Herbstsaison. Die große Depression

Herbst. Das Spiel ist aus. Jetzt wird es ernst. Wer jetzt alleine bleibt, bleibt es lange und kommt unter Umständen nicht durch.

Diesen Gedanken formulierte auch der lungenkranke Schwerenöter, Lyriker und erbauliche Tröster unserer Großmütter Rainer Maria Rilke, der wie so viele Lyriker mit Vorliebe den Herbst besang. Dies nutzt auch der linke Buchladen in meiner neighbourhood.

Da ich in keiner Studentengegend wohne, sondern in einem proletarisch/kleinbürgerlichen, unausrottbar sozialdemokratischen Viertel, ist dies der einzige linke Buchladen der Gegend. Vor ca. zwei Jahren hatte dieser die schrille Idee, an der nächstgelegenen U-Bahn-Station einen Schaukasten zu mieten und darin für sich, seine Bücher und seine Weltanschauung zu werben. So präsentierte man nacheinander: die Tatsache, daß Männer Schweine sind und über ein Geschlechtsorgan verfügen, das diverser Kriegsmaschinerie ähnelt (dargestellt anhand von sinnfälligen Fotomontagen mit FLAK, Kanonen, Raketen …) und daß sich diese Männer selbst finden sollen und daß es Bücher zum Thema gibt; die Tatsache, daß die Deutschen sich nicht immer so schlecht gegenüber ihren Ausländern benehmen sollen (um zu verdeutlichen, daß es gar keine festumrissene deutsche Identität gibt, wies ein kleiner Zettel auf die vielen Völker, aus denen sich unseres zusammensetzt, hin, daneben hatte man einen kleinen Spiegel geklebt, der es dem auf die U-Bahn Wartenden ermöglichte, noch schnell einen Mitesser auszudrücken und en passant sein Deutschtum zu überprüfen), und die Tatsache, daß James Joyce aus Irland stammt (wo die Bärte rot und die Bartträger blau sind – belegt im Schaukasten anhand einer Reihe vierfarbiger Amateurphotos und dem Zusatz: „Iren – die Menschen, die Joyce liebte“. Meines Wissens liebte dieser Herbert Wehner des modernen Romans wenige Menschen, schon gar nicht ganze Volksstämme). Aber es ist natürlich toll, wenn sich Tag für Tag die arbeitende Bevölkerung beim Warten auf die U-Bahn über James Joyce, Ausländer und Männerprobleme Gedanken machen muß. Und ich habe beobachtet, daß diese Installationen, eine Mischung aus Erstsemester-Hochschule-für-bildende-Kunst- und Uni-Wandzeitung-Solidarität-mit-dem-kämpfenden-Volk-von-Vietnam-Wandzeitung-Ästhetik die Leute tatsächlich faszinieren.

Jetzt hat dieser Buchladen sein Meisterwerk geliefert. Ein ganz und gar mit Herbstlaub ausgefüllter Schaukasten macht Stimmung für Rilke, den Herbstlyriker, und unser aller Herbstgefühl. Wirklich großartig finde ich, daß man den Herbst hier wirklich als Problem vorstellt, das den arbeitenden Menschen ebenso stark zu schaffen macht wie Lohnpause und Bundesliga.

Niemand kümmert sich darum, uns diese Probleme vom Hals zu schaffen. Da kommt ein rechtschaffener Bürger aus dem Urlaub zurück, dem wohlverdienten, und in der Zwischenzeit hat man kurzerhand die Regierung ausgewechselt. Zwar fällt es auch den Nachrichtensprechern nicht leicht, die Worte „Bundeskanzler“ und „Helmut Kohl“ oder „Innenminister“ und „Friedrich Zimmermann“ in Verbindung zu bringen, aber sie tun es trotzdem und brüskieren so jeden halbwegs normalen Menschen. Schmidt, der rechtmäßige Kanzler, die hervorragend-richtige Repräsentation von bundesdeutscher, spätkapitalistischer, ideologieloser, pragmatischer Krisenverwaltung, tritt zurück und erhält plötzlich ungewohnte geistige Dimension. Klaus Bölling veröffentlicht sein triefendes, unbedingt lesenswertes Bundeshaus-goes-Richard-Wagner-Tagebuch, und Schmidt wird darin plötzlich zum Schüler des Philosophen Popper, dessen Erwähnung durch Schmidt vorher immer wie eine Notlüge wirkte, um den sozialdemokratischen Pragmatismus geistig zu überhöhen. Nun erscheint Schmidt als Schüler des greisen Weisen (in Wirklichkeit ein dröger Empirie-Anhänger, dessen Anti-Marxismus seinem Namen alle Ehre macht), der diesen noch vor seinem zu erwartenden Tod in London aufsuchen will, um ein paar wichtige Erkenntnisse abzuholen, auf daß das kostbare Wissen erhalten bleibe…

Mit Schmidt endet eine Epoche, in der Politik ein letztes Mal durch eine Figur repräsentierbar war und damit wenigstens noch einen Rest von Interesse, Auseinandersetzung und Denken möglich machte. Schmidt war die letzte Figur, die es erlaubte, das politische Gepräge einer Epoche ästhetisch zu erfassen und zu verarbeiten. Nach ihm kommt das Ende der Politik. Unter Kohl/Vogel wird die Wahlbeteiligung nach und nach auf 30 % sinken. Die Staatsgeschäfte werden irgendwie weitergeführt. Eine Jugend wird diesen Zustand begünstigen, die, wann immer man ihr Fernsehzeit leiht, verkündet, es ginge nicht um Politik, sondern um Gefühle, Humanität, Nettigkeit und „romantisches Verlieren“, wenn sie Dinge tut wie ein Haus zu besetzen. Dabei hatte das Fernsehen ihnen noch vorher die Ehre angetan, ihr Handeln in irgendeinen, wenn auch fernsehtypisch vagen, politischen Zusammenhang zu stellen.

Die Antwort auf diese Situation kann nur heißen: Marxismus-Revival. Her mit sauberer, rigider Dialektik! Her mit Selbstkritik, Parteiausschlußverfahren, Ernsthaftigkeit! Funktioniert natürlich nicht so einfach. Ist Wunschdenken. Macht nichts. Vielleicht einfach: Sauberes-Denken-Revival, auch wenn das unseren genußvoll verfeinerten und überzüchteten Gehirnen noch so weh tut. Im Rahmen des permanenten Zwei-Fronten-Kampfes (gegen Establishment und gegen alternatives Establishment) wäre das Marxismus-Revival im Zeichen der Kohlschen „Machtübernahme“ (besser „Erschleichung“, „Amtsanmaßung“) das geeignete Medikament. Die Lage ist, daß der einzige einigermaßen aussichtsreiche Widerstand, der grüne, seinen Erfolg seiner Gefühligkeit (Massenbewegung, Slogans für Doofe, Fraternisierung, geistige Schmusedecke) verdankt und sich damit derselben verdunkelten Mentalität bedient, die auch die CDU speist (Gefühle gegen Ideen, mulschige, wabblige Tölpel- und Riesenhaftigkeit gegen Konturen. Ist Kohl „The Thing“), von den wenigen Lichtgestalten wie Petra Kelly einmal abgesehen. Sympathisch bei den Grünen auch: Cohn-Bendits gescheiterter Vorstoß als „Genscher der Spontis“ und die vielen Alt-K-Grüppler, denen die Gefühligen jetzt den Garaus machen wollen.

Wird aber alles nichts. Clubs, Labels, Verlage, Gruppen lösen sich auf. Helmut Schmidt, Blondie und The Jam entziehen sich in derselben Woche der Verantwortung. Normalerweise ist wirtschaftlicher Niedergang (Massenarbeitslosigkeit) mit kultureller Blüte verbunden. Nicht so in den 80ern. Für unsere Zukunft sieht es wesentlich düsterer aus: Uns steht nicht nur ein 1929-Rezessions-Weltwirtschaftskrisen-Revival bevor, sondern außerdem ein großes 33-45-innere-Emigration-Revival (Lesetip: Gottfried Benn: „Kunst und Drittes Reich“), hoffentlich nicht auch noch das Hjalmar-Schacht-Autobahnbau-Rüstung-Ankurbelungs-Revival.

Bezeichnend für die große Depression: die guten Konzerte waren alle hilflos, überkommen, unzutreffend, nicht ganz das Richtige. Das einzige Konzert, das mir den Glauben an die Musik zurückgeben konnte, war der dieses Jahr unerreichte Auftritt von Dexys Midnight Runners, der Gruppe 1982.

Die heutige Zeit ist durch zwei fundamentale Niederträchtigkeits-Strukturen organsiert, die ich an zwei Beispielen verdeutlichen will. Erstes Beispiel: Dem Fernsehen entnehme ich, daß anläßlich des fünften Jahrestags der Ermordung des Hans Martin Schleyer von Daimler Benz ein Hans Martin Schleyer-Preis für hervorragende Verdienste um die Sozialpartnerschaft gestiftet worden ist (also für mehr Nettigkeit von sogenannten Arbeitnehmern und sog. Arbeitgebern). Ich will ja nicht sagen, daß das so wäre, als würde man einen Adolf-Hitler-Preis für Verdienste um die Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden aussetzen, auch nicht, als würde man einen Paral-Preis für die Aussöhnung von Menschen und Mücken, nein denn vernichten wollte Schleyer ja niemanden. Aber an einen Horst-Tappert-schwarze-Serie-Preis, einen Nobby-Stiles-Fairness-auf-dem-Fußballplatz-Pokal muß ich denken, an einen J. J.-Cale-Pogo-Preis, und wenn es nicht zu billig und zu naheliegend wäre, würde sich mir sogar der Vergleich mit einem Harald-Juhnke-Enthaltsamkeitsorden aufdrängen. „What’s the use of getting sober, when you’re gonna get drunk again“, fragt Joe Jackson. (By the way: Nichts gegen den originellen Nobby Stiles und viel gegen das moralinsaure Anliegen „Fairness“ im Fußball!).

Zweites Beispiel: BAP dominieren unsere Hitparaden und werden allerorten hochgehalten als Beispiel für eigentliche, richtige, natürliche Rockmusik. BAP verkörpert die erfolgreichste Form des Rockism, jener reduktionistischen Einstellung, die dem alten verlogenen Unsinn vom Reden wie einem der Schnabel gewachsen ist bis in unsere Zeit am Leben hält und auch noch als oppositionell verkauft. „Titanic“ schrieb hierzu sehr treffend: „Um seinen pseudosentimentalen Maffayaden einen volkstümlichen Anstrich und seinen Fans lindenberghaften Lehrstoff zu verpassen, singt Karohemdträger W. Niedecken in einem Phantasiekölsch, das er wohl selber nicht ganz versteht Auf Legastheniker-LPs wie ‚far usszeschnigge‘ und ‚wn drinne noh drusse‘ nimmt er angepaßtes Spießertum unter die unangepaßte Lupe. So erfreut er sich als gebildeter Vergangenheitsbewältiger (‚KristaUnaach‘) (…) und die eigene Unverdorbenheit bestaunender Nichtwellenreiter der klassischen ‚Einer-von-uns‘-Berühmtheit nicht bloß beim Freizeitclub der Sprachbehinderten, sondern auch bei dem Teil der Jugend, dem man mit echt gutgemachter Spontaneität noch imponieren kann. Und der ist größer als man wünscht.“ Und zeugt Kinder, erzieht sie in seinem Sinne und perpetuiert das Elend.

Doch zurück zu den Konzerten, zur Chronistenpflicht: Fred Frith’ Skeleton Crew und Cassiber, das um Chris Cutler und Christoph Anders erweiterte Goebbels/Harth-Duo erinnerten noch einmal nachdrücklich an das, was uns unter „Avantgarde“ einmal vorgeschwebt hatte.

Fred Frith führte im Trio und unter ständigem Wechseln der Instrumente vor, was er sich unter einer „musikalischen Weltreise“ oder wie man sonst die bunte Aneinanderreihung verschiedener Musikstile nennen möchte, vorstellt. Der Stil, die formale Festlegung änderte sich schnell und abrupt, aber irgendein musikalischer Parameter war immer festgelegt, der Rest wurde der Leidenschaft und der Spontaneität überlassen. Obwohl Frith ein guter Mann ist, ließ es mich kalt: eine etwas zu durchsichtige, akademische Fingerübung. Anders bei Cassiber, bei denen das Nachdenken über Musik sich auf glückliche Weise mit nicht mehr hinterfragbaren Obsessionen paarte: bestimmte unauslöschliche Leidenschaften für Jazz bei Harth, Fetzen europäischer Melodik bei Goebbels und bei dem hervorragenden Cutler, der für ein Tribut an seinen Freund Robert Wyatt sorgte, indem er das Konzert in einer furiosen Version von „At Last I’m Free“ enden ließ. So sollte Nachdenken über Musik sein: daß man am Ende das macht, was man sowieso machen wollte und zusätzlich weiß, warum. Und das Wissen-Warum, diesen kleinen geilen, intellektuellen Luxus, wandelt man dann gleich noch einmal, hörbar für das Publikum, in musikalische Einfälle um. Ein gutes Konzert. Trotzdem irgendwie zu alt.