Was wir von Leonore Maus Werdegang als Fotografin wissen, wissen wir in erster Linie von der Figur Irma aus den Romanen von Hubert Fichte. Irma ist die zweite Hauptfigur von vielen, vor allem seiner späten Romane aus dem Zyklus Die Geschichte der Empfindlichkeit: In dem Roman Hotel Garni, den Fichte erst gegen Ende seines Lebens vollendet, geht es um das Kennenlernen des schwulen Dichters und der arrivierten verheirateten Fotografin und Mutter. Sie reden über ihr jeweiliges Aufwachsen, weibliche Hetero- und männliche Homosexualität und Sexualität überhaupt, über Kunst, Musik, Fotografie und die Nazis. Die Gespräche sind sehr offen und direkt, manchmal auch abgebrüht humorvoll.
Irma erzählt:
Ich wollte Bühnenbildnerin werden
Das fand ich aufregend.
Ich konnte etwas Phantasievolles für eine Theateraufführung entwerfen.
Während des Probejahres musste ich durch alle Klassen [der Leipziger Kunstgewerbeschule] gehen.
Schriftklasse.
Buchbinderei.
Schaufensterdekoration
In der Fotoklasse war ich nie.
Man Ray oder Sander waren für mich keine Begriffe.
Ich fand diese ganze Lichtbildnerei zum Kotzen
Mein Bruder war Hobbyfotograf
Er machte Tageslichtkopien
Parklandschaften und Familienbilder, die mir nicht gefielen.
Mit dreizehn hatte ich eine Box
Ich machte sogar ein Selbstbildnis
Aber die Box ging kaputt.
Ich wollte keine neue haben
Zwischen dreizehn und sechzehn ist man so mit sich selbst beschäftigt.
Ich wollte selbst etwas machen.
Fotografie schien mir etwas Sekundäres.
Wenn man die ersten Blutungen kriegt.1
Dies müssen die letzten Jahre der Weimarer Republik gewesen sein, kurz bevor die Nazis kamen. Nach der Nazizeit ist Hubert Fichte in der Pubertät, und Jäcki erzählt, wie er als Kinderschauspieler die Literatur und die Homosexualität entdeckt. In derselben Zeit entdeckt die um Einiges ältere Irma die Fotografie ein zweites Mal:
Mir bot jemand eine Leica an.
Die war neu.
Die III F.
Der brauchte sie nicht.
Das normale Objektiv, das war noch so versenkt
Das berühmte Elmar
[…]
Die Leica.
Das war der Tag, an dem sich mein Leben geändert hat
Mahlau hatte mir geraten, ich sollte damit in den Hamburger Hafen gehen
Das habe ich auch gemacht
Mit einem Schwarz-weiß Film
Abzüge 18 mal 24.
Größeres Papier konnte ich mir nicht leisten.
Das habe ich Mahlau gezeigt.
Der sagte: Gehen Sie mal zu meinem Freund Sattler von der Hafenrundschau
Der fand sie ganz gut
Die behalte ich mal da.
Drei Wochen später klingelt die Post und hat einen großen Umschlag.
Ich stand gerade mit einem großen Eimer Seifenwasser, um den Schrank abzuwischen.
Die Hafenrundschau hatte einen Titel von mir gedruckt.
Ich habe den Eimer Wasser umgeworfen.2
Der Eintritt ins künstlerisch-journalistische Leben beginnt mit einem Angriff auf das Hausfrauendasein. Leonore Mau beginnt zu reisen und für unterschiedliche Zeitschriften zu fotografieren, doch noch hat sie keine dezidiert fotokünstlerischen Ambitionen, schließt diese aber auch nicht aus. Irma erinnert sich im Gespräch 1962 an einen Moment, der zwischen der in der Kindheit schnell verworfenen Fotografie und dem professionellen Beginn um 1953 liegt, unmittelbar nach dem Krieg, sagt sie:
Als ich die Fotos von Hans Köster sah, kam mir zum ersten Mal die Idee, man könnte mit einer Kamera um die Welt fahren […] Der war Flugkapitän in Südafrika und er hatte einen Koffer voller Fotos bei uns abgestellt. Wenn Ihr was damit machen wollt… Und dann habe ich einen Artikel über Owamboland geschrieben […] ich bin zur Zeitung Universum gegangen und die haben das auch gedruckt. Das war ein bißchen wie Atlantis.
So Bildung und Ferne
Und nach den Tanzstunden blieb man zusammen sitzen und da kam ein gutaussehender Mann, der hieß Gustav Thorlichen und der war Fotograf und fuhr nach Südamerika.
Das war das erste Mal, daß ich daran dachte, mit einer Kamera nach Südamerika aufzubrechen.
– Was fandst Du an Südamerika toll?
– Daß man in ein fremdes Land geht und bildlich etwas darstellt.
– Da schien die Fotografie interessanter als das Bühnenbild in Leipzig?
– Da ja.
– Oder lag es daran, daß er ein hübscher Mann war?
– Beides.3
Die Motive von Fichte sind hier in der Erzählung seiner Partnerin komplett: Wissen kommt immer von Begehren. Befreiung hängt auch immer mit kolonialen Perspektiven zusammen. Frei werde ich nur durch Weggehen. Mein Weggehen ist aber auch immer das mehr oder weniger gewaltsame Eindringen in jemand anderes Freiheit.
Leonore Mau hat sehr lange mit Hubert Fichte zusammen gelebt und auch immer wieder mit ihm gemeinsam gearbeitet, aber auch sehr viel ohne ihn – auch schon zu seinen Lebzeiten. Als sie sich kennenlernten, war die 19 Jahre ältere Leonore bereits eine bekannte Presse- und Dokumentarfotografin, Fichte aber noch kein bekannter Schriftsteller. Sie arbeitet seit 1953 professionell. Zu ihren großen Spezialitäten gehörte die Architekturfotografie, also eine ganz andere Praxis als jene, die Fichte in einem der Romane beschreibt, die von Jäcki und Irma handeln, einem Schriftsteller-/Fotografin-Paar, das den realen Personen Mau und Fichte stark ähnelt:
– Ich könnte schreiben
„Fünf Uhr nach mittags scheint die Stunde der alten Frauen zu sein. Sie sitzen in Gruppen unter den Häusern. Sie treten in Gruppen aus den Höfen hervor und überqueren langsam die Straße.“
– Ich kann hinterher davon reden
– Irma hat nur eine Fünfhundertstel-Sekunde Zeit, und sie ist eine Gurke oder die berühmteste Fotografin der Welt.4
Als sie einander kennen lernen, hat Leonore Mau noch alle Zeit der Welt, ihre Fotos einzurichten. Die Häuser, die sie fotografiert, halten still. Eine Weile macht sie für eine Illustrierte eine Serie, bei der Einfamilienhäuser, die architektonisch interessant sind, von ihr ausgesucht werden, und dann schreibt ein Autor eine Reportage über die Besitzer*innen und deren Architekt*innen, und sie fotografiert.
Es gibt von Hubert Fichte eine reichhaltige Produktion von Romanen, Hörspielen und Essays, die doch unabhängig von ihren Genres durchgehend dokumentarisch und autobiographisch gehalten sind. Dennoch kann man drei Sorten Texte unterscheiden: Romane, die von der Zeit handeln, bevor Fichte in die Pubertät kam und seine ersten sexuellen Erfahrungen als schwuler junger Mann sammelte. In diesen Texten über seine Kindheit als halbjüdisches, in einem Waisenhaus verstecktes Kind in Nazideutschland und als Kinderschauspieler an Hamburger Theatern in der Nachkriegszeit heißt Fichte Detlev (Das Waisenhaus, Detlevs Imitation Grünspan, Versuch über die Pubertät, teilweise). Die zweite Sorte sind die Texte, die danach spielen und in denen Fichte vor allem seine Homosexualität im Verhältnis zur literarischen Kultur in Nachkriegsdeutschland, aber auch im Verhältnis zu Subkulturen schildert (Die Palette, Versuch über die Pubertät und die quasi-ethnographischen Interviewbände über Sex-Worker*innen in Hamburg: Palais D’Amour und Wolli Indienfahrer).
1972, während einer zweiten gemeinsamen Reise nach Brasilien, entschließt sich Fichte, die Zeit von 1962, als er Leonore Mau kennenlernte, über die gemeinsamen Reisen nach Portugal, Rom, Marokko, Brasilien, Chile – und später Haiti, Grenada, Belize, Togo, Senegal, Benin, Tanzania, Florida, erneut Brasilien, Cuba, Bahrain etc. zu einem großformatigen Romanprojekt zusammenzufügen. Dessen Teile würde er nicht veröffentlichen, solange nicht der gesamte Zyklus fertig würde. Er sollte 19 Bände haben und trug zunächst den Titel Geschichte des Tourismus, später Geschichte der Empfindsamkeit und schließlich Geschichte der Empfindlichkeit. Seine zentralen Themen waren globale, intime Kontakte über politische kulturelle Grenzen hinweg – Stichworte: Tourismus, Homosexualität, “Verschwulung der Welt”, wie Fichte seine Utopie nannte, afro-diasporische Religionen und Kultur und ein Bekenntnis zu Bi-Sexualität und Bi-Kontinentalität, geschildert aber von der Erfahrung eines Schreibers, der sich zwischen Wissenschaft und intimer Selbstentblößung, schonungslosem Klartext und politischer Prosa nicht entscheiden wollte und dabei mit einer Frau zusammenlebte, die Fotografin war.
Der Zyklus wird von Fichte zu Lebzeiten nicht mehr beendet. Sehr viel ist fertig gestellt, einiges konnte rekonstruiert werden, aber vieles wird auch für immer fehlen. Der Zyklus beginnt mit dem Kennenlernen des jungen, schwulen Dichters und der erfolgreichen, verheirateten Fotografin und Mutter. Der erste Satz lautet:
Er zerschnitt ihre Fotos
Irma ließ ihn.
Er zerschnitt Nonnen aus Venedig, Häuser von Le Corbusier, Korkeichen, ein Kinderheim und klebte sie zu neuen Bildern ineinander.
Jäcki schnitt die Figuren etwas zu eng. Er haßte Collagen, in denen noch Wald oder ein Stück Schrank an den Personen hing. Jäcki hatte ein Theaterstück verfaßt und wollte es illustrieren. Er hatte gesehen, daß ein Avantgardist on Stockholm für eine Luxusausgabe von „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ alte Stiche zerschnitt.
Jäcki hatte keine Ahnung von Fotografie.5
Das Thema der Arbeit der beiden Protagonisten Jäcki und Irma taucht zunächst hauptsächlich als eines von vielen Gegensatzpaaren in Fichtes Leben auf. Immer wieder präsentiert er sich als eine Person, die zwischen zwei entgegengesetzten Polen leben muss, die ihn selbst betreffen: er ist Jude und Deutscher, verkehrt in der Halbwelt homosexueller Sexarbeiter und überhaupt im Red Light District von Hamburg St. Pauli und in der Welt des Feuilletons und einer von ihm als verlogen und bigott dargestellten “besseren Gesellschaft”. Er fährt als weißer, westlicher Tourist in verschiedene Zentren der afrikanischen und afro-diasporischen Kulturen und ist in schwarze Männer verliebt. Er wäre gern selbst schwarz, zugleich entwickelt er eine ethnologische Perspektive auf die afro-diasporischen Kulturen. Er ist ein schwuler Mann und ein heterosexueller Mann. Er möchte bei allem dabei sein, an jedem Ritual teilnehmen, aber er möchte nicht initiiert werden. Er möchte lieber Ethnologe sein als ein deutscher Schriftsteller, und er hasst die Ethnologie und nennt sie verlogen, kolonialistisch und eurozentrisch. Er spricht schonungslos seitenlang in der ersten Person und führt ebenso endlose Interviews, in denen fast ausschließlich die anderen zu Wort kommen.
Als er mitten in der Pubertät ist, besucht der sehr bekannte, ebenfalls schwule Schriftsteller Hans Henny Jahnn seine Schule: Er darf mit Einwilligung der Hamburger Schulbehörde Urinproben von Jugendlichen auf ihren Hormongehalt untersuchen. Auf dessen Basis erstellt er Diagnosen über die sexuelle Orientierung der Jugendlichen. Unglaublich, aber Jahnn durfte so etwas. Das Ergebnis bei Fichte war, wie dieser immer wieder selbst schrieb: “Fifty-Fifty”. Auf diese grundsätzliche Zweiteiligkeit seiner gesamten Existenz kommt er immer wieder zurück. Es gibt sogar Momente, in denen er den Begriff der Bisexualität zurückweist: Das wäre eine zu einfache Synthese der Zweiteiligkeit, ein dann doch wieder einheitlicher, offener Lebensstil. Nein, er sei ein schwuler Mann und ein heterosexueller Ehemann, beides jeweils ganz und gar.
Es gibt aber noch eine vierte Sorte Text, das sind die wenigen gemeinsamen Arbeiten von Fichte und Mau: Xangó und Petersilie sind je zwei Bände, einer mit Texten von Fichte (hauptsächlich Interviews und Protokolle) und einer mit Fotografien von Mau zu den, wie es im Untertitel heißt “Afro-amerikanischen Religionen”. Hinzu kommt der Fotoband Psyche, den Mau nach Fichtes Tod zu dem Band Psyche aus der Geschichte der Empfindlichkeit hinzugestellt hat, einem Buch, das von afrikanischer Psychiatrie in Senegal, Togo und Benin handelt, sowie der Band Lazarus und die Waschmaschine, zu dem der geplante Fotoband nie erschienen ist. Dies sind auch die einzigen größeren Publikationen, die während der dreizehn Jahre, die Fichte an der Geschichte der Empfindlichkeit geschrieben hat, von ihm erschienen sind (sonst nur Hörspiele und Zeitschriftenbeiträge, in denen er Einzelmomente seiner Recherchen veröffentlichte; außerdem ein sehr beachtetes und auch übersetztes gemeinsames Gesprächsbuch mit Jean Genet).
Die Foto-/Text-Kooperationen befinden sich so einerseits deutlich außerhalb der Geschichte der Empfindlichkeit, obwohl sie zum größten Teil aus ähnlichem Material entstanden sind. Zum anderen sind sie aber die zentralen Lebenszeichen von Fichte. Mau hatte auch andere Aufträge angenommen, während der Schreibzeit der „Geschichte“. Die damals vielfach aufgeworfene Frage, ob Fichte vom Schriftsteller zum Ethnologen geworden sei, wollte er selbst gerne in der Schwebe lassen. Er selbst wollte lediglich klarstellen: Die Arbeit mit Mau und die Arbeit an dem Thema Afrika/Afro-Diaspora sind die Herausforderung. Wie er ihr begegnen wird, wird sich zeigen.
Nun gibt es noch einen Gegensatz, mit dem Hubert Fichte ganz massiv gearbeitet hat: dem zwischen einem aggressiven, direkten Stil, der oft seine Figuren beschimpft, belächelt und aus quasi performativ notierten Augenblickseingebungen zu bestehen scheint und einem reflexiven, kritisch-materialistischen Moment, das ständig eigene und fremde Äußerungen ideologisch einsortiert, kritisiert und vor allem immer wieder die Frage stellt, wer eigentlich was bezahlt und zu welchem Zwecke. Das betrifft auch das merkwürdige Paar, das ständig seine Reisen finanzieren muss:
Wie kriegen 1969 eine Fotographin und ein Schriftsteller das Geld für ein Jahr Bahia zusammen.
Jäcki rechnete 60.000 Mark. Davon zehntausend für zwei Monate Chile, denn er wollte auch nach Chile.
Allende hatte die Wahlen gewonnen.
Rowohlt bezahlte weiter 1500 Mark im Monat.
Ein bißchen was von der Palette war noch nach.
Das waren schon 20.
Peter Faecke vom WDR besorgte 20.
Das waren 40.
Der NDR gab fünf, der SWF gab fünf und die Zeit gab fünf.
Das waren 55.
Mit Miete und Fotomaterial brauchten sie 75.
20 fehlten immer.
Und die Reise.
Irma erwartete 10 an Honoraren
Und der Stern bezahlte ihr 5 Vorschuß.
Aber dann musste Jäcki ran für den Text
Fehlten immer noch zehn.
Außerdem wollte Jäcki für den Stern nicht schreiben.
Für die Zeit das ging gerade noch.
Schon den Spiegel lehnte er ab.
Aber der Stern?
[…]
Jäcki […] rief den blassen Dr. Wild [vom Spiegel] an und der sagte gleich ja und war auch einverstanden mit den 10.
Und einen gezeichneten Aufsatz.
Und Fotos von Irma.
Und Jäcki konnte dem Stern no sagen, die ihn hatten schlucken wollen, einkaufen im Dutzend billiger, in Tüte obenauf.
Aber für Irma als Fotografin war natürlich der Stern besser.
Zehn Doppelseiten Fotos oder so.
Irma als Fotografin genannt.
Eine Fotografin, die der Stern bezahlte.
Seit Life tot war, galt der Stern als die beste Illustrierte der Welt. Hatte Irma mit dem Stern um Jäckis Hoheitsrechte gerungen, rang Jäcki mit dem Spiegel um Irmas.6
An der Frage, welchen Beruf die beiden ausüben und wie sie zu einander stehen, hängen alle anderen Fragen, die Fichte existenziell interessieren: Was ist die Ethik des Journalismus? Welche Rolle hat ein kritischer Schriftsteller und wie kann ein Ethnologe kein Kolonialist sein? Fichte begegnet in seinen Romanen ständig anderen Autoren im Leben wie durch Lektüre, die falsch oder richtig in diesem Sinne handeln, die sich, genau wie er, von der einen Profession in die nächste bewegen und wieder zurück, um Sackgassen zu entfliehen. In Salvador begegnet ihm der berühmte französische Ethnologe Pierre Verger. Es wird eine Hassliebe.
Verger war reich, ein Kind der französischen Bourgeoisie. Fichte ist allergisch und aggressiv gegen Kinder der Bourgeoisie. Verger war ein Fotograf wie Leonore oder Irma, aber er hat die Fotografie aufgegeben, um sich ganz der Ethnologie und der praktischen Ausübung von Ritualen zu widmen. Er ist wie Fichte schwul und begehrt vor allem die afro-brasilianischen Männer. Fichte findet es bigott, dass er dies nicht erwähnt, dass er in seinen Darstellungen des Candomblé unberücksichtigt lässt, dass er eine libidinöse Beziehung zu den afro-brasilianischen Akteuren hat.
Für Fichte ist diese spezielle Liebe des weißen europäischen Reisenden zu schwarzen Männern zunächst nicht problematisch, wenn man sie nur erwähnt, benennt, reflektiert, ja besingt. Denn er glaubt, dass man sich über die Kulturgrenzen hinweg lieben muss. Man muss sich sexuell kennenlernen – anders geht es nicht. Auf heutige Einwände – wie jene, dass er eine koloniale Asymmetrie reproduziere – kommt er nicht, denn für ihn ist das stärkste Argument, dass jede sexuelle Relation zur Verbesserung der Welt beitrage – auch wenn er durchaus sieht, dass solche Beziehungen vielfach kommerzialisiert werden.
Schon 1973 notiert er, dass er sich vorstellen könne, dass die von ihm utopisch ersehnte “Verschwulung der Welt” in eine gigantische sextouristische Kommerzialisierung mündet, die eine Seuche hervorbringen würde. Fichtes grundsätzlicher Einwand gegen die westlichen Ethnologen ist nicht so sehr, dass sie die koloniale Asymmetrie und die alte Herrschaftsstruktur methodologisch und epistemologisch durch das Fach der Ethnologie perpetuieren, sondern vielmehr, dass sie sich nicht genügend einlassen: dass sie die Sprachen nicht lernen, dass sie zu viel Abstand halten, arrogant sind, aber auch zu viel Respekt zeigen. Im Grunde wirft er ihnen vor, dass sie nicht auf die “Verschwulung der Welt” hinarbeiten.
Natürlich muss Fichte diese Position im Laufe der Geschichte der Empfindlichkeit relativieren und schließlich aufgeben. Er beginnt nach den ersten beiden Brasilien-Reisen damit, mit brasilianischen und anderen afroamerikanischen Ethnologen zusammenzuarbeiten und führt eine endlos scheinden Anzahl Interviews. Die schon benannten Fotobücher entstehen. Doch diese Phase, in der klar ist, dass man ein gemeinsames, wohl definiertes Projekt hat, ist die Ausnahme. Die kreative Auseinandersetzung mit den Aufgaben zwischen Ethnologie, Poesie und Journalismus springt ständig zwischen Selbstreflexion und Handlungselement:
Jäcki möchte im Stadtzentrum Irma zum Fotografieren eines Sgraffito bewegen.
Aber sie strebt einer blutübergossenen Torte zu
– Ein Sgraffito. Das ergibt kein Foto. Nur eine Reproduktion.
– Es kommt doch auf den Ausschnitt an.
Jäcki sieht Irma im Pressewind des Stern absausen in Featurefotographie.
Mit einem leicht würgenden Gefühl denkt er an die Fotos zurück, mit denen er sie kennenlernte und die er als Illustration für sein schwules Theaterstück zerschnitt.
Nonnen in venezianischen Geometrien
Mauern, Schornsteine, äußerst fragile Schrägen, wie nur Irma sie zurechtzuschieben verstand.
Würde das nun alles in der Neuen Welt kaputtgehen?
Damals war es noch die alte Leica und die Oberlehrer Rolleiflex. Jetzt hatte sie sich zu zwei neuen Leicas und zwei Mamyas hochverdient.
Sgraffiti.
– Demian was here
– Che
Sgraffiti in der Art des Tachismus.
– Ich könnte mir eine Geschichte dieses Erdteils nur aus Sgraffiti denken, Mauern, Farbschichten, Vegetationsablagerungen, Lettern.
Ich bin aber niemand, der Kunstreproduktion gelernt hat
Die Bombeiros waren natürlich etwas anderes.
Eine neumanuelinische Rüssel und Schlagsahnearchitektur wie sie in Lissabon stehen könnte aber unbedenklich mit Blut übergossen.
Damit jeder auch begriff, dass hier die schnellen Flitzer zu Hause waren, die schwarzen mit den funkelnden Helmen und den langen dicken Schläuchen.
Und daß es sich um Unglücke und Feuersbrünste und Sirenen handelte.
– Hoffentich haben die Farbfilme in der Hitze keinen Stich gekriegt.
– Und das Rot kommt raus.
– Das Rot zwischen den alten verstaubten Bäumen und die surrealistischen Farben der Sonntagskleider.7
Leonore Mau möchte Bilder machen. Fichte möchte, dass sie dokumentiert. Er glaubt aber auch, dass die Dokumentation mit der Kunst zusammen gehört. Dokumentieren und Dokumentiert vermischen sich. Einige Jahre später und nach den ersten gemeinsamen Projekten im Zusammenhang mit den afroamerikanischen Religionen entsteht zwischen 1978 und 1980 das Buch der Geschichte der Empfindlichkeit über New York, es heißt Die schwarze Stadt. Glossen. Es ist das Buch, in dem Irma am wenigsten vorkommt und das auch fast ausschließlich aus Sachtexten und Interviews besteht. Doch das Thema der Fotografie ist groß in diesem Buch. Fichte porträtiert den großen afroamerikanischen Fotografen James Van der Zee, der zu diesem Zeitpunkt bereits 95 Jahre alt ist, und er interviewt Richard Avedon. Gerade der Gedanke, dass zwischen dem Dokument und dem Dokumentaristen eine ästhetische Kopplung, eine Komplizenschaft besteht, nimmt in diesem Buch Gestalt an.
In Die schwarze Stadt sind die Begeisterung über, aber auch die Projektionen auf afroamerikanische und afro-diasporische Kulturen am ausgeprägtesten. Jäcki, der jahrelang fasziniert und skeptisch zugleich war, der den afro-diasporischen Kulturen als marxistischer Armutsforscher, Dritte-Welt-Sympathisant, schließlich Ethnologe begegnen wollte – und alle diese Positionen immer wieder revidierte –, kommt in diesem Buch zu dem Schluss, dass alles, was die afro-diasporischen Künste und Kulturen ausmacht, die er im Laufe seiner vielen Reisen gesehen und studiert hat, darauf hinausläuft, dass sie Kunst sind, alle zusammen einen großen Komplex einer nichtwestlichen Kunst ergeben: eine Gesamtkunst, wenn man so will. Diese arbeitet mit dem gleichen Material wie die westliche – Farben, Töne, Environments –, aber sie hat eine grundsätzlich andere Funktionslogik:
Sie hatte nie mit der Renaissanceperspektive zu tun.
Ihr Verhalten ist durchschlüpfen, zusammenkitten, maskieren – Palimpsest und Kassiber
Die Geschichte der surrealistischen Revolution ist die Geschichte von 12 Millionen Afrikanern in der Neuen Welt.
James Van der Zee ist ein afroamerikanischer Fotograph
Sein Werk, die Collagen, die Fotomontagen fallen mit der bürgerlichen Zerstörung der Renaissanceperspektive zusammen, mit der Zerrüttung durch den ersten Weltkrieg und mit dem Aufkommen des photographischen Weltbildes.8
Doch Fichte kann nicht vergessen, dass er Kultur und Kunst nie wollte: Vor der Hamburger und westdeutschen Kulturbourgeoisie ist er, wie in der Geschichte der Empfindlichkeit an vielen Stellen eindrucksvoll dokumentiert, als schwuler, “halbjüdischer” Liebhaber schwarzer Männer geflohen. Auf dieser Flucht hat er aber eine permanent praktisch tätige Kunst kennen gelernt, die er anfangs nicht auf der Rechnung hatte; praktiziert von einer Frau, die aus vielen – darunter ganz klar feministischen – Gründen aus demselben Milieu geflohen ist. Fichte möchte glauben, dass weder sein Handeln, noch das von Leonore Mau ein künstlerisches ist. Es ist dokumentarisch, praktisch, journalistisch. Vor allem aber möchte er der Kultur der überwiegend armen Afroamerikaner eine andere als künstlerische Rolle geben. Erst als er in den USA seine Meinung ändert, nicht zuletzt durch den Einfluss des afroamerikanischen Malers und Kunsttheoretikers Michael Chisolm, verändert das auch den Status der eigenen Arbeit. Es ist unglaublich zu hören, wie ein protestantisch geprägter Norddeutscher – trotz aller Befreiungsversuche und Libertinagen – wie Hubert Fichte sich noch selbst davon überzeugen muss, dass die Nichteuropäer nicht in erster Linie nur die Armen, die Verdammten der Erde sind. Wie patronisierend trotz seiner ehrlichen Beeindruckung das mitunter noch 1980 klingt:
Afroamerika:
Die Hungernden im Nordosten Brasiliens, die Epidemien auf Haiti, die Arbeitslosen von Trinidad, die Junkies von Bronx – ist es nicht zynisch von Kultur zu reden?
Nein
Es wäre zynisch, nicht von Kultur zu reden
Denn was ist das für eine Menschlichkeit, die den Massen der dritten Welt nichts anderes zubilligt als Fabrikanlagen, Milchpulver, Dolmetscherkurse und abgelegte Freizeitkleidung – wenn wir die Grazie der Afroamerikaner verleugnen, ihre Eleganz, ihre barocken Sprachen, die Wirksamkeit ihrer Therapien und die Gewalt ihrer Religion?
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, bemerkte ein spätbürgerlicher Dramatiker [gemeint ist Bertolt Brecht, Anm. d. A.], der im Krieg für Hollywood ein Drehbuch verfaßte; die Afroamerikaner geben uns eine diffizilere Lektion – daß ihre Strukturen fähig sind, die Gierigkeit des Kapitalismus zu durchdringen und zu überwinden.9
In dem Moment, wo er der Kunst, insbesondere einer weder westlich hochkulturell noch protestantisch-sozialarbeiterisch nur dokumentarisch-journalistisch gedachten Kunst, einen anderen Rang einräumt, ja, ihr gar zutraut, den Kapitalismus zu überwinden, in dem Moment kommt der bildenden Kunst als Potenzial eine andere Funktion zu: In der Schwarzen Stadt spielt er das durch. Kurze Zeit später aber, nach einigen weiteren Afrikareisen, erscheinen ihm diese Chancen wieder als untrennbar mit den afrikanischen und afroamerikanischen Kulturen verbunden – die er mehr oder weniger als eine Einheit denkt, als Einheit einer einzigen “surrealisischen Revolution”. In einem seiner letzten Interviews erklärt Fichte der Herausgeberin der Geschichte der Empfindlichkeit Gisela Lindemann dies so:
Vielleicht sollte man noch etwas sagen über den Grundgedanken. Hier steht unter dem Titel die Geschichte der Empfindsamkeit [sic!]„Es ist ganz einfach: ich wollte immer schwarz sein, Jäcki scheitert, Irma wird schwarz.“10
Und dabei scheint es sich um einen Teil des Plot-Plans der Geschichte zu handeln, die damals noch anders hieß. Es gibt aber noch eine andere Erklärung. Irma, also Leonore Mau macht 1980 in Harlem tatsächlich eine Fotoausstellung, erzählt Fichte im selben Interview. Diese Ausstellung, organisiert im Übrigen von der Black Emergency Cultural Coalition (gegründet aus Empörung u.a. über den Missbrauch der Fotos von James Van Der Zee in der 1968er Ausstellung Harlem On My Mind) zeigt Bilder afroamerikanischer Praktiken. Und das Publikum in Harlem, das die Fotografin nicht sieht, das keine Texte lesen muss, die aus einer anderen Sprache übersetzt sind, schaut diese Bilder, die in New York entstanden sind, aber zum Beispiel von haitianischen Praktiken handeln, nicht so an, als wären sie von einer Ethnologin oder Journalistin gemacht worden, sondern von einer Künstlerin, die für die schwarzen Betrachter*innen in Harlem auch ganz selbstverständlich als Schwarz gilt. An einen solchen Universalismus der Kunst konnte Fichte also mitten in einem Projekt, das den westlichen Universalismus infrage stellt, plötzlich wieder glauben. Dass Irma bzw. Leonore Mau hierzu einen entscheidenden Beitrag geleistet hat, steht außer Frage: Genau wie der von Fichte so geliebte, und dennoch (oder deswegen) zum Kollektivsingular zusammengefassten “Afroamerikaner” wird natürlich auch sie zum Gegenstand von Fichtes Projektionen.