Wieder ein Treffen der Giganten. Diesmal Berufshektiker unter sich. Diedrich Diederichsen, der unentwegt schreibt, sprach mit Jad Fair, der unentwegt Platten macht, unentwegt halbfertige Platten aus Konkursmassen rettet und unentwegt den Underground über Wasser hält. Ihre Themen: Die Lieblingsplatte aller wahren Demokraten, Mo Tucker, alles, Hamburger.
Half Japanese brauchten auch zehn Jahre, um in einer Stadt wie Köln wenigstens knapp zweihundert Leute zu ziehen, die dann auch noch zufrieden nach Hause gehen, dachte ich, mich beruhigend, als ich sah, wie wenig Leute das Jahrhundertkonzert von Bongwater (mit Kramer, Licht und Dave Rick von Phantom Tollbooth) und ihrer Vorgruppe B.A.L.L. (mit Kramer, Licht und den beiden Velvet-Monkeys und Half-Japanese-Gelegenheitsmitarbeitern Jay Spiegel und Don Fleming) in derselben Stadt glaubten sehen zu müssen.
Nennen wir sie ruhig avantgardistische Rock-Musik, das, was zwischen Negativland und Pere Ubu, zwischen Gone und den Residents, fast ausschließlich in den USA entsteht, und wenn es hier rüberkommt immer mindestens drei Brücken zum jeweiligen Zeitgeist braucht, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Jad Fair, der Mann, der seit über zehn Jahren mit wechselnden Freunden Half Japanese macht, hat zumindest irgendwann herausgefunden, daß er auch ein toller Rock’n’Roll-Songwriter ist, ein genial-beleidigter Teenie-Kräh-Shouter, was den letzten beiden und vom Aufnahmetermin etwas älteren Half-Japanese-LPs beständig den nicht sehr originellen, aber durchaus zutreffenden Vergleich Violent Femmes auf Speed einträgt und eine etwas größere Zuhörerschaft beschert als der nicht minder genialen, aber eben dann doch zu rasenden, zu nervösen neuen Solo-Doppel-LP von Jad Fair, um darauf zu touren, wie es auf englisch immer so schön heißt (to tour on a record).
„Ich habe eine extrem kurze Aufmerksamkeitsspanne“, sagt Jad Fair, mich anstarrend durch seine komischen Brillengläser, ganz den mad scientist gebend, der immer schon so viele amerikanische Avantgarde-Rocker von Mark Mothersbaugh bis John Trubee faszinierte. „Ich bin extrem schnell gelangweilt, deswegen kann ich nur kurze Stücke ertragen.“ Selten eine Fair/Japanese-Platte unter 20 Stücken. Ja, in etwa ist das auch das Credo von John Zorn und anderen, die das Aufgewachsensein mit TV als grundsätzlich andere und neue Voraussetzung von Kreativität bejahen und entsprechende Formen suchen; so gesehen wären die hysterischen Miniaturen von Jad Fair die akademisch-intellektuelle Variante oder Antwort auf Hip-Hop, der gleichen produktiven und aktiven geistigen Verwahrlosung entstammend.
Die erste Half-Japanese-Single hatte vor mehr als zehn Jahren dem in letzter Zeit hier öfter erwähnten Richard Meltzer gefallen, der die Gruppe seitdem in unermüdlicher Begeisterung bei sonst bis auf Saccharine Trust nahezu vollständiger Zeitgenossen-Abstinenz verfolgt – „Ja, ich habe ihn mal getroffen, er kam in L.A. zu einem Gig, aber seitdem nicht mehr gesehen“ –, dann folgte schon, sozusagen um das Grundprinzip der weiteren Arbeit des Half-Japanese-Clans einzuläuten, das Tripel-Album 1/2 Gentlemen / Not Beasts: ungezügelte Produktivität. Wer aber als eine Band, die mit einem nahezu unhörbaren Tripel-Album debütiert, vor allem viele Schallplatten herausbringen will, obwohl selbst die kommerziellste nationwide nicht über 10.000 kommt – und das nach zehn Jahren Arbeit –, muß natürlich Tausend Extra-Aktivitäten entfalten, um mit seinem Vorhaben über die Runden zu kommen, muß also eine Zusatz-Extra-Super-Produktivität entwickeln, um sich die rein künstlerische Kreativität überhaupt leisten zu können. Von solch rastlosen Individuen hängt heute das ganze Underground-Leben ab, und Jad Fair – immer noch der starre Blick durch die runden Gläser auf mich gerichtet – ist eine der verdientesten Säulen.
Das Werk von Half Japanese umfaßt heute 5 LPs, eine Tripel-LP-Box, zwei EPs, zwei Singles, 10 Samplerbeiträge, eine Zusammenarbeitskassette mit den Velvet Monkeys, deren Mitglieder früher regelmäßig bei 1/2-Jap-Platten aushalfen und heute mit Kramer die Gruppe B.A.L.L. tragen, 3 LPs und ein Doppelalbum von Jad Fair solo, eine LP von Jad Fair und Kramer, eine EP mit Moe Tucker, eine Cassette mit Tom Reccion und diverse mir jetzt nicht einfallende Kollaborationen mit jedermann von Jello Biafra bis NRBQ, Orthotonics und Eugene Chadbourne auf jeder erdenklichen Art von Tonträger oder Bühne. Dazu gilt es stets, pleitegehende Plattenfirmen zu reorganisieren, aus den entsprechenden Konkursmassen längst fertige LPs loszueisen, wie z. B. die letzte Half-Japanese-LP Charmed Life, die schon vor drei Jahren entstanden ist und dann mal wieder bankrottbedingt in der Asservatenkammer eines independent Konkursrichters schlummerte, und, nachdem er all das oft genug mitgemacht hat, seine eigene Plattenfirma aus den Anfangstagen zu reaktivieren: „50(beliebige Zahl von Nullen, aber nicht unter 40, einfügen) Watts of Power (in the Hands of Babies) Records or Tapes“, bzw. von seinem Freund und Mäzen, dem in den Staaten berühmten Komödianten Penn Jillette, führen zu lassen. Jad Fair ist mit seinem derart vielfältig auf Vinyl und anderswo dokumentierten Bekenntnis zur Rastlosigkeit, zur Unruhe, zum steten Wandel, zu dem man auch permanente Revolte sagen darf, gegen sich selbst und gegen alles andere – nur gegen ihren Humor sind all diese Genies, von Chadbourne über Rift über Fair bis zu Kramer, manchmal machtlos, was aber auch okay ist, jeder braucht einen Stabilisator, der manchmal etwas unangenehm für Außenstehende sein kann –, zur Dauer- und Nachtarbeit, nicht auch noch verpflichtet, als Redner erklären zu können, was er da macht, er ist ja gerade als Künstler geschwätzig, um es als Mensch nicht sein zu müssen, zumal er sich da sehr schnell in den auf den ersten Blick Widerspruch verwickelt, alles, was er tue, sei sowohl völlig unschuldig und ohne jede Slickness, ja er habe Antikörper gegen das richtige Erlernen eines Instruments, aber auch immer ganz und genau kontrolliert, er wisse, was er tue; ihn zu fragen, wie das gehe, wenn man sein Instrument nicht unter Kontrolle zu haben gerade für seine besondere Kunst hält, spare ich mir, weil solche Probleme und Widersprüche entstehen nur im Stillstand, in der Ruhe, im Nachdenken; in der ständigen Aktivität hingegen ist das Kontrollieren / Nicht Wissen, was man tut, in glücklichen Momenten – und eine Abfolge von solchen scheint Jads Leben zu sein – dasselbe: „Meine Platten sind exzellent, aber unschuldig.“
Jad Fair hat früher keine Platte ohne seinen Bruder David aufgenommen, auch Leute wie John Dreyfus am Saxophon und Marc Jickling als Gitarrist waren eigentlich immer dabei, fast immer die schon erwähnten Velvet Monkeys und heutigen B.A.L.L.s, Don Fleming und Jay Spiegel, gerne Gäste wie Kramer oder Terry Adams von NRBQ. Auf dieser Deutschland-Tournee überrascht er uns dann mit einem völlig neuen Line-Up mit Hank Beckmayer und Jon Slugget als Gitarristen und Joe Martinelli als Drummer und legt einen Set hin, der so unangefochten auf dem Plateau Velvet/Beefheart/Stooges wandelt, daß wir uns noch am selben Abend gezwungen sahen, endlich einen Begriff dafür zu finden; denn so geht es nun wirklich nicht weiter, diese Namen kann ja keiner mehr hören, aber so wie die das an dem Abend spielten, war das eben ein Stil, aus so vielen verschiedenen Bestandteilen und Unterrichtungen bestehend, und dennoch ein Stil wie eben Soul oder Bebop oder Beat oder Psychedelic, aber bitte ein neuer Name! Acid-Literaturwissenschafts-Blues?
Jad Fair ist 54 geboren, hat seit er denken kann Musik gehört, den lebensverändernden Kick gaben ihm aber die erwähnten drei, circa im Jahre 69. Seine Familie, von der man den anderen Bruder mit der identischen Brille noch als Songwriter und Coverillustrator gut in Erinnerung hat, der sich aber inzwischen von der Musik zurückgezogen hat, um sich ganz der Bildenden Kunst zu widmen, wimmelt kinderreich von Kreativitätsbolzen.
Von den vielen Genies, mit denen er schon gearbeitet hat, wer war das Größte?
„Keine Frage, Mo Tucker. Terry, Eugene, Kramer, alles große Leute,aber mit Maureen war es am besten, schon, weil sie immer ein großer Held und leuchtendes Vorbild von uns allen ist.“
Während Fosters Kaleidoscope-Label jetzt in England die erweiterte Fassung der alten Jad-Fair/Mo-Tucker-EP als LP herausbringt, haben Jads neue Jungs ihr Talent bei den Arbeiten an einer neuen Jad/Panese/Mo-Tucker-Platte erstmals unter Beweis stellen müssen, jenem legendären Projekt, bei dem auch Lou Reed an einem Song mit Hand anlegte, Cale allerdings entgegen hartnäckiger Gerüchte nicht, dann Sonic Youth und unsere netten Jungs hier, die mit ihrer netten Art immer dann für Auflockerung sorgten, wenn Jad wieder seine Blickstarre bekam.
Jad, das muß hier übrigens auch mal gesagt werden, ist ein Protestsänger. Wenn er sein beleidigt-quengelndes Organ anwirft, dann kann es sein, daß er wie der mit ihm so oft verglichene Gordon Gano sich über das nicht zur Verfügung gestellte Auto beklagt („Wir sangen und spielten schon so, als Gordon Gano noch nicht mal gewickelt wurde“), oder sinnlos schöne Nichtsinn-Verse schmettert, genauso oft aber klagt er mit der gleichen persönlichen Verstimmtheit, dem Leidenston unschuldig verfolgter amerikanischer Teenager, fundamentale Ungerechtigkeiten des amerikanischen Unsozialstaats an, neue Armut und alte Entfremdung und dergleichen mehr. Das korrespondiert wiederum mit seiner höchst demokratischen Idee von Genie, das er sich und jenem berühmten und von allen in die Jahre gekommenen Rockkritikern – von Lester Bangs über mich bis Jörg Gülden – automatisch stets sehr geschätzten Mädchen-Trio The Shags zuschreibt. Deren Philosophy Of The World ist Jads absolute Lieblingsplatte. The Shags waren drei Mädchen, die sich von ihrem Vater wünschten, eine Platte aufnehmen zu dürfen, das aus nicht-spielen-Können hervorgegangene polyrhythmische Gemetzel ist im Gegensatz zu den meisten Platten Berliner Cassettenlabels aus den Jahren 80-82 wirklich schön, die gültige demokratische Idee von Genie eben (vielleicht wäre hier ein Exkurs zu Rosa von Praunheims Film Die Bettwurst angebracht, der von derselben Idee kommt und ihre Richtigkeit wunderschön vorführt und doch gleichzeitig den Weg freimachte für hunderte von widerlichen bürgerlich-intellektuellen, voyeuristischen Volksploitation-Filmen und -Dokumentationen auch von von Praunheim selber, der die Methode ja auch noch einige Male mit echt schrillen alten Frauen lieblos abnudelte, deren übelster sicher van Ackerens Deutschland privat war, eine nicht ganz ungefährliche Idee also), auf deren Olymp ein dicker, bekränzter Eugene Chadbourne die Lyra schlägt, und die Shags als Grazien um ihn herumhüpfen, während der bockfüßige Satyr Blabalabla Jad Fair Blablala. Für mich hat er das Urproblem aus der Welt geschafft, daß man nämlich nicht absichtlich so sein kann, wie The Shags (auch wenn das immerhin ein erwiesenermaßen mit allen Wassern gewaschener Kennermusiker und Könner wie Eugene Ch. auch geschafft hat). Wenn man nämlich diese Shags nicht nur kurios findet, sondern ihre Musik wirklich liebt, weder wegen noch trotz des Dilettantismus, sondern unideologisch wegen der wirklichen Lieder und der Töne, aus denen sie zusammengesetzt sind, dann kann man absichtlich so etwas schaffen, wo man dann zwar auch objektiv etwas von der Theorie des Dilettantismus als Kreativitätsschleuder mitverwendet, aber nicht mit in die Paradoxa-Mühle gerät (du kannst nicht lernen, nichts zu lernen – nein, aber vielleicht geht es darum gar nicht, es geht vielmehr darum, Musik wirklich gerne zu haben und Wiederholungen langweilig zu finden).
The Shags haben inzwischen alle geheiratet und haben selber wieder Kinder. Mo Tucker dagegen, die gleich nach dem Ende von Velvet Underground ihren Computerfachmann in Phoenix, Arizona, heiratete – Mann, hätten wir den jetzt nötig! – und Mutter von fünf Kindern ist, hat sich von diesem wieder scheiden lassen und zieht die fünf Kinder, Schlagzeug spielend und songwritend, ganz alleine auf. Schicksale demokratischer Frauengenies. Jajaja.
Woher kanntet ihr die Lyrics zu „Guess I’m Falling In Love With You“ (das offiziell nur als Instrumentalversion erhalten ist), konnte sich Maureen noch an den Text erinnern?
„Nein, wir habens uns von einem Bootleg abgehört, und Maureen hat dann nur kontrolliert, ob es stimmen könnte.“
Siehst du dich als Einzelkämpfer oder in einer Bewegung?
„Ich sehe schon, daß Leute wie Eugene, Kramer, wir oder auch Sonic Youth heute mit einer Musik eine Menge Leute erreichen, die man früher mit solcher Musik nicht erreichen konnte, das liegt unter anderem auch daran, daß die Industrie den Markt der interessanten Musik ganz sich selbst überlassen hat, was für Leute wie uns ziemlich gut ist, weil wir ihn so besser beeinflussen können. Es ist ein langer zäher Kampf, aber heute haben wir schon vorzeigbare Ergebnisse in den Händen.“
Mit den anderen Jungs war es später noch sehr nett, während Jad schon im Bett lag und sich von seiner allgemeinen Rastlosigkeit, tief unausdauernd schlafend, erholen mußte. Sie wollten alles über die Galerie Werner wissen und ihren Galeristen, den Mann, der für die Stillegung des größten musikalischen Genies des Jahrhunderts verantwortlich sei, indem er Don Van Vliet ein gut bezahltes Leben als Maler ermöglichte. Doch keiner von uns mißgönnte Don das. Die Jungs wollen sich nur morgen noch ein paar neue Bilder von ihm ansehen. Vor allem Beckmayer ist stark an zeitgenössischer Kunst interessiert, läuft in N.Y. auch mal durch SoHo, dabei kommt er mir die ganze Zeit so irrsinnig bekannt vor, nicht aus diesem Leben, aber aus irgendeiner dunklen Vergangenheit, in der ich auch schon vorhanden war. Ein Klassenkamerad? Waren wir zusammen im ersten Weltkrieg, verteidigten wir Madrid mit den Internationalen Brigaden?
Beckmayer: „Europa-Tour ist schon geil, aber besonders freu ich mich ja auf Hamburg.“
Kann ich verstehen, gute Stadt, aber woher weißt Du?
„Ich komme daher, das heißt, meine Familie, vor sieben Generationen von da ausgewandert.“
Und ich sage euch, in sieben Generationen hat sich da nichts verändert, der absolute pure Nordhamburger Junge mit Interesse für Musik und Fußball und aufrichtig linksradikale Politik. Sieben Generationen Ami-Land unbeschadet überstanden. Ich geb dir ein paar Adressen.
Zum Einstieg in das umfangreiche Gesamtwerk von HJ seien die unlängst bei Recommended erschienenen LPs Music To Strip By und Charmed Life empfohlen, ferner Jads neues Doppelalbum, Great Expectations, ebenfalls auf exquisite music/Recommended Records, seine von beiden Beteiligten – und, was am wichtigsten ist: von mir – über die Maßen geschätzte Zusammenarbeit mit Kramer Roll Out The Barrel (natürlich auf Shimmy Disc und, trotz einer extrem produktiven Zeit für beide, vielleicht deren bestes Werk in diesem Jahr) und die neue Half-Japanese-Konzept-7-inch, zum Patti-Smith-Comeback und zum Patty-Hearst-Revival (mit Film von Paul Schrader) „Patti“/„Patty“.


