Tom Wolfe bezifferte die Zahl der culturati, der Personen, die weltweit an Geschehnissen des Kunstlebens interessiert sind, auf 10000, davon leben 2000 in der Bundesrepublik, verteilt auf die Städte Berlin, Düsseldorf und München. Hamburg ist nicht darunter. Er schrieb dies in dem Buch „The Painted Word“, 1975. Neun Jahre später und Jörg Immendorff ist mal wieder in der Stadt. Diese hat inzwischen einen Bürgermeister, den man schon mal bei Veranstaltungen dieser Galerie, Galerie Crone, sehen kann und der den Lesern des „Faz-Magazins“ mitteilen läßt, er bewundere die Dichter Musil und Benn und sein Held in der Geschichte sei Ferdinand Lasalle. Nicht daß es direkt diesem Mann zu verdanken (oder anzulasten) wäre, daß die Einbeziehung Hamburgs in das Netz der Culturati erhebliche Fortschritte gemacht hat. Er ist nur so ein nettes Zeichen für einen bourgeois-ästhetischen Normalbetrieb, den die anderen genannten Großstädte gewohnt sind, Hamburg aber nicht.
Immendorff ist von Haus aus Revolutionär, seit wenigen Jahren interessiert sich das Establishment für ihn. Zwar verfügt Immendorff über ein strategisches Bewußtsein, das ihm erlaubt, auf eine Weise mit dem Establishment umzugehen, daß seine Bilder, sein krachender Humor, sein antibürgerlicher Wille zum Umsturz keinen Schaden nahmen. Aber weiß er auch, daß das Hamburger Establishment trotz Dohnanyi zu den schlauesten und abgefeimtesten der Republik gehört? Die sich den „Willen zum Umsturz“ als Selbstzitat aus einer K-Vergangenheit gefallen, ja munden lassen, wie sie eben auch freiwillig auf verfeinerte Küche verzichten und noch in den Chefetagen sich zu Labskaus-Orgien verabreden, bei denen man führende Männer der Wirtschaft Substanzen verspeisen sieht, die aussehen wie frische Kotze. Hamburger sind hart im Nehmen.
Es geht nicht darum, daß es gefährlich sei, wenn das Establishment einen Künstler versteht oder akzeptiert, darum daß so etwas wie Provokation von irgendeiner heilsamen Nebenwirkung für das Volksganze oder den allgemeinen Erkenntnisprozeß begleitet werde, und darum rein zu halten sei, es geht nicht um epater la bourgeoisie. Es geht nur darum, was heißt ein Bild in welchem Zusammenhang. Heißt ein Immendorff in Hamburg dasselbe wie ein Immendorff in Köln, Berlin, New York, Zürich oder Holland (wo er überall dasselbe heißt)?
Zweifellos wird Hamburg, dessen brachial-gesunde Bourgeoisie, nur wenig angekränkelt von Symptomen der AIDS-Stadt New York …
Hier bricht der 1983 geschriebene Text ab. Die Problematik Immendorff-in-Hamburg ist vom Künstler selbst (siehe „St. Pauli-Hamburg-Germany“), offensichtlich von ähnlichen Gedanken, die ich hier vorzubereiten mich anschickte, inzwischen auf die Spitze getrieben worden. Er hat, angestachelt bekanntlich in Hamburg, eine Kneipe aufgemacht, plant auf dem traditionsreichen Platz vor der Kneipe ein Denkmal für Hans Albers, das einzige schwere Symbol, das in den Katakomben hanseatischer Geschichte schlummert, zu errichten und ist auf der anderen Seite eine der akzeptabelsten Figuren des weltweiten Kunsttreibens geworden. Gerade heute traf ich einen anderen Künstler auf einer Straße in Köln, der in New York bei Mary Boone, die neueste Show von Immendorff gesehen hatte, dies als Teil einer Aufzählung berichtend, deren andere Glieder das Metropolitan Museum und der neue Nachtclub „Palladium“ waren. Ein anderer Künstler sagte in einer der neuerdings so beliebten Was-bleiben-wird-Debatten über Immendorff: „Seine eigentliche Leistung ist die Wiedereinführung der Zentralperspektive Anfang der 70er, der Maoismus war dafür nur ein Vehikel.“ Gibt es denn einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Zentralperspektive und Maoismus? Nein. Zum Glück. Und der Begriff vom Vehikel ist natürlich auch falsch. Richtig ist allenfalls, daß die Zentralperspektive einer der vernachlässigbarsten, selbstverständlichsten, unspektakulärsten Kunstgriffe ist, einer, der den Platz frei macht für die Konfrontation auf der Ebene der Signifikate.
Der Wunsch, Analogien zwischen Malweisen und Denkweisen zu finden, ist typisch für die zeitgenössische Orientierungslosigkeit. Er erinnert an den anderen, falschen populären Künstlerwunsch, die sozialen Verhältnisse und Bindungen klassischer Künstlerschicksale in die Gegenwart zu transportieren, immer mit Hilfe des billigsten aller Denkschritte, der Analogie. „Ikonen der Postmoderne“ etc.
Die Vermeidung der Analogie beim Besetzen leerstehender historisch beladener, aber erfrorener, vernachlässigter Zeichen – bis in die Räume von erst Ascan Crone und heute Mary Boone: Immendorff als 85er Gesprächsthema läuft Gefahr zwischen Geniekult einerseits (siehe seine Kollegen in der Werner-Galerie) und einem verheerenden Formulierungswahn seitens des Publikums andererseits, also der Bereitschaft alles zu glauben und der Bereitschaft alles schön zu finden, zerrieben zu werden. Aber soweit ich es beurteilen kann, verhält er sich einigermaßen richtig. Weder macht er extrem häßliche Bilder, noch sagt er etwas, was ihm keiner mehr glauben kann. Auch wenn das nichts Neues ist; er tut, was zu tun ist: er baut ein Denkmal für Hans Albers, auf dem Hans-Albers-Platz, gegenüber vom „La Paloma“.