Morrisseys Lieblingsband – aber da gibt es noch mehr zu sagen. Z. B. wie aus Schweigen und Exorzismus eine schöne neue Musik entsteht. Oder wie Tim Booth unter Schmerzen ein Monster gebar. Aus Manchester, vom Ende der Welt (da wo die Sänger auf dem Kopf stehen), berichtet Diedrich Diederichsen.
Es gilt die Band des Jahres anzupreisen (meine ehrliche Überzeugung!), und ich bin in Manchester (ha!) (Wo sonst?), und der Sänger der besten Band des Jahres steht auf dem Kopf, an so ein seltsames, drehbares Heimtrainer-Gerät angeschnallt: „Es ist gut für den Halswirbel, den ganzen Tag muß er den Kopf tragen, so kann er einmal ausruhen.“ Normalerweise darf ein Nick-Cave-Fan so etwas nicht ungestraft sagen. Er muß doch wissen, daß der faule Witz über den zu schweren Kopf des Poeten hier unmittelbar auf dem Fuße folgt (aber der Fuß ist ja in der Luft!).
Ja, warum ist James für dieses Jahr das, was The Jesus And Mary Chain und Prefab Sprout für das letzte waren? Wer bin ich, Ihnen das zu sagen!
So wie The Jesus And Mary Chain das Turner-Bild der Pop-Musik sind (also die Sichtbarmachung der Tatsache, daß Tiefe durch einen äußerlichen Trick entsteht, wie es Per Kirkeby in seinem Aufsatz für den Katalog der Eröffnungsausstellung des Museums Ludwig anhand von Turner so schön bewiesen hat), also der Anfang der ersten wahren Moderne dieser zutiefst im 19. Jahrhundert verwurzelten Kunstform Pop-Musik, so wie Prefab Sprout die größtmögliche Verfeinerung der alten Form und damit zwangsläufig ebenfalls den Beginn der Moderne darstellen, so sind James das erste Beispiel einer neuen Methode, eine Pop-Musik herzustellen, die in einem exorzistischen Prozeß alle vorgegebenen Bedeutungen und Anspielungen aus den sie zusammensetzenden Elementen herausgebrannt hat. Wodurch auch sie wirklich neu klingen. Wozu, wie zu zeigen sein wird, die gute Mischung aus Fanatismus, Naivität und Aufrichtigkeit gehört.
Mach’ ihn fertig
Ich muß bei der Kunst bleiben: James machen zunächst fein vertüftelte Zeichnungen in Formaten und mit Materialien, an denen nichts Besonderes ist. Und nebenbei verwenden sie zwar das lang vergessene Stilmittel der „intelligenten Stimme“, das ich nur von Van Dyke Parks und Robin Williamson kenne und das feine, weiche, leise Stimmen meint, die sich ganz besonders schön anhören, wenn sie singen, was sie nicht singen sollten: Gröhl-Chöre, beschwörende Bässe, luftige Höhen, aber immer davonkommen mit ihren besserwisserischen Kehlköpfen. Und wenn Williamson bei frühen Incredible-String-Band-Platten z. B. versucht zu singen wie der Minotaurus, dann ist das sehr ähnlich Tim Boothes Momenten echter Verlorenheit in den Grüften der „Black Hole“. Aber auch die intelligente Stimme wie eben alles hört sich hier an, als hätte es noch nie abstrakte Zeichnungen gegeben, wie die Erfindung des Krickelkrakel.
Tim Booth stammt aus einem Mittelklassehaushalt der legendär-versponnen-armen Grafschaft Yorkshire und ist 26, James Glennie (Baß) und Gavan Wheelan (Schlagzeug) sind vier Jahre jüngere Lads aus Manchester, die behaupten, bei der Gruppengründung vor vier Jahren noch nicht sprechen haben zu können. Der 29-jährige James Gott ist später hinzugestoßen, nachdem sich sein Vorgänger zum Problem entwickelt hatte. Als man sich kennenlernte, hat man ein Jahr lang nur gespielt und nie miteinander gesprochen (ging nicht!): brachiale, wütende, wilde Sessions. Erst einmal haben sich alle gegenseitig umgebracht mit ihren Instrumenten, um dann die Waffen auch noch gegen sich selbst zu richten. Wenn einer einen anderen bei einem Zitat erwischte oder auch nur bei einem Anklang an etwas Bekanntes: Gib ihm Saures! Leg Lärm auf das Klischee! Mach ihn fertig, den sauberen Saftsack!
So ging es eine Weile. Dann sah man sich erschöpft an und wollte aus den Exorzismen Songs machen. Wieder wurde (ohne zu sprechen, alle Kommunikation lief musikalisch, da draußen in Manchester am Rande der Welt) gnadenlos alles Erkennbare, Identifizierbare ausgemerzt, dem geilen Phantasma des Eigenen hintergejagt, voll kindlicher Größe. Tim: „Schließlich waren wir uns sicher, alles Fremde vernichtet zu haben, und schrieben eigene Songs. Doch plötzlich merkten wir, daß es alte Kinderlieder waren, Weihnachtslieder und Nationalhymnen. Wir waren mit unserer Vernichtungs-Arbeit plötzlich bei unserer Kindheit angelangt.“
Helfend kam die Realität dazwischen in Form erster Touren, darunter einer mit The Smiths, die dazu beigetragen hat, der Band das eine der beiden Klischees einzutragen, gegen das sie heute noch kämpfen: „Morrisseys Lieblingsgruppe“. Das andere heißt „Vegetarier“: „Ich esse kein Fleisch, zufälligerweise, deswegen würde ich mich doch nicht Vegetarier nennen, ich definiere mich doch nicht über meine Eßgewohnheiten“, sagt Tim, wortreich, inzwischen von dem Heimtrainer herabgestiegen, mit der leicht effeminierten Eindringlichkeit des britischen Narzißten: „Ich würde mich auch nicht ‚homosexuell‘ nennen, oder am Ende gar ‚heterosexuell‘, ich bin ja schließlich auch nicht meine Sexualität.“ Seltsamerweise erinnert er mich genau in diesem Moment an Boy George. Ich heiße Diedrich, ich bin Alkoholiker.
Frankensteins Monster
Während dieser Tour wurde dann plötzlich gesprochen. Differenzen in allen wesentlichen Fragen zwischen Politik, Religion und Musik entstanden, der Ausmerzungskampf im Dienste der Erneuerung verlagerte sich auf die diskursive Ebene. Vor allem Gavan nimmt grundsätzlich den politisch radikalen Standpunkt ein, während Tim sich seine poetisch-eigenen leicht versonnenen Gedanken macht. (Jetzt erinnert er mich an Moritz Rrr.) Ein Veto-System beginnt die inneren Kämpfe zu regeln, erste Übereinkünfte werden erzielt. Gavan würde den Miners-Streik lieber bedingungslos unterstützt haben, Tim rechnet Scargill taktische Fehler vor: „Man macht einen Kohle-Streik doch nicht im Frühjahr, wenn kein Mensch Kohle braucht.“ Gavan: „Die Regierung hat ihn dazu gezwungen.“ Tim: „Wenn man England für ein Anliegen gewinnen will, muß man Kompromisse machen, wenn man als Mohawk-Punk demonstriert, darf man sich nicht wundern, wenn die Mehrheit verschreckt ist!“ Gavan: „Man darf keine Kompromisse machen, man muß die Mehrheit zu sich herüberziehen, das ist doch genau wie in der Musik, du würdest doch unsere Musik nicht verändern wollen, um in die Charts zu kommen.“ Tim: „Wer weiß? Unsere Musik nicht, aber vielleicht sollten wir uns ein nettes Image ausdenken und nur in Leder auftreten.“ Ich: „Kleidung und Image ist wieder eine Kunst für sich, die nicht jeder beherrscht, seid doch froh, daß ihr die Musik erst mal bezwungen habt. Macht doch keine dummen Witze, Kinder!“ (Dabei liebe ich dumme Witze!) Alle: „Das wäre kein dummer Witz. Das würde passen, wir sind live eine düstere Band, wir machen zuweilen reine Lärm-Sets, wir können Heavy-Metal spielen.“ Und so weiter.
Auf den Touren ging das weiter, was sprachlos begonnen wurde: alle eventuell erkennbaren, nachvollziehbaren Individualitäten der einzelnen Instrumente, alle Stellen, die zu viel über Traditionen, Herkunft und Werdegang verraten hätten, wurden nun wegdiskutiert: Das Monster James sollte außerhalb der nichtigen Individuen, die es geschaffen haben, wachsen, wirken und Landstriche der Häßlichkeit verwüsten: „Wir hätten uns auch Frankensteins Monster nennen können, aber unser früherer Gitarrist wollte, daß wir uns nach einem Gruppenmitglied benennen. ‚Tim‘ kam nicht in Frage, weil es dann die Band des Sängers gewesen wäre. ‚Gavan‘ nicht, weil man es dann für Heavy-Metal gehalten hätte, er selber war zu bescheiden, also haben wir uns nach Jim hier benannt, unserem Bassisten, es ist seine Band.“
Hammerklausur
Man unterhielt sich nächtelang auf diesen Touren und lernte zu formulieren, was man schon länger wußte. Worum geht es bei James? „Um unsere Beziehungen untereinander, um die Vertiefung unserer Beziehungen, darum, uns immer besser kennenzulernen.“ Aufgehen im Monster eben. Das Publikum brauchen sie dazu ganz im Sinne der Pete-Townshend-Auffassung, daß ein Rock-Konzert ein Scharmützel ist, die Band ein Kommando und die Verhältnisse innerhalb der Band die von Kriegskameraden, ein Bonmot dies, das James begeistert aufnehmen: „Klar, wir stehen an der Front!“
Ja, aber das stehen alle Bands, dieses Gefühl, etwas Neuerfundenes vor sich zu haben, geben mir die anderen aber nicht, dieses beständige Ausweichen vor der Häßlichkeit, das in Wahrheit kein Ausweichen, sondern ein Überrennen ist: „So many traps have been laid / how can you avoid one“, singt Tim in „So Many Ways“. Und die Antwort ist ganz klar, du kannst dich um Häßlichkeiten nicht ewig panisch herumspielen, herumkomponieren, um nicht zu sagen herumdrücken (Wir sind ja nicht bei den Woodentops!); wenn man soweit gegangen ist, seine arbiträren Vorlieben bis auf den Grund der Kindergarten-Prägung vernichtet zu haben, kann man als Otto-Mühl-mäßig Neugeborener ALLES machen, und alles kommt frisch und neugeboren aus der psychodynamischen Hammerklausur herausgekrochen (inwieweit auch dies eine Falle ist, dürfte sich später herausstellen. Gedanklich ist es zwar unhaltbar, bzw. es ist vollkommen undenkbar, zu glauben, man könnte sich aus der Kulturgeschichte herausstehlen, aber dann wieder nicht: denn hier geht es ja nur darum, den persönlichen Ekel vor den bekannten Elementen auszumerzen, die Verwurstung der Elemente der Musik mit den Elementen des eigenen Lebens, die stumpfe innere Assoziationsmaschine zu töten, die in den scheinbar naturgegebenen konventionellen Zusammenhängen der Elemente steckt, um sie so frisch und anders zusammensetzen zu können. Wie anders könnte man übrigens fanatisch und naiv definieren? Zu glauben, das ein Gitarrenschrummschrumm und eine durch die Oktaven sausende Stimme etwas anderes bedeuten könnte plötzlich und damit auch noch recht zu haben. Da ist er wieder: der Trick, der Tiefe entstehen läßt. Und wenn der Trick Gruppendynamik heißt).
Obwohl alles Produzierte zunächst häßlich ist, Produzieren immer die reine Häßlichkeit und Peinlichkeit, sich hervorwagen und so tun, als wäre es diesmal ausnahmsweise nicht häßlich. Aber nicht so billig à la Kann-man-wieder-machen, sondern mit einer Begründung (dem Exorzismus), der als Begründung theoretisch nicht reicht, aber das Billige verhindert und somit subjektiv für die Band funktioniert und dadurch auch zum objektiven Gelingen des Kunstwerks beiträgt: Genug gesagt?
Lob der Krähe
Ja, es gibt eine Ausnahme vom radikalgesamtdemokratischen Veto-System bei James, nämlich natürlich die Texte, also Sänger Tim, der eben doch am meisten sagt und der mir zum Beispiel „Scarecrow“ erklärt: „Crow war der Spitzname von Patti Smith, und die hat einmal gesagt, daß sie mit der Musik die Barrieren zwischen den Nationen vernichten wolle, und das war mir suspekt, also sie hat da sozusagen ein spirituelles mit einem Ego-Anliegen verwechselt, obwohl es mehr ein Witz ist, daß ich singe, ‚Don’t Mix Your Ego With Your Soul‘“. Ein typisch amerikanisches Anliegen, Weltherrschaft durch Rock’n’Roll. „Na ja, jeder bekiffte Künstler könnte so was sagen!“ Unnötig zu sagen, daß Produzent Lenny Kaye diesen Text geliebt hat, zumal die Patti Smith Band in dem Lied ein besonderes Lob abbekommt.
Genie und Gesundheit
Das ist ein supernettes Dilemma von Tim (eigentlich ist es gar keines). Er liebt die großen ausgemergelten Poeten, liebt Patti Smith, Iggy Pop, Nick Cave: „Aber ihr Lebensstil, grauenhaft!“ Das Wort Junkie spricht er nachgerade pikiert aus, nichts läge ihm ferner. Und schön auch, daß er Patti Smith verehrt, wie diese Bob Dylan verehrt, wie der Rimbaud verehrt, im Gegensatz aber zu Patti Smith, die daraufhin ihrerseits Rimbaud las und wieder einmal für eine Generation von Ami-Dichtern die Verantwortung trägt, die unsanft mit europäischem Erbe umgehen, nie eine Zeile Rimbaud in die Hände nahm. Er singt über „Johnny Yen“, weiß, daß dieser ein Burroughs-Charakter ist, kennt aber nur den Song von Iggy Pop, will nichts wissen von den Ursprüngen der Mythologie („Gedichte? Furchtbar langweiliges Zeug“), als Sänger der Band der Zukunft will er seine eigene unbelastete Mythologie schreiben, für diejenigen, die dann Patti Smith nur vom Hörensagen aus den Worten des großen Timothy Booth kennen und unter denen es einige Beflissene geben wird, die sich antiquarisch „Babel“ besorgen. Vielleicht.
Es ist Timothys Hauptproblem, daß er so gesund und klar und selbstverliebt ist und nie in die Nähe einer ausmergelnden Laufbahn geriete, aber andererseits diese tragischen Dichter so verehrt und irgendwie und ohne das zu sagen, ein niedliches Schuldgefühl hat, weil er so untragisch ist. Man kennt das ja: Kann ich ein Genie sein, ohne den Tod zu meinen täglichen Trinkgenossen zu zählen? Was bin ich wert, der sich mir Satan noch nie persönlich vorgestellt hat? Ich wär gern Faust, aber Mephisto doesn’t live here anymore.
Tim Booth passierte in seiner Jugend folgendes: Sein Vater lag im Sterben. Qual, Streß, Pubertät. Tim geht entnervt auf sein Zimmer, spielt die Cassette, die gerade im Recorder liegt, und Patti Smith singt ausgerechnet das lange, elegische „Birdland“, das mit den Zeilen beginnt: „As father died …“, um dann lange in Begräbniseindrücken zu schwelgen. Das war seine Initiation. Heute träumt er solche Sachen: „Ich seh all die Bilder meiner Helden, du kannst dir vorstellen, welche. Einige sind schon tot. Und eine Frau kommt zu mir und gibt mir einen Becher. Sie sagt: ‚Das ist das Gift, das alle großen Künstler zu sich nehmen müssen.‘ Und ich trinke es, und plötzlich wird mir klar, daß der Preis ist, daß ich so aussehen werde, wie diese Helden von mir, krank, zusammengeschrumpelt, eingefallen, und ich flehe die Frau an: ‚Nein, ich will nicht. Mach die Sache rückgängig!‘ Und sie: ‚Jetzt ist es zu spät.‘ Und, ich kriege die Panik. Da lenkt sie ein und öffnet meinen Mund mit einer riesigen Kneifzange und langt ganz tief in den Rachen und holt ein riesiges glitschiges Ding da raus, kindskopfgroß. So schnell hatte das Gift schon gewirkt … Später sah ich in dem Traum noch einmal alle meine Helden, und sie sahen so schrecklich aus …“
Und das glitschige Ding war natürlich nichts anderes als der Embryo des Monsters James, der kleine pränatale James, der inzwischen längst geboren ist und läuft und kreischt und spuckt wie ein kleiner Punk-Rocker. Das neue Kind. Die Zukunft, James eben, der kleine ausgetriebene Teufel, der Kleine von Mephisto.
„Trink mich?“
Schließlich haben wir uns ausgesprochen, ich meine Sachen zusammengepackt und der French-Horn-Spieler ist angekommen, mit dem dann, wie ich höre, als ich vor dem Übungsraum auf das Taxi warte, gnadenloser Mantra-Jazz zusammengejammt wird. Was ist Kommunismus anderes, als daß jeder Faust sein darf, denke ich mal wieder, während das French Horn seine rätselhaften Schleifen zieht. Die Schwäne sterben in den Flüssen, aber die Enten werden von Tag zu Tag schöner.



