Happy Xmas! War is over!

Erkenne die Lage, sagt Gottfried Benn und schlägt den NME auf. Was sollte er sonst tun. Will man nicht der Beliebigkeit anheim fallen, liest man immer wieder die Prawda und produziert immer wieder Prawda-Artikel. Nur der neue Schriftleiter der Prawda gefällt uns nicht: Michail Gorbatschow. Er verhandelt nicht aus einer Position der Stärke, was sogar schon dem „Spiegel“ auffällt, der Prawda von der anderen Seite (tatsächlich ist der „Spiegel“ aus genau diesem Grunde so reizvoll). Der NME kürt die 100 besten Rock-LPs aller Zeiten (und das ist wirklich wahr). Die Liste, die dabei herausgekommen ist, könnte ebensogut von auserwählten Juroren der „Zeit“, des „FAZ-Magazins“ und des „Rheinischen Merkur (Christ und Welt)“ zusammengestellt worden sein. Pop-Kultur als gutabgehangenes Mittelklasse-Ereignis.

Denn pseudoliterarische, gefahrlose Mittelschichtspopmusik belegt zäh wie chronische Bronchitis die ersten Plätze. Van Morrisons „Astral Weeks“, Televisions „Marquee Moon“ und Tom Waits’ „Swordfishtrombone“ – zweifellos eines der schwächeren Spätwerke mit Neigung zum gebildeten Kabarett des einst grandiosen Waits – rangieren höher als Velvet Underground, Beatles, Ramones, Bowie, Blondie (die zu ihrer Stunde erschütternden Ereignisse). LPs mit menschheitsbeglückenden Single-Hits kommen nicht vor, statt dessen zwei Dylan-LPs unter den ersten zehn. Pop als Pop, Pop als Shangri-Las-LP kommt nicht vor, statt dessen Schmeicheleien für die nach Feierabend wildernde Seele des sprichwörtlichen Art Directors.

Neulich verfluchte ich Patsy Kensit. Ich sah sie im Fernsehen, im Kabelfernsehen genauer gesagt, wo sie auch wunderbar reinpaßt. Man spielte ihr und ihrem Bruder Videos vor, und sie fand alles fantastisch. Von Mick Jagger bis zu einer unbekannten Verlierergruppe namens Drum Theatre (oder so ähnlich). Ich verfluchte sie für ihre Dummheit, für Sätze wie: „Ich bewundere Mick Jagger, weil er so lange dabei ist, ich wünschte, wir wären so lange dabei.“

Was aber ist schlimmer, diese Dummheit oder die, die sich in der Nullnummer der Zeitschrift „Tempo“ äußert, wo jemand Yoko Ono „eindimensionalen Positivismus“ vorwirft, was nicht mal dann stimmen würde, wenn der Autor das geschrieben hätte, was er meint (positive Haltung, Abwesenheit von Genörgel), und nicht das, was er geschrieben hat (Yoko Ono sei Anhängerin einer philosophischen Schule des 19. Jahrhunderts)?

Oder ist Dummheit überhaupt nicht schlimm, jetzt wo André Glucksmann ein längliches Traktat über und gegen die Dummheit veröffentlicht hat? Ist es vielleicht prima, daß in „Tempo“ diverse, zum Teil befreundete Hamburger Szene-Figuren auf sechs Seiten oberdämlichen Polaroids zu oberdämlichen Posen oberdämliche Weihnachtswünsche von sich geben wie: „Ich wünsche mir ein aufblasbares rosafarbenes Plastikherz, weil mir bei der Liebe immer die Luft wegbleibt“? (Sogar ein leibhaftiger „Spiegel“-Redakteur ist dabei.) (Kennt jemand diese aufblasbaren Plastikherzen, die übrigens meist nicht rosa, sondern violett sind?) Ist alles nicht schlimm, ist Lifestyle.

Was ist schlimmer, die Television-Tom-Waits-Van-Morrison-Verehrer-Redaktion oder die antipositivistische-Lifestyle-Patsy-Kensit-Plastikherz-Redaktion? Oder André Glucksmann?

Die Lage ist, daß alles, was man sich gewünscht hat, in Erfüllung gegangen ist. Da setzen welche auf die Kraft des Augenblicks, auf Gegenwart, auf Pop (Patsy Kensit, Tempo), auf Blabla, Sprengkraft, Aktualität, auf meinetwegen die Bekämpfung struktureller Dummheit durch die entwaffnende kleine, spritzige Polaroid-Dummheit (Wunsch erfüllt). Da setzen andere, Gewissenhaftere, Klügere auf die aus der ewigen Dissidenz der Pop-Musik hervorgegangenen ewigen Werte (NME). Da entsteht im hohen Norden sogar wieder ein bieder linkes Musikblatt mit lang vergessenen, schön einfachen studentoiden Polit-Ideen, das besorgte Fragen an die Gruppe Laibach stellt (Nuvox). Es ist alles so gekommen, wie wir es wollten.

Viele kleine kleinere Übel, zwischen denen man nur noch zu wählen braucht, viele nette, verzeihliche Blödheiten, die alle geadelt werden durch die bloße Tatsache, daß André Glucksmann auf der Welt ist. Der Trend der 80er Jahre geht nun auch in der Subkultur weg von der einen großen fiesen SPD (Lindenberg, Biermann, ARD, alternative Sinnstiftung), gegen die zu sein eine erquicklich leichte, zu leichte antirevisionistische Plattform war, hin zu vielen kleinen DIE GRÜNEN (Tempo, Nuvox, NME), zu einer Pluralität nur leicht mißverstandener richtiger Ideen.

Es gibt keinen Underground bzw. nur leicht verschlafene Kiffer von den Blue Orchids (vgl. M. Ruff, SPEX 11/85), weil alles, was er in den letzten Jahren an Forderungen gestellt hat, sein nettes Plätzchen in den schlaffen Marktnischen von Tempo, Nuvox oder dem neuen Mittelschichts-NME gefunden hat, er ist in diese und ähnliche Organe eingegangen wie die K-Gruppen in die GRÜNEN, sonnt sich in seiner neuen Macht.

Und ist es nicht erfreulich zu sehen, wie viele nette Kollegen durch all die Projekte und Nullnummern aus Großverlagen in der letzten Zeit plötzlich Honorare kassieren, für die sie vorher fünfmal soviel hätten arbeiten müssen, dazu sich mit Stadtzeitungsredakteuren rumschlagen, die auch nicht besser und weniger kastrativ sind als die alerten, neuen Großverlags-Yuppies? Und warum überhaupt immer das Gerede von dem Underground, ist das nicht genau so ein Fetisch wie die vielbeschworene Subversion, ein Alibi für das dissidente Gewissen, das sich nicht daran gewöhnen kann, daß es in der bürgerlichen Kultur einfach nicht möglich ist, auf die Dauer erkennbar Opposition zu machen? Und vor allem, wo dies doch eine ganz alte Wahrheit ist, ein Faktum, dem doch die allerwenigsten entgangen sind! Und wenn sie es geschafft haben, auf Dauer den Schmeicheleien der schlaffen Marktlücken zu entgehen, enden sie wie Television, Tom Waits, Van Morrison auf dem Podest der ewigen Werte des NME (auch kein schöner Tod).

Keine Perspektive? Und wenn man an der Schimäre des Underground festhalten will, was findet man vor: Sozialdemokratischen Pub-Rock. Und findest du nach zehnmal amerikanisch-freundlichem Pub-Rock einen Abend, der dich euphorisiert, steht die Lifestyle-Illustrierte schon da und macht das, was sie jedenfalls immer noch hinkriegt: Sie veröffentlicht ein Photo. Und irgendeine papierene Schülerzeitschrift wird sich auch finden, die diesen Abend auf seine politische Nützlichkeit abklopfen wird (und wenn diese Schülerzeitschrift eine Tageszeitung ist, was nur zu oft der Fall ist). Und wenn du Glück hast, ernennt der NME den euphorisierenden Abend zu einem Ereignis, das es wert ist, in der Galerie der ewigen Werte geführt zu werden (Prefab Sprout plazierten sich doch tatsächlich in der All time Hot Hundred irgendwo in den 90ern und direkt vor Cales „Paris 1919“, der vielleicht einzigen Pop-Platte, die etwas von Ewigkeit versteht). So ist die Lage.

Zu jedem Ereignis bellen hundert halbrichtige, halb intelligente Gedanken aus allen Seiten und vernichten dein schönes Ereignis. Dabei hat das Jahr ’85 durchaus ein paar mehr schöne Ereignise, euphorisierende Abende gehabt als das Jahr ’84, nur daß man, um die zu erleben, alte Hegemonien vergessen mußte. Die Frontlinien waren unter all dem halbwahren Kanonendonner eines trügerischen Friedens nicht mehr wahrzunehmen, man taperte durch die Nacht und wurde immer nur ganz zufällig fündig, bei einer auf den ersten Blick elend künstlerisch wertvollen Steely-Dan-haften Art-Directors-Band (Prefab Sprout) und bei einer ganz besonders perfiden Version von „Billigem Schwindel“ (vgl. SPEX 5/84), nämlich bei The Jesus And Mary Chain, bei einem gut abgehangenen Ding vom vorvorletzten Jahr (Jeffrey Lee Pierce), bei einer Original-82er-Pop-Klamotte (Associates), bei einem Re-Issue, von dem jeder redete (V.U.), und bei dem mißglückten Ding vom vorigen Jahr (The Pogues).

Da war nun nichts mehr auszumachen von wegen richtig und falsch, da war man mit den ärgsten Feinden einig und mit guten Freunden, die, logisch richtig, die theoretische Bescheuertheit eines dieser Ereignisse bewiesen hatten und dennoch völlig falsch lagen, spinnefeind. Eine Wahrheit des Jahres ist nämlich, daß die Organisationsform des Style Wars auch auf theoretischer Ebene nun endgültig am Ende ist. Die geborgten Style-Identitäten, mit denen man noch 1984 einigermaßen funkionsfähige Schlachten fechten konnte, sind ja unterschiedslos zum Lifestyle geronnen und erfreuen sich im Körper Patsy Kensits ewig-degenerierter, aber glücklich-schlaffer Gesundheit.

Selbst das Alte, das als blutverschmierter Style-Ideologie-Image-Zombie (Ideolobilly, Idiosynbilly und Psychobilly) gute Dienste leisten konnte, ist als ganz normale, nicht einverstandene, linksliberale Rockmusik wieder da und findet junge Leute, die ergriffen über anderer Leute Nicht-Einverstanden-Sein zu räsonnieren bereit sind: die neuen glamourösen Schein-ZTT-Frankie-Morley-Identitäten erfreuen auf der anderen Seite die Mehrheit der euphorisch Einverstandenen und finden auf besserem Papier gedruckte Blätter, wo die Veteranen der einen wie der anderen Idee mehr oder weniger verbissen versuchen, aus der bunten Pop-Welt das eine oder andere Phänomen herauszudestillieren.

Und dies geschieht nach derselben Methode, nach der die alternativen und linksliberalen Fernsehmacher aus dem Fluß der Widersprüche ihre „Probleme“ herausdestillieren. Phänomene („Auch Männer haben ihre Tage“, „In Bochum fahren Jugendliche kopfstehend Skateboard“) und Probleme („Könnte es sich bei der Gruppe Laibach um Faschisten handeln?“, „In Bochum fahren arbeitslose Jugendliche kopfüber Skateboard“) – die linke und die konservative Methode, der Welt die Zähne zu ziehen. Und die Musik stellt sich beiden Vorgehensweisen zur Verfügung, gelockt von ökonomischen Zwängen und den verlockend halbrichtigen Gedanken.

Selten war es so leicht, nichts falsch zu machen. Und an diesem Punkt ist es die schiere Evidenz, daß jemand irgendwo in der Musik etwas richtig gemacht hat, ein so radikal euphorisierendes Ereignis, daß die anderen, die Phänomenologen und die Problematiker, noch so schnell begeistert sein können über den neuen Fraß – schließlich kann sich ja wirklich niemand diesen Betrachtungsweisen entziehen, alles kann man als Phänomen, Problem oder Klassiker betrachten, alles hat so seinen Platz in Tempo, Nuvox oder NME – ihre Methode wird sie immer daran hindern, dem Ereignis gerecht zu werden. Was die Voraussetzung wäre, es sich aneignen, wegnehmen, eben entschärfen zu können.

Gerecht aber ist nur der, der seiner eigenen Euphorie oder seinem eigenen Ekel gegenüber hemmungslos loyal ist. Gerecht schreibt, redet, denkt über Pop-Musik nur der, der seine ganze Vernunft und Intelligenz gegen das Euphoricum auffährt, aber um sich am Schluß geschlagen zu geben, um am Schluß zu seufzen oder die Wut zu kriegen. Nicht irrational seufzen oder irrational fluchen, sondern geschlagen, hingebrettert, eben erregt.

Denn nicht eine Geschichte von Ausnahmen und Meisterwerken ist die Geschichte der Pop-Musik, wie es uns der NME Glauben machen will, es ist eine Geschichte von alltäglichen Erregungen. Die Geschichte des Diskurses über Pop-Musik ist die Geschichte der Versuche, diese Erregungen in einen vorhandenen Lebensentwurf zu injizieren, zu ermöglichen, daß aus Pop-Erregung – na, im besten Falle – politische Erregung wird. Das aber geht nicht über den Gegenstand, auch wenn diese Möglichkeit zulässig ist, das geht nicht über das Problem oder das Phänomen, daß an einem Ort zu einer Zeit Leute eine bestimmte Frisur bevorzugen.

Das geht auch nicht mehr über Fronten, die man immer als Nachhall von Punk zwischen richtiger und falscher Musik einst abstecken konnte, als noch Leute am Ruder waren, die etwas mit der ersten Subkultur-internen ästhetischen Revolte zu tun hatten (Punks gegen Hippies). Denn die erfand erst den Unterschied zwischen richtig und falsch. Und nahm ihn mit in ihr Grab.

Mehr denn je geht es darum, daß der einzelne Schreiber und der einzelne Konsument sich selber wichtig nimmt, nicht als beschissener Individualist, sondern als Arena von Erregung, als Motor, Umwandler, nicht von „Rock-Power“ oder „Energy“ sondern von der unglaublichen Kollision vollkommen ernstgemeinten, nicht klassifizierbaren Unsinns; seines eigenen und des Unsinns, den die gute Gruppe ihm zufügt.

Denn Pop-Unsinn ist der einzige Unsinn, der nicht durch Institutionen, Phänomenologien und Problematiken gerechtfertigt wird und werden darf. Er hat seine Rechtfertigung nur darin, daß sich Leute zu wichtig nehmen, Künstler und Publikum. So sehr zu wichtig, wie sich alle Menschen nehmen sollten. Denn „Menschen sind das Schönste auf der Welt“ („Mandalay Song“).

Und dieser nicht legitimierte Unsinn, diese kleinen, netten, mal groben, mal ziselierten Erregungen, Reize, Schocks – das ist die Wahrheit.

Die Wahrheit aber ist kein Lifestyle und kein soziologisches Problem, sie sagt zwar vielleicht Brot, Freiheit und unentfremdetes Arbeiten für alle, aber sie sagt es nicht mit diesen Worten, denn dann hätte sie ja keine Chance, sie sagt es, indem sie sich sturer, querköpfiger, von sich selbst besessener Menschen bedient, peinlichen Göttern wie Paddy MacAloon oder The Jesus And Mary Chain. Aber beides müssen sie sein: peinlich und göttlich. Dann brauchen sie nämlich einfach nur noch, wie Mark E. Smith es schon ganz richtig zu Dirk Scheuring sagte, „ihre Psychosen zu rappen“. Und wir rappen unsere Psychosen dazu. Gute Unterhaltung wünscht die Direktion: 1986 geht wirklich erst mal alles. Neues Leben. Neue Freiheit. Neue Chance. Neues Glück.