Ist Fußball heilbar?

Das Stadion ist das zentrale Element der politischen Beziehungen einer jeweiligen Gesellschaftsformation, die die ökonomische Struktur und insbesondere die Klassenverhältnisse und -antagonismen dieser Formation zum Ausdruck bringen. Politische Beziehungen sind Beziehungen zwischen Klassen und zwischen einzelnen Klassenfraktionen, die sich auf der Ebene des Stadions herausbilden; es sind Beziehungen verschiedener Klassenkräfte zum Fußball bzw. Beziehungen verschiedener Klassenkräfte zueinander im Hinblick auf den Fußball, auf die Macht im Stadion. In der Regel ist das Stadion ein Machtinstrument der ökonomisch herrschenden Klasse, die unter anderem auch durch das Stadion und im Stadion zur politisch herrschenden Klasse wird.

Aus: „Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch des Profifußballs“

Auch ich hatte an diesem Abend mein angestammtes Eßlokal etwas hastiger als sonst verlassen, um mich an der für den europäischen Fußball doch ziemlich klassischen Auseinandersetzung zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool zu erfreuen. Der Verein des Fiat-Bosses Giovanni Agnelli, der seinerzeit so dekorativ an dem HSV und Felix Magath scheiterte, gegen die zweite Mannschaft der Stadt, die uns die Beatles und Frankie goes to Hollywood brachte und in Gestalt des FC Everton bereits den Sieger des anderen Europa-Cup stellte: Das wäre schon was gewesen.

Die Stimme des ZDF, die sich wie bei den meisten älteren Fernsehern schon vernehmen ließ, bevor sich ein Bild einstellte, hatte zwar dieses moralinsaure Timbre, das in der Regel eingesetzt wird, um uns zu sagen, daß doch nur ein Spiel sei, was unserer Meinung nach schon immer blutiger Ernst war und uns schon von Kindesbeinen an Wunden, Tränen und Glück beigebracht hatte, Fußball nämlich; aber sonst war nicht Außergewöhnliches.

Bald war dann zwar die Rede von rapide sich steigernden Zahlen Toter und Verletzter, aber das vertraut kurzatmige, besorgte ZDF-Stimmchen unterschied sich in seinem Ton noch nicht von dem Organ, das eine Unsportlichkeit in einem Spiel zwischen den Offenbacher Kickers und dem FC. St. Pauli bemängelt hätte. Noch konnte man nicht ahnen, das an diesem Abend in sämtlichen Nachrichtensendungen der beiden großen Fernsehanstalten von nichts anderem die Rede sein würde als von dem Blutgericht in Brüssel.

Doch soll uns das reale Blut von Brüssel jetzt weniger interessieren als die Fibrin-Produktion der deutschen Fernsehanstalten.

Dies hatte es, die älteren unter euch werden es noch wissen, erst zweimal zuvor in der Geschichte des deutschen Fernsehens gegeben: 1972 in München und 1977 in Mogadischu, also in Situationen, die, staatskonform ausgelegt, einer gewissen Form von Notstand nahekamen. Davon kann in Brüssel nicht die Rede gewesen sein. Der Staatsnotstand, den es hier zu betrachten gab, war aber mindestens ein modellhafter, und es waren gleich zwei dem bürgerlichen Staat analog funktionierende oder zumindest ähnliche Systeme, die in einen Notstand schlitterten. Und es war bemerkenswert, wie sie versuchten, ihn zu beheben. Und es stellt sich die Frage, inwieweit auch diese Versuche der Behebung Modellcharakter hatten.

Das System Fußballstadion – „das weite Rund der Siebzigtausend“ –, wie wir es aus modernen Stadien kennen, dieses Mini-Modell sowohl eines Staates als auch seiner parlamentarischen Organe, war das erste, dessen Zusammenbruch wir gegenwärtig wurden. Über eines waren sich ja alle Kommentatoren der „Tragödie“ – wie solche Vorgänge gerne genannt werden, um sie unvermeidlicher und schicksalhafter erscheinen zu lassen, als sie wirklich sind – völlig einig: Ursache der Konfrontation zwischen Liverpooler und Turiner Fans war die Undiszipliniertheit einiger Belgier, Karten aus dem belgischen Kartenkontingent an Italiener weiterverkauft zu haben, so daß sich Italiener anschließend auf den eigentlich den Belgiern zugedachten Plätzen in unmittelbarer Nachbarschaft der Briten befanden. Ein Problem der Sitzordnung mithin, eines, daß Parlamente durch die Aufteilung in rechts und links zu lösen versuchen, unter Zuhilfenahme des Liberalismus als entmilitarisierte Pufferzone.

Doch ein Stadion ist rund wie der berühmte Ball, und die Extreme treffen sich unweigerlich irgendwo an der Tribüne. An diesem Punkt tritt in den meisten Stadien die soziale Trennung in Kraft. Auf der Tribüne sitzen die Begüterten, die sich zu benehmen wissen, in den Kurven das Pack, das sich prügeln will, aber von seinem Feind durch ein ganzes Spielfeld getrennt ist.

Dieser Mini-Staat, in dem wie in der wirklichen Welt aggressive Proletarier sich gegenseitig tothauen wollen und eine Mittelschicht nur guten Fußball goutieren will, war aus den Fugen geraten. Es geschah etwas Ungeheuerliches: Die Proll-Fans taten, was sie weltweit in hunderten von Stadien seit Jahren singend ankündigen. Sie töteten.

Freilich hatte dies nur ein Bruchteil der Bürger des Stadionstaates mitbekommen, der andere wunderte sich über den verzögerten Beginn der Begegnung, wollte endlich seinen guten Fußball. Eineinhalb Stunden lang schrie sich die überwältigende Mehrheit der Briten, Belgier und Italiener nach dieser gemeinsamen Sache die Kehle heiser. Hätte man ihnen gesagt, daß nicht weit von ihnen das sie alle miteinander verbindende Staatssystem auseinandergebrochen ist, wer weiß, was sie dann gefordert hätten oder ob sich das Staatswesen ganz aufgelöst hätte. Doch weder der Überbau – Konsens des guten Fußball – noch das Fortbestehen dieses Staatswesens durften gefährdet werden.

Lernen konnten wir daran, was wir aus der Geschichte eigentlich schon lange wissen: Gerät der Staat in eine Krise, wird zunächst einmal die Information zurückgehalten – egal, ob das für die Erhaltung des Staates gut ist oder nicht. Die Information, die wie Blut in der „offenen Gesellschaft“ kursiert und sie nach ihrer eigenen Theorie am Leben erhalten soll, wird nach der mittelalterlichen Methode des Aderlasses im Falle einer akuten Störung erst einmal stark dezimiert und am Fließen gehindert.

Währenddessen hatten sich die europäischen Medien ihre eigene Krise eingehandelt. Gewalt bzw. Mord live auf dem Bildschirm ist ja ein beliebtes Thema medienkritischer SF-Romane und SPD-Frauenvereinigungsdiskussionsabende. Wenn sie sich wider alle diskursiven Absicherungen doch mitten in eine Übertragung von der schönsten Nebensache der Welt einschleicht und der Reporter sein Abseitsfallentimbre nicht wegbekommt, gerät dem Fernsehen seine eigene Wirkung außer Kontrolle. Cameras go crazy. Gezeigt wird etwas, das ohne soziologisierenden Kommentar, ohne Kennzeichnung als „Problem“ (heißt auf deutsch: geht uns nichts an, geschieht anderswo) – als „Terrorismus“, als „Nordirland“, „Libanon“, „Straßenschlacht“ oder meinetwegen auch, aber dann bitte nicht live, sondern sorgfältig gegengeschnitten und interpretiert, als „Gewalt auf dem Fußballplatz“ – im Fernsehen nicht vorkommt und nicht vorkommen darf. Denn, daß Menschen aufeinander einschlagen, sich eine Flasche an den Kopf hauen und daß Polizisten, den von einer Flasche am Kopf Verwundeten noch eins mit dem Holzknüppel draufgeben, ohne die entsprechenden Codierungen, die diese Vorgänge entkräften und einem Strang soziologistischer Argumente zuordnen, kommt im von unseren Anstalten ausgestrahlten Weltbild nicht vor. Ist nicht von dieser Welt.

Daher war der Mehraufwand an Nachrichtensendungen und Kommentaren notwendig. Im nachhinein mußte wegkommentiert werden, was vorher mit viel zu viel Intensität vermittelt wurde, daß es nämlich ein verzweifelt, ziellos und rücksichtslos um sich schlagendes Proletariat und Lumpenproletariat wirklich gibt. Mitten unter uns, die wir guten Fußball sehen wollen. Denn selbst nach dem alten Ereignisbedeutungsindex (Anzahl der Toten dividiert durch die Entfernung des Ereignisses von den Grenzen der BRD) hätte es keinen Grund dafür gegeben, daß sich die elektronischen Medien, und die meisten anderen auch, die nächsten Stunden und Tage so ausschließlich mit diesem Thema beschäftigten.

Die Teilung der Welt in eine gewalttätige, rauhe, willkürliche und hungernde und eine anständige, aufgeräumte ist einmal mehr gescheitert. Die Tatsache, daß bis zu 90% der Jugendlichen in Liverpool ohne Job sind, ist fast noch dazu angetan, die Situation dort zur Ausnahme zu erklären und wieder wegzuschieben, in diese ominöse, sich anscheinend immer weiter ausbreitende dritte Welt. Diese Grenzen fallen ein und können auch durch die geschickteste Problematisierung nur noch kurzfristig aufrechterhalten werden.

Und an diesem Punkt haben wir unseren Auftritt. In Hipland ist es schon immer mit einer Mischung aus ungesundem Zynismus und gesunder Schadenfreude begrüßt worden, wenn die Armut und die bürgerliche Zufriedenheit, die der Kapitalismus produziert, räumlich und kulturell nicht mehr voneinander getrennt werden können (vgl. den Hip-Bronx-Touristen). Deswegen saßen wir alle da. Erst eineinhalb Stunden Bürgerkrieg und Straßenschlacht in Originallänge ohne Schnitte im ZDF und dann, nachdem das ZDF das tat, was die „Bild“-Zeitung, die mehr als irgend jemand sonst im Lande etwas von Anarchismus versteht, „Bevormundung des Zuschauers“ nannte, und die Übertragung abbrach, noch einmal eineinhalb Stunden miesen Fußball auf „Nederland 1“.