seele und so weiter.
Manche sehen das anders. Der NME-Karikaturist Ray Lowry läßt z.B. zwei seiner Figuren ein Heavy Metal-Konzert besuchen. In bekannter HM-Scorpions-Manier stemmen sich da die Gitarreros die Gitarrenschwänze zwischen die Beine und holen sich ihren stumpfen Macho-Orgasmus. „Nichts ist ekelhafter als eine Gitarre als Penisersatz“, seufzt einer der beiden. Im nächsten Bild sehen wir eine fröhliche kurzhaarige Truppe in hellen Haircut-Pullovern. Bläser halten ihre Hörner jubilierend in die Luft, und vorne an stehen drei Gitarristen, die ihre Gitarren ebenso hoch und waagerecht an die Brust drücken wie Haircut 100. „Aber Gitarren als Teddy-Bär-Ersatz sind fast ebenso brechreizerregend“, findet der andere.
Die Rockism-Debatte erhitzte die englischen Blätter fast ein halbes Jahr. Rockists wie Lowry forderten realistische, authentische Musik und verachteten den leichtfüßigen Pop von Depeche Mode, Haircut 100 oder Human League. Und Anti-Rockist-Ideologen wie der überdrehte Paul Morley oder der brillante Ian Penman entwarfen kühne Pop-Theorien, die das Zeitalter des Rock’n’Roll mit all seinen zahlreichen, auch von mir, auch in dieser Zeitschrift beschriebenen Mythen und Festschreibungen, beenden sollten. Neue Freiheiten wurden gefordert für das Arbeiten mit Stil, Bild, Image, und in SOUNDS-Kreisen findet bezeichnenderweise nach einem Haircut 100-Konzert die gleiche Debatte statt, Jörg Gülden und Reinhard Kunert sind von Haircut nicht besonders bewegt (Gülden) bis gelangweilt (Kunert). Große Namen fallen, die Ähnliches besser gemacht hätten, aber auch nordirische Showbands könnten angeblich dasselbe (Was Haircut 100 zu einem Lachanfall bewegt). Dabei geht es eben bei der heutigen Pop-Musik nicht mehr um die totale Bühnenbeherrschung, die individuelle Körper-Ekstase oder den Einer-für-Alle-Tod auf der Bühne. Auch nicht um das, was gerne als „Substanz“ für gestandene Rock-Helden beansprucht und meist auch deren hartes, rechtschaffen kaputtes Leben bestimmt wird. Es geht um eine subtile Art, mit Pop-Musik zu sprechen, um das völlig freie und befreiende Umgehen mit sonstwem und sonstwo gehörigem Material.
In Wahrheit gehört es niemandem. Seit Jahrzehnten zieht sich dieser unerträgliche Diskurs von Klauvorwürfen durch die Argumentationsreihen von Rock-Kritik, bzw. Kunst-Kritik allgemein. Besonders der beklaute Neger wird gern bemüht, weil sich da ja so schön eine Analogie zu ökonomischen/historischen Verhältnissen herstellen läßt. Aus dieser möglicherweise vor meiner Geburt berechtigten Argumentation ist ein großes paranoides System geworden, das nach den ursprünglichen Erfahrungen unverfälschter Originalität und nach Erfindern von Ästhetiken sucht, die es nicht gibt. Statt sich dem berückenden, entzückenden Amalgam zu öffnen, das die heutige Musikwelt darstellt.
Schwierigkeit Nummer Zwei für Haircut ist die Kritik/Politik/Realismus-Forderung. Wieder Lowry, der zeichnet, wie Haircut im TV eine verballhornte Version von „Favorite Shirts“ singen und das mit den Grausigkeiten von Falkland/ Arbeitslosigkeit/Polizeistaat etc. kontrastiert (Haircut-Mitglieder meinen übrigens zu Falkland, daß es Linke in die groteske Situation versetze, mit Faschisten solidarisch zu werden, weil der Anti-Kolonialismus ein höherer Wert sei. Solche Dinge erzählen sie aber nicht bei offiziellen Interviews, sondern nur hinterher. Normalerweise verweigern sie solche Statements mit der Begründung, man würde ja auch nicht sechs andere ganz normale Engländer fragen, was sie dazu denken). Lowry’s Eskapismus-Vorwurf findet seine Fortsetzung bei deutschen Siouxsie/Killing Joke/Theatre of Hate-Fans, die von Musik eine direkte Verbindung mit dem Leben in all seiner existentiellen Traurigkeit verlangen. Nicht nur, daß sie lieber Schubert oder Throbbing Gristle hören sollten; diese Idee von der Verdoppelung der Tristesse durch triste Kunst führt direktmang in den Schwachsinn. Musik, die ein pubertäres Gefühl von Aussichtslosigkeit durch Reproduktion dieses Gefühls bestätigt, bewegt nichts. Bleibt folgenlos, wie alle andere pubertäre Kunst von Hermann Hesse bis Pink Floyd. Das Traurige hat seinen Platz in den Widersprüchen, den Spannungen und Kontrasten, die jedwedes wache, klare Konzept von Musik zu dem Leben des jeweiligen Zuhörers herstellt. Egal, ob es sich eher fröhlich oder traurig darstellt, solange es dynamisch bleibt und den Lebenserfahrungen der Hörer auf prickelnde Weise widerspricht. Das gilt auch für die politische Variante: wer die mißglückte letzte Jam-LP kennt, weiß, was ich meine: „Die Jam können nie wieder einen lustigen Song schreiben“, sagt Nick Heyward. Sie haben sich innerhalb des Medien-Spiels in die Ecke der verantwortungsvollen Working Class-Anwälte begeben und werden nun wiederholend, bestätigend, redundant. Brillante Leute wie Lowry würden selber gähnen, wenn sie die Musik bekämen, die sie fordern. Lowry ist gerade deswegen so gut, weil er sie nicht kriegt. „Nur weil wir nicht explizit Stellung nehmen, wie die Medien sich das vorstellen, sind wir nicht politisch blöd oder blind“, sagen Haircut. „Wir sind, wie wir sind. Und unser Image brauchten wir nicht lange zu suchen. Wir sind nette Jungs, die frisch aus der Schule kommen. Ich mag die Ideen, daß wir clean sind. Wir sind definitiv keine Rock’n’Roll-Band. Unser Sex-Leben ist langweilig, wir feiern keine Exzesse.“ Später verbieten sie sich Bierflaschen auf Fotos. Alkohol ist gegen das Image.
Nick verrät einem „Bild“ -Reporter, daß er alles nur mitmache, um seiner Ex-Freundin zu imponieren, die ihn vor ein paar Monaten verlassen hat Er holt zerknüllte Polaroids aus der Tasche und zeigt ihm Bilder, die ich leider nicht sehen kann. Mark Fox, der eine deutsche Mutter hat, steht auf und sagt: „Oh, Axel Springer! Er wird schreiben ‚NICK HEYWARD HAT KREBS! GRAUSIG!‘“
Mark steht für die unberechenbare Vielfalt, die sich hinter Haircut 100 verbirgt, hinter diesem scheinbar einheitlichen Sound. Auf der Bühne steht er manchmal fast unbeteiligt vor seiner brasilianischen Percussion-Kiste und schaut, als würde er sich lustvoll überlegen, welches kleine Gerätchen er jetzt hervorkramen wird. Er macht dann drei Takte mit irgendeiner obskuren Rassel, um sie dann wieder gelangweilt wegzulegen und sich den Congas zuzuwenden. Solche netten Show-Details gibt es tausendfach im Haircut-Programm, ohne daß sie im geringsten zufällig oder spontan wären. Haircut 100 ist organisierte Lebensfreude. James Brown war nichts anderes.
Mark antwortet auf meine Beschreibung davon, was der konventionelle Rock/New Wave-Hörer erwarte und bei Haircut vermisse, mit dem deutschen Satz: „Alle Straßen münden sich in schwarze Verwesung“ – „Was ist das?“ „Weiß ich nicht, irgendein Expressionist Georg Heym wahrscheinlich“, dies wieder auf englisch. Nick Heyward schwärmt derweil von den Beatles. Daß er wie sie eine Breitenwirkung erzielen möchte, die nicht bei der Subkultur aufhört, aber diese auch nicht ausschließt. Wie SERGEANT PEPPER, das auf der Straße gepfiffen wurde und Stoff für Dissertationen abgab. Am „Heathrow-Airport“ hat der Zollbeamte ihr Album gelobt, das übrigens anders als die Show nach zu häufigem Hören leichte Verschleißerscheinungen aufweist.
Gute Kunst zerstört Gewißheiten und gibt trotzdem Kraft, Mut, Lebensfreude. Von „Subversion“ und „Strategie der Affirmation“ wollen wir diesmal gar nicht reden, diese Begriffe werden auch langsam überstrapaziert und damit an das Feuilleton verraten. Haircut 100 werden wie die Beatles den Weg über die Charts in die „Zeit“ gehen und nicht umgekehrt. Und darauf, daß sie in die Charts kommen, habe ich gerade zwei Kisten Champagner gesetzt. Lustig, wie beim Bankett die Debatten am Rockist-Tisch mit den vom Haircut-Tisch sich überlappen, und das eine in das andere greift, ohne daß irgendjemand irgendwas versteht. Es war wie beim Soundcheck, als die beiden Profi-Gast-Bläser zum Einspielen Dixieland vor sich hintröteten, und dann zu ihrem Erstaunen feststellen mußten, daß die jungen Burschen ohne weiteres mithalten konnten. Schließlich steigerte man sich in ein irrsinniges „When The Saints“ und grüßte auf diesem Wege die englischen Fußball-Fans, die wegen ihrer blöden Patrioten-Regierung vielleicht auf die WM verzichten werden müssen.
Viele glauben, Haircut sei eine Popper-Band mit nichts als Sektblasen im Kopf. Darüberhinaus entstammen sie, weil das Klischee das so will, gutbürgerlichen Familien. Wer würde schon vermuten, daß einzelne Mitglieder jahrelang arbeitslos waren, daß Mark Fox als Lehrer gearbeitet hat, Nick Heyward als Layouter und zwei von Haircut in besetzten Häusern leben. Daß Blair Cunningham, der aus den U.S.A. stammt, einer von zehn Kindern ist und seine neun Brüder auch alle Schlagzeuger sind. Wann gibt das subkulturelle Kleinbürgertum endlich seine Ideen davon auf, wie ein echter Mensch zu sein habe.
Nick Heyward sagt, daß ähnlich wie Haircut 100 eingeschätzte Bands wie ABC oder Blue Rondo A La Turk zwar für den Moment gut seien, aber keine große Zukunft hätten, weil sie auf einer Idee aufbauen. Bei Haircut sei das Image und die Musik keineswegs auf Norweger-Pullover, propere Frisuren, Funk, Samba und Love Songs festgelegt: „Die Leute denken immer noch, wir seien eine Eintagsfliege. Als wir von Gelb zu Weiß gewechselt sind, hat man uns intensiv nach den Gründen ausgefragt. Warum so eine Imageänderung.“ – Macht es nicht Spaß über solche kleinen Dinge zu reden? – „Oh, doch. Ich stehe sehr auf Kleinigkeiten. Ich hab’ auch überhaupt nichts gegen dumme Fragen. Wir können auch sehr gut alberne Antworten geben. Wie die Beatles, die waren auch sehr gut darin.“


