1942 wurden an zwei verschiedenen Stellen des Erdballs im Zeichen des Wassermanns zwei Menschen geboren, deren Zusammentreffen, 24 Jahre später, zur Entstehung der besten Rock-Band aller Zeiten führte. Der eine wurde in Brooklyn geboren, über ihn ist viel geschrieben worden, der andere in Swansea, Wales. Über ihn wurde zu wenig geschrieben.
Die Band ist Velvet Underground, der eine ist Lou Reed, der andere John Cale.
Sein Vater war Bergmann. Die Kindheit hat vielleicht ausgesehen wie in „How Green Was My Valley“, aber eher anders. John Cale wurde Musikstudent in London und kam über ein Leonard-Bernstein-Stipendium in die USA, wo er Juli 1963 ein Studium in Komposition begann. Oktober 1963 hatte er dieses Studium schon wieder beendet. Pianist Cale spielte seine spitze, schrille Viola, die später den frühen Velvet-Sound prägte, in einem Ensemble des berühmten Minimalismus-Komponisten LaMonte Young. Und als John Cage (vielleicht der wichtigste Komponist dieses Jahrhunderts, vielleicht auch nicht) das bislang als unaufführbar verschrieene Werk „Vexations“ (Gesamtlänge 38 Stunden) von Erik Satie von elf umschichtig arbeitenden Pianisten aufführen ließ, war John Cale darunter.
Lou Reed erwarb sich Geld mit seiner Arbeit als Haus-Songwriter beim Pickwick-Label, viele Songs wurden auch von ihm unter wechselnden Gruppennamen aufgenommen, wovon „The Ostrich“ noch der bekannteste ist. Eine dieser kurzlebigen Bands hieß The Primitives und ihre Songs trugen, sofern sie in Coverversionen (etwa „Why Don’t You Smile Now“ bei den Crawdaddys oder Downliner Sect) oder als Bootleg-Wiederveröffentlichungen auftauchten, Cale und Reed als Komponistenangaben. In unserem Gespräch in Paris bestritt John Cale allerdings, je bei den Primitives gespielt zu haben. Die erste Velvet-Underground-Besetzung kam jedenfalls Ende 1965 zusammen, in einer Zeit also, wo noch nicht einmal Psychedelia zu ahnen war. Cale und Reed verband eine gegenseitige Faszination, die Sterling Morrison so beschrieb: „Lou sah in John Europa, die klassische Kompositionsschule, John in Lou die New Yorker Bohemia.“ Cale spielte Baß und Viola, Reed und Morrison machten sich über die Gitarren her und ein gewisser Angus MacLise, der 1979 in Nepal verhungerte, war der erste Schlagzeuger, der sich jedoch weigerte, für Geld zu spiden, und daher bald durch die erste und beste Rock-Schlagzeugerin Maureen „Mo“ Tucker ersetzt wurde. Andy Warhol kaufte die Band für seine „Plastic Inevitable Show“ und erfüllte sich damit seinen Traum, eine Rockband zu gründen. „Andy war der Katalysator, er hielt uns zusammen“, sagt John Cale, dessen Fights mit Lou Reed berühmt sind. „Er machte nie etwas falsch. Andy hatte immer recht, einfach immer. Er war der größte Einfluß meines Lebens“, sagt Sterling Morrison, der heute als wissenschaftlicher Assistent arbeitet und an seiner Promotion in Literaturwissenschaft sitzt. „Sie haben immer nur laut gespielt. Und sie trugen schwarz. Maureen trug schwarz und John trug schwarz und überhaupt alle“, sagt Andy Warhol. Warhol brachte die deutsche Schauspiderin Christa Päffgen, bekannt als Nico, in die Band, weil sie besser in sein Superstar-Konzept paßte. Aber es gab kaum Songs, die Nico singen konnte. Die waren schließlich von und für Lou Reed geschrieben, und Nicos Beitrag zu Velvet Underground war weniger wichtig als ihre späteren Taten. Für „I’ll Be Your Mirror“ hat man sie gequält mit Retakes bis sie heulte, ihre fantastische Interpretation auf der LP ist das Ergebnis des letzten Takes mit einer am Boden zerstörten Nico. Sie war mal John Cale’s und mal Lou Reeds Freundin und irgendwann verließ sie die Band.
Zur Bühnenshow gehörte auch der Peitschentanz des von Warhol protegierten Poeten Gerard Malanga (wo ist er heute?), der u.a. schöne Gedichte über andere Leute schreiben konnte wie Umberto Nobile, Sharon Tate oder Dolores Garcia Lorca, die Nichte von Federico Garcia Lorca. Lou Reed schrieb den Song „Venus In Furs“, auf den Titel des berühmten Buchs „Venus im Pelz“ von Sacher-Masoch anspielend: „Shiny, shiny / shiny boots of leather“. Aber damals waren Räucherstäbchen mehr gefragt als neunschwänzige Katzen.
Die erste Platte hieß ANDY WARHOLS VELVET UNDERGROUND & NICO und gehört zu den schönsten, unvergänglichsten Platten der Musikgeschichte. Viele kennen sie und teilen meine Meinung, aber alle sollten es tun. Sie hält einen jener unwiderbringlichen Momente fest, wo unvereinbare Persönlichkeiten, kurz vor der Explosion ihrer krassen Individualitäten, die weitere Zusammenarbeit unmöglich machen werden, sich zusammengerauft haben. Cale hat laut Credits nur wenig mitkomponiert, den „Black Angels Death Song“ etwa, der Velvet Underground mal ein Spielverbot eintrug. Aber er besteht darauf, mehr mitgeschrieben zu haben, ebenso Sterling. Für den, der hinhört, sind die beiden ohnehin ständig präsent: Cale gar nicht mal so sehr mit der Viola, die damals sein spektakuläres Markenzeichen war, sondern vor allem sein Baßspiel oder auf der zweiten Platte, WHITE LIGHT WHITE HEAT Orgel- und Gitarreneinlagen.
Bei WHITE LIGHT WHITE HEAT war Velvet schon auseinandergebrochen. Das berühmteste Stück der Platte, das siebzehnminütige „Sister Ray“ wurde in einem Stück aufgenommen und vorher hieß es: Jetzt muß jeder einbringen, was er noch zu dieser Platte beizutragen hat und alle brachen aus, versuchten sich in den Vordergrund zu spielen. Kurz nach den Aufnahmen zu dieser Platte rief Lou Reed Mo Tucker und Sterling Morrison an und stellte sie vor die Wahl: Er oder ich. Er war John Cale und sie entschieden sich „zähneknirschend“ (Sterling, Morrison) gegen ihn und er stand auf der Straße.
1981: Wieder auf der Straße, John Cale und ich, Idol und Fan. Eben hab’ ich ihm in der Garderobe die Hand geschüttelt. Zusammen mit seinem Manager schlendern wir von der Konzerthalle zum viertklassigen Hotel. In der Garderobe fragten ihn sein junger vitaler Gitarrist Stuart Nikides, ob man nicht zusammen noch etwas Fun haben wolle. „Nein, ich mach’ das Interview und geh dann ins Bett!“ – „Wieso?“ – „Ich bin alt!“ 48Stunden haben Cale und die Band angeblich nicht geschlafen, zeitverschiebungsbedingt. Das Konzert stand im Zeichen eines zeitlos-gewaltigen Hardrock-Stil, der SABOTAGE-LP vergleichbar, das Repertoire bestand aus Titeln von HONI SOIT und SABOTAGE, sowie den programmatischen „Dirtyass Rock’n’Roll“ und „Guts“ von SLOW DAZZLE: „Shot my wife, did it quick … the ancient teenage dream / from soul to poison, soul to poison, soul to poison / Guts, guts, got no guts…“ So was verweist die ganze modische Rockscheiße, die lieb gemeinten Produkte netter junger Leute wie du und ich, in die Zone rettungsloser Mittelmäßigkeit. Vielleicht ist mein Stray-Cats-Bericht auch deshalb so wenig enthusiastisch ausgefallen, weil ich einen Tag vorher diese Urgewalt, diese Größe erlebt habe. Und John Cale trägt noch immer schwarz.
Er bittet die bescheidene Hotel-Lobby, in der wir sitzen, zu verdunkeln, deckt sich mit „Heineken“ ein, läßt die Fenster öffnen, nimmt die Sonnenbrille ab: „Ja es war hart für mich damals. Ein Sideman für Lou Reed zu sein ist nicht gerade die Arbeit, die dir viel Vertrauen in deine Fähigkeiten einflößt, ich war sehr unsicher und verwirrt, als ich die Band verließ.“ Die Band macht ohne ihn noch zwei sehr gute Lou Reed Solo-Platten (VELVET UNDERGROUND und LOADED) und eine schwächere ohne Lou Reed und ohne Sterling Morrison (SQUEEZE), Nico spielte ungefähr gleichzeitig mit WHITE LIGHT WHITE HEAT ein Solo-Album mit Songs von Lou Reed, Aron Copland, Jackson Browne und John Cale ein (CHELSEA GIRL) und im Herbst 1968 fand sie sich ähnlich ratlos, aber kreativ und hatte ein paar eigene Songs ersonnen. Pessimistisch-pathetisches Zeug, das unheimlich spröde geraten wäre, wenn nicht John Cale die Songs arrangiert und alle Instrumente gespielt hätte. Lester Bangs feierte die Platte mal als wichtigste der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, sie heißt MARBLE INDEX. Und in der Tat war sie, jenseits von Klassik-Rock, der erste in einer Reihe von Versuchen Cales, seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Kompositionstechnik in der Rockmusik anzuwenden. Bei Nicos gläsernem, fragilem und extrem todessüchtigem Gesang war der Weg nicht so weit. „Ich war damals sehr glücklich über MARBLE INDEX, ich hab’ in vier Tagen die Arrangements geschrieben, aufgenommen und gemixt. Das gab mir Selbstbewußtsein und ich bekam von Elektra weitere Angebote zu produzieren.“ Was würdest du über die Platte denken, wenn du nicht an ihr beteiligt wärest und sie heute hören würdest? „Ich würde sagen: Das ist ein guter geschulter Komponist, der dahintersteckt, er solle nicht mit Rock’n’Roll ’rummachen.“ Denkst du das auch über andere Teile deines Werkes? „Nahezu über alles, ich hasse Rock’n’Roll“.
Von Terry Riley bis Genscher
MARBLE INDEX und die 1971 ebenfalls von Cale und Nico gemachte Platte DESERTSHORE sind ungefähr das, was Public Image zur Zeit zu wollen scheinen, aber nicht ganz schaffen, da ihnen ein John Cale als Produzent und Arrangeur fehlt. Nach MARBLE INDEX bot man ihm die Produktion von einem weiteren schwierigen Projekt an, das bei Elektra anstand: The Stooges, eine damals unbekannte Band aus Detroit sollte ihre erste Platte aufnehmen. Cale war wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt der einzige Produzent auf dem Erdball, der das Wagnis einging und die Sensibilität aufbrachte, ein wahres, echtes, rauhes, kaputtes, zuweilen dumpfes, manchmal hysterisches, in jedem Fall zutiefst bewegendes Punk-Rock-Album richtig aufzunehmen. Cale hatte ja entsprechende Erfahrungen mit Produzenten, die sich bei seiner Viola die Ohren zuhielten, hinter sich und so kam es, das er nicht nur an der ersten Avantgarde-Bohemia-Art-Rock-Platte, sondern auch an der ersten wichtigen proletarischen Straßenpunk-Platte beteiligt war. Bei dem psychedelischen „We will fall“ ist sogar seine Viola dabei.
Eine Menge Produzenten-Jobs sollten folgen, John Cale wurde Hausproduzent bei Elektra, später Warner-Reprise und siedelte an die Westküste. Er arbeitete auch als Artist & Repertoire-Manager, also als eine Art Talentscout. Sein wichtigster Fund erschien 1972 allerdings nicht als er ihn produzierte, sondern vier Jahre später auf Beserkeley: Jonathan Richman mit der ersten Besetzung der Modern Lovers, u.a mit dem heutigen Talking-Heads-Mitglied Jerry Harrison. In einer Zeit, wo es so viel Ersatz-Velvet Underground-Bands gibt und diese Bands offensichtlich auch auf öffentliches Interesse stoßen, gibt es eigentlich genug Gründe, diese Modern Lovers-Platte aus den Grabbelkisten zu holen und zuzuhören, wie Jonathan Richman, der eine Zeitlang den Velvets nachreiste, Lou Reed spielt, dem er früher Gedichte widmete, wie Jerry Harrison John Cale spielt und der echte John Cale sitzt hinter der Glaswand und lächelt hinter den dunklen Sonnengläsern.
Vorher hatte er schon mal selber eine Solo-LP hergestellt VINTAGE VIOLENCE, die trotz des Titels die einzige Cale-LP ist, die nichts mit Violence zu tun hat.
„Nachdem ich MARBLE INDEX gemacht hatte, war zwar mein Selbstbewußtsein wiederhergestellt, bezüglich der Techniken und Fähigkeiten, die ich mir vor der Velvet-Phase angeeignet hatte, aber ich wußte immer noch nicht, ob ich einen Song schreiben konnte. Ich war sehr unsicher, versuchte vieles und nahm alles auf, was ich machte. Irgendwann entstand „Andalucia“ (der Song ist auf PARIS 1919) und da wußte ich, daß ich es konnte. Es war genau das, was ich mir als eine Weiterentwicklung von Velvet Underground vorgestellt hätte.“
VINTAGE VIOLENCE ist eine sehr ruhige, freundliche Song-Collection, die Cales Talent für melancholisch-schöne Songs noch etwas im Country-Rock-Arrangement versteckt, für das wohl wesentlich Garland Jeffreys Gruppe Grinderswitch verantwortlich war, die eilig als Begleitband rekrutiert worden war. Und Garland Jeffreys hat sogar einen Song zu VINTAGE VIOLENCE beigesteuert.
„Schreibt an CBS, daß sie diese Platte auch hier veröffentlichen“, schrieb SOUNDS 1971 über Cales nächstes Projekt, eine Kollaboration mit einer anderen Figur aus Cales New-York-Avantgarde-Komponisten-Vergangenheit, Terry Riley. Das Prinzip der Platte nimmt vieles von dem vorweg, was gerade heute die Enos und Fripps dieser Erde beschäftigt: Monoton geformte endlose Instrumental-Musik; Steigerung, Entwicklungen, Prozesse entstehen in den kleinen Zwischenräumen, Gefühle für Nuancen werden entwickelt, aber auch vorausgesetzt. Cale und Riley benutzen, aber entgegen den anderen populären Werken Rileys, A RAINBOW IN CURVED AIR etwa, vorwiegend konventionelle Instrumente, deren prägendstes das fremdartig in den Minimalismus reingespielte Rock-Schlagzeug ist. In der gleichen Richtung, aber etwas weniger überzeugend versuchte Cale bei ACADEMY IN PERIL (1972) die Brücke zu seinen LaMonte Young-Jahren zu schlagen.
Der Schritt zurück zum Songschreiben, bzw. das konsequente Ausarbeiten von Ideen, die schon etwas älter waren, brachten dann 1973 das ultimative Cale-Album, dessen Bewertung als Meisterwerk so unterschiedliche Leute wie mich und „Zeit“-Kritiker Franz Schöler eint. PARIS 1919 ist typisch wallisische Kunst, wie Dylan Thomas oder die Young Marble Giants. Verregnet, aber mit einem klaren Blick. Melancholisch, traurig, aber nie aussichtslos. Sagen wir mal: die beste Kollektion romantischer Songs seit Schuberts „Winterreise“. Der Titelsong „Paris 1919“ war für mich immer eng an Proust-Lektüre geknüpft. Der junge Marcel nötigt die Hausangestellte Françoise Tag für Tag zu Spaziergängen auf die Champs-Elysée, um mit der jungen Gilberte Swann zu spielen: „She makes me so unsure of myself / standing there but never ever talking sense“ oder „The crowd begins complaining / how the Beaujolais is raining“. Ein anderer Song, „Graham Greene“, fängt diverse Stimmungen ein, die sich verwirrend über einem kunstvollen Reggae-Hintergrund abwechseln: „You’re having tea with Graham Greene / in a colored costume of your choice / … / You’re making small talk now with the queen / and the elegant ladys-in-waiting“ – verflossenes England. Dann Gegenwart. Enoch Powell ist ein rechtsradikaler britischer Politiker: „According to the latest scare /Mister Enoch Powell is a falling star“. Beim flüchtigen Aufnehmen des Textes drängen sich die verschiedensten Geschichten und Bilder auf, die auch beim genaueren Studium nicht eindeutiger werden, wenn auch konturiert bleiben. „Antarctica Starts Here“ könnte von Nico handeln: „The paranoid old movie queen sits ildly fully armed“ und steht irgendwo zwischen Billy Wilders Gloria Swanson in „Sunset Boulevard“ (Cale wäre ideal für die Rolle Erich von Stroheims als Diener Max, der früher der berühmte Regisseur des alternden Stars war) und Lou Reeds „New Age“: „Can I have your autograph / he said to the fat blonde actress!“ Nichts veranschaulicht die Unterschiede in der Mentalität Cales und Reeds so deutlich wie diese Bearbeitungen des gleichen Themas. Was Cale „Paranoid old movie queen“ nennt, also einen Bezug herstellt zur Vergangenheit der beschriebenen Person, nennt Lou Reed „fat, blonde actress“, also ganz bestimmt vom gegenwärtigen Erscheinungsbild. Im weiteren Verlauf des Textes macht sich Cale Gedanken über Wirkung und Geschichte der „Movie Queen“: „You see her every movie-night / the strong against the weak“, während sich Lou weiter für den Moment interessiert: „I came running to you / hey Baby if you want me“.
„PARIS 1919 ist über Sehnsüchte. Ich hab’ Proust nie gelesen, aber ich kann mir vorstellen, was du meinst. Diese Platte hat mit den Sehnsüchten nach anderen Zeiten und Umgebungen zu tun. Nostalgie eben. Ich bin wahrscheinlich nicht Realist genug, um Nostalgie für ein Gift zu halten.“ Begleitet wird Cale von Little Feat, was aber nur in einem Song, „Macbeth“, zu spüren ist. „Childs Christmas In Wales“ handelt von Kindheitserinnerungen, in die plötzlich ferne Städte eindringen: „Sebastopol, Adraianapolis“. „Half Past France“ war für mich die Agentenstory voller Graham-Greene-Atmosphäre und wenn du nachts im Zug fährst kannst du es vor dich hin singen: „I suppose I’m glad I’m on this train / and it’s long / somewhere between Dunquerke and Paris / Most people here are still asleep / I’m awake / looking out from here at / Half Past France.“ Einsamkeit und Größe: „Many mountains now are molehills / Back in Berlin they’re all well fed / I don’t care / People always bored me anyway / And from here on it’s got to be / a simple case of them or me“.
„Es ist die Geschichte eines deutschen Soldaten, der für die Russen in Norwegen spioniert hat und jetzt mit dem Zug durch Frankreich führt. Vielleicht auch ein Song über Rudolf Heß, der mich sehr interessiert.“
Nach PARIS 1919 verlor Cale seinen Job bei Warner/Reprise, für die er circa ein Dutzend Platten produziert hatte und ging zurück nach Europa. Er tourte u.a. mit Kevin Ayers, Nico und Eno, festgehalten auf der Live-LP JUNE, 1, 1974, und nahm bis 1975 drei LPs für Island auf. Alle mit einem gleichbleibenden Musikerstamm: Phil Manzanera, Eno, Archie Legatt, Pat Donaldson, Ollie Halsall, Chris Spedding. FEAR, SLOW DAZZLE und HELEN OF TROY hängen eng miteinander zusammen und präsentieren einen John Cale, der zu einem Stil gefunden hat. Grundlage sind seine herb-romantischen Melodien, abwechselnd mit bösartigem Hardrock, meist ökonomisch, sparsam arrangiert und produziert. Er ist ja ein Meister dieses Fachs. Zwar reicht keine der drei Planen an den Ausnahmestatus von PARIS 1919 heran, weil einfach mehr Wert auf Text und Melodie, als auf Abwechslung und Experiment mit der optimalen Umsetzung gelegt wurde, aber ein paar Lieder müssen nochmal hervorgehoben werden. „Fear is a Man’s Best Friend“, ein Titel, der ihm oft als Credo ausgelegt wurde und „You know more than I know“, das bitterste und schönste, was Cale je geschrieben hat. Beide von FEAR. Ebenso: „The Men Who Could’nt Afford To Orgy“, eine der ganz seltenen Äußerungen von John Cales humorvoller Seite: Berufsgruppen mit zölibatären Einschränkungen werden aufgezählt und bedauert, daß sie an einer Orgie nicht teilnehmen können, während Judy Nylon im Hintergrund eindeutige Aufforderungen haucht (Judy Nylon war lange Zeit Cales Protegé, gestaltete Cover und bildete mit Pat Palladin, die heute bei den Flying Lizards singt, das Duo Snatch, deren Singles Cale produzierte) und schließlich das lange „Gun“, frühes Anzeichen von John Cales späterer Besessenheit im Bereich Waffen, Kriege, Gewalt.
„Wieso? Es ist einfach nur eine Story, eine gesungene Kurzgeschichte, weiter nichts.“ Wer SLOW DAZZLE im Laden sieht, sollte „Ski Patrol“ anhören. Man sieht förmlich John Cale und seine Patrouille in eleganten Retttungsanzügen die verschneiten Berge runterwedeln und ein Lawinenopfer bergen. Seine gütige Seite. Die bösartige kann man in „Guts“ oder „Heartbreak Hotel“ studieren, die literarische im gesprochenen „The Jeweller“ und unbedingt kennen muß man die Hommage an die Beach Boys „Mr. Wilson“. Wo mit einem Satz gesagt wird, wie man die Beach Boys genießen und würdigen muß: „I believe you, Mr. Wilson! I believe you everything.“ HELEN OF TROY, wenn auch nur geringfügig schlechter, zeigt John Cale etwas gelangweilter mit den einmal gefundenen Formen und Musikern und hat überdies den Nachteil, daß seine großartige, bewegende Stimme hier nur klingt wie Jim Morrison.
Er zeigt Größe und verschwindet erstmal aus der Planenveröffentlichenden, etablierten Szene, nimmt zwei 12inchs für Illegal Records auf und beschränkt sich ansonsten auf Tourneen und Produktionen. Die Punk-Epoche zieht an ihm vorüber. Er produziert das Debüt-Album von Patti Smith, nach Jonathan Richman und den Stooges das dritte Mal, das er in einem Studio Velvet-Geist verbreitet. Ansonsten steht sein Name auf unzähligen Platten, darunter Marie Et Les Garcons, Modern Guy, Sham 69, Squeeze etc.
1977 tourt Cale auf dem Höhepunkt von Punk durch England und ist angewidert von den kleinen Fights und Gewalttätigkeiten in der Pogo-Meute. Er nimmt ein Huhn auf die Bühne und köpft es während des Auftritts, hält den Rumpf hoch und sagt: „Very dead chicken“ und „O.K., if you’re into violence, here’s some Haiti for you!“ …
1979 ist er mit einer anderen Botschaft auf den Bühnen Amerikas zu hören. Er hat inzwischen die amerikanische Staatsangehörigkeit erworben und konzentriert sich mehr auf amerikanisches Publikum, während er weiter als Produzent und A & R-Manager für A & M arbeitet. Es ist das Jahr der Afghanistan-Krise und der Restauration des amerikanischen Patriotismus und Imperialismus. Cales Song „Mercenaries“, der das 79er Live-Album SABOTAGE einleitet und in dem Chorus „Ready for war“, bzw. „Let’s go to Moscow!“ gipfelt, wird in nicht englischsprachigen Gegenden oft mißverstanden. In Wahrheit handelt er von der Verworfenheit und Niedertracht von bezahlten Söldnern, aber im Pariser Konzert habe ich den Eindruck, daß der eine oder andere mit anderen Gedanken mitbrüllte.
„Franzosen, heh? Die haben’s nötig. Weißt du wohin ihre Nuklearraketen gerichtet sind? Auf deutsche Ziele. Weißt du wohin die englischen gerichtet sind? Auf deutsche Ziele. Ihr sitzt ganz schön in der Mitte. Aber ich bewundere, wie ihr damit fertig werdet. Schmidt ist brillant, aber Genscher ist noch besser. Wie Genscher mit Haig umgegangen ist, war brillant, wunderbar. Nur Carter war noch besser, ein bewegliches Ziel, nie wußtest du, wo er gerade war. Seine Außenpolitik bot überhaupt keine Angriffsflächen. Mit Carter und Genscher würde ich mich sehr viel sicherer fühlen und Genscher paßt gut zu Rosalyn Carter.“
Der Höhepunkt des SABOTAGE-Sets paßte auch sehr gut in die Zeit, die Aufforderung zur totalen Verweigerung: „Whatever you read in books / leave it there … what a waste of paper!“ Dazu dreht die Band in einer atonalen Heavy-Metal-Orgie durch und der inzwischen verstorbene George Scon knallt einen Hackebeil-Baß dazwischen.
Seitdem hat Cale seine Band noch einmal gewechselt und mit völlig neuen Leuten das sehr inspirierte Studio-Album HONI SOIT aufgenommen, das sich ohne auch nur die Spur langweilig zu klingen, in der Tradition der Island-Alben bewegt. Kritik stand im letzten Heft. Warum hast du zwischen 68 und 74 deinen Stil so oft geändert, während doch zwischen HELEN OF TROY und HONI SOIT kaum Unterschiede bestehen?
„Das ist falsch. Der Unterschied zwischen HELEN OF TROY und HONI SOIT ist größer als zwichen VINTAGE VIOLENCE und PARIS 1919, und zwar textlich. Meine Texte haben sich völlig verändert. Ich konzentriere mich darauf, weil mich die Musik langweilt, ich will mich von der Musik absondern. Ein ironischer Schritt (murmel murmel). Ein musikalischer Hamlet … Hast du Verwandte in der DDR?“ Ein langes Gespräch über die DDR beginnt: Cale will alles wissen, auch warum wir nicht via Ostsee in Polen einmarschieren und ob die in Stettin stationierten Verbände der roten Armee uns daran hindern usw., er beginnt mich zu interviewen; Berufe meiner Eltern, was haben sie während des Krieges gemacht, waren sie Nazis, wie oft war ich in Ost-Berlin. „Ist nicht der geografische Umfang der DDR immer noch ein Ergebnis von Hitlers Ostpolitik, ich meine, gehören nicht immer noch Gebiete, die Hitler bei der Invasion Polens annektiert hat, zur DDR?“ Ich kläre ihn über die Geschehnisse nach dem zweiten Weltkrieg auf, das Potsdamer Abkommen, die Ostgebiete. Der Moskauer Vertrag ist ihm dann schon wieder bekannt und Brandts „Ostpolitik“ auch auf deutsch ein Begriff.
„Ich dachte ihr wäret imstande gewesen über die Ostsee in Polen einzumarschieren und die DDR vom Rest der Welt abzuschneiden, aber die Russen würden es nicht zulassen. Sie haben eine hohe militärische Intelligenz. Das letzte Mal, daß sie Sie benutzt haben, war 1968 bei der Invasion der CSSR. Das war eine klassische, wunderbare Invasion. Verstehst du, was ich meine. Es war vielleicht das letzte Mal in der Weltgeschichte, daß der klassische Coup d’Etat nach allen Regeln der Kunst praktiziert wurde. Besetzung der Radiostation, Entmachtung der amtierenden Regierung, Schließung der Grenzen etc. Das war einfach schön. Aber haben die Ostdeutschen eigentlich nennenswerte Rohstoffe?“ Außer Kohle weiß ich nichts. „Kohlen, das haben die Polen auch. Das ist doch nichts. Diese ganzen Länder, deren Währung nicht verfügbar ist! Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich mit Rubeln in der Tasche leben läßt.“
Hast du denn mal ostdeutsches Geld gesehen? Es sieht aus wie Monopoly-Geld. „Ja, ich kenne das, das ist lustig, du kriegst es, wenn du nach Ost-Berlin willst. Aber sie haben viele Spielsachen in der DDR. Sie haben Spielzeug-Eisenbahnen und sie haben diese altertümlichen Puzzle-Spiele aus festem dickem Holz. Ich liebe die. Aber alle Ostblockländer haben eine Spielzeug-Industrie. Guck dir Bulgarien oder Rumänien an. Fünf Kinder in jeder Familie. (…) Und Cartoons. Im Osten gibt es höchst seltsame Cartoons. Wie kanadische Filme. Kennst du kanadische Filme? Sehr intellektuelles, sehr durchdachtes Zeug.“
John Cale windet sich auf seinem Stuhl, man sieht ihm die 48-Stunden-Schlaflosigkeit an. Trotzdem springt er, überdreht von Thema zu Thema, ich komme kaum noch zu Wort. Wie Goebbels die amerikanische Filmindustrie beeinflußte und wie die deutsche Propaganda während des zweiten Weltkriegs die öffentliche Meinung in den USA gegen den Eintritt in den zweiten Weltkrieg beeinflußte, wann, warum und ob es einen atomaren Holocaust in Südafrika geben könne. Armeen werden hin und hergeschoben, aber: „Es gibt keine Entschuldigung, ein Militarist zu sein, die einzige Entschuldigung wäre der Tod oder eine religiöse und wer glaubt schon an den da oben?“(…) „Genscher als Vizepräsident hinter Carter, das wäre fantastisch“ – Denkst du manchmal an eine Weltregierung? – „Sicher, jeder, der schon mal im Weltraum war, könnte da mitmachen. Hast du ‚Space Shuttle‘ landen sehen? Es war wunderschön.“ Auf deiner letzten Plane HONI S0IT gibt es einen Text, der nicht abgedruckt ist, „Russian Roulette“, worum geht es da? „Um russisches Roulette. Wie du russisches Roulette spielen kannst ohne Waffen. Geistig.“ Und wer sind die „Black Communist Surgeons“, von denen da die Rede ist? „North Carolina hat ein Problem mit einer professionellen Elite-Gruppe, sehr gebildet, sehr gut erzogen. Schwarze Trotzkisten, die ihnen Ärger machen. Ärzte vor allem. Sehr interessante Leute. Bei einer Ku-Klux-Klan- Veranstaltung machten sie eine Gegenveranstaltung „Death to the Klan“ und es gab eine Schießerei. Sie gehören der „Socialist Workers Party“ an und es könnte sein, daß auch Hinckley dazugehörte, ich glaube die Geschichte nicht, daß er ein Nazi war.“ Meinst du, daß er bewußt gehandelt hat? „Was heißt schon bewußt, jeder von uns hat seine Datenbanken.“
Cale ist sehr müde, will schlafen. Schade es gibt noch so viele Fragen, aber die Zeit scheint abgelaufen. „Meine Zeit läuft.“ Und verschwindet im Fahrstuhl.




