Der Spiegel, das deutsche Nachrichtenmagazin, hat unlängst wieder etwas Interessantes herausgefunden, um nicht zu sagen, aufgedeckt: Der bekannte und inzwischen verstorbene deutsche Politiker Adolf Hitler soll ein Faschist gewesen sein. Die über diese Enthüllung empörte deutsche Öffentlichkeit zog nach, und forderte den Rücktritt des beliebten Redners. Dieser erklärte zwar noch ein paar Mal, daß ihn zu Lebzeiten begangene Sünden nicht mehr interessierten und er nur ein Mitläufer gewesen sei, mußte sich aber dann doch dem Druck der Öffentlichkeit beugen und seinen Hut nehmen.
Einen der psychedelischsten Momente der Fernsehgeschichte konnte man genießen, als Hanns Joachim Friedrichs seinen ehemaligen Chef, „Lehrer“ etc. Werner Höfer, nach dessen Demission in den Tagesthemen interviewte. Nachdem Höfer, altersweise oder senil (die einschlägigen, für diesen Unterschied zuständigen asiatischen Religionen machen da keinen Unterschied), ein paar entrückte Antworten auf Fragen nach eventuellen Gefühlen der Bitterkeit gegeben hatte, hielt er sein die ganze Zeit schon reklamemäßig demonstrativ hin und hergedrehtes Weinglas vor sein reifes, herbes Spätlesegesicht, ganz nahe vor die Kamera, daß man dies Gesicht nur noch durch die Brechungen des Glases und des edlen Tropfens darin sehen konnte, und verschwand in einem kosmischen Strudel verzerrter Wahrnehmung auf Nimmerwiedersehen aus dem Fernsehen. Er hatte so noch einmal triumphiert über die Schnödheit eines Mediums, in dem so viele, die über Jahrzehnte sein Gesicht prägten – wie Kriegsteilnehmer das des deutschen Lehrers – , so plötzlich sterben oder pensioniert werden, daß fast keiner mehr übrig geblieben ist, indem er den altenglischen Spruch „Old soldiers never die, they only fade away“ in unvergeßlichen Bildern inszenierte.
Daß sein gespreizter Mitläuferjournalismus formal (und damit logischerweise auch inhaltlich) nichts anderes war als die zu größtmöglicher Finesse entwickelte Kunst der Überleitung, die er im „Internationalen Frühschoppen“ praktizierte, daß ein einziger Satz von Dieter Kronzucker (etwa sein Wort vom „Versagen der amerikanischen Außenpolitik“ angesichts der Vertreibung des Somoza-Regimes) schlimmer sein und das Einverständnis mit mehr Verbrechen aussprechen kann als die gesamte Tätigkeit Höfers beim „12 Uhr Blatt“, soll hier nur am Rande als Selbstverständlichkeit vermerkt werden, wo es doch um die Frage gehen soll, wohin das deutsche Fernsehen steuert, das offensichtlich glaubt, sich in kürzester Zeit den Verlust Höfers, Kulenkampffs und Löwenthals leisten zu können, also von drei der vier Leute, wegen denen meine Großeltern sich seinerzeit ihren Loewe-Opta angeschafft hatten.
Die drei über Jahrzehnte dominierenden Grundrepräsentanten deutscher Gesinnung sind damit verschwunden, der verrückte, gallige Kommunistenfresser und Afghanistan-Freiwillige, der bigott-weinselig-kultivierte Leber und Lebenlasser mit Mitläufer-Vergangenheit und der charismatische, sozialdemokratische Frauenheld mit Segelschiff. Das, wofür die wirkliche Politik mehrere Jahrzehnte brauchte (und noch einige Jahre brauchen wird), Brandt, Scheel und Strauß zu pensionieren, das will das Fernsehen während weniger Monate durchziehen? Weil Thomas Gottschalks Alleinvertretungsanspruch einer noch zu nivellierenden Mittelstandsgesellschaft nicht warten kann?
Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung soll eben soweit getrieben werden, daß keine Zeugen mehr an sie erinnern, egal in welcher Form: das den-Krieg-mitgemacht-Haben macht immer häßlich, auch wenn diese Häßlichkeit als die Schönheit eines Clint Eastwood erscheinen kann und im Volksmund „Charakter“ heißt. Niemand wird mehr Todenhöfer, den alten Volksmujaheddin interviewen, die Promotion für den von den links unterwanderten Fernsehanstalten totgeschwiegenen rechten Liedermacher Gerd Knesel („Lieder gegen Links“) übernehmen, das Wort „Drüben“ wird aus dem Sprachgebrauch verschwinden, kein Mensch wird mehr Dritte-Welt-Journalisten wie artige Kinder auf den Kopf tätscheln oder sich der Vergebung seiner Sexismen und Schlüpfrigkeiten wegen seiner großen Verdienste um die Sozialdemokratie und Lebenskunst so sicher wissen wie Hans-Joachim Kulenkampff, an dessen intelligente Bemerkung über die Ähnlichkeiten zwischen der bundesdeutschen und der sowjetischen Informationspolitik sogar ich mich noch wohlwollend erinnere. Denn eigentlich sind das ja gar nicht die schlechtesten Aussichten, schließlich sind die dazugehörigen Realitäten ebenso verschwunden. Der vom Spiegel enttarnte Politiker Hitler ist ja ebenso tatsächlich tot (gestorben 1969, Asunción) wie der SPD-Vorsitzende Brandt pensioniert und die Verlegerpersönlichkeit Axel Springer in uneinige Witwen, Prinzen und Kronprinzen und Filmhändler atomisiert, und junge Leute kommen heute zu mir und fragen: wie war das eigentlich damals, 77, 79 mit Stammheim und Punk?
„Kinder, wie die Zeit vergeht“, hätte Kulenkampff gesagt und die nachfolgenden Sendungen hätten sich um zwanzig Minuten verschoben, die letzten als deutsch identifizierbaren Elemente sind aus dem Fernsehen getilgt. In dritten Programmen und Satellitensendern wird eine harmlose Nostalgie nach dieser großen alten Kulturnation, den Deutschen, derzeit mit einer Flut von Wiederaufführungen alter Serien und Spielfilme befriedigt, die nicht mehr, wie noch vor zwanzig Jahren und auch heute noch bei ARD und ZDF, nach scheinkünstlerischen Kriterien ausgewählt, sondern nur noch unter dem Trash-Aspekt, was für junge Zuschauer, die garantiert noch nicht mal gezeugt worden waren, als „Liane“ gedreht wurde, schrill genug ist, in ihrem völlig richtigen Bedürfnis nach einer Jung-Kultur, die ihre Junkness nicht unter hehrem Gefasel versteckt.
So auch Thomas Gottschalk, dieser, von einer gewissen Restthomasfritschigkeit abgesehen, neue Typ, der uns ein klassenloses, generationskonfliktfreies, überparteiliches neues Jetzt verspricht, ein Fernsehen, das sich endgültig nicht mehr dem Vorspielen einer „demokratischen Kultur“ verpflichtet fühlt: Thomas Gottschalk „mit meinem Freund, dem Big Mac“, bei McDonalds, „wo man gern ist, weil man gut ißt“, ist eben mit einem Antifaschismus, der immer wieder nur herausfindet, daß „Hitler was / Hitler was / Hitler was / Hitler was a fuckin’ Nazi“, wie die Beastie Boys so richtig dichteten, nicht mehr beizukommen. Seinesgleichen Sympathen (und das heißt auch, daß auch ich bei einem Gottschalk-Auftritt wesentlich weniger Peinlich-Schocks pro Stunde kriege als bei irgendeinem Old-School-Demokraten) stellen auch die Scheinoppositionspresse, den Dauernörgelsound aus Borniertheit gegenüber Pop-Kultur und sozialdemokratischen Verbesserungsvorschlägen vor neue Aufgaben, an denen sie exemplarisch scheitern werden.
Fernsehen ist auch in Deutschland endgültig und endlich etwas ganz Anderes geworden, dessen Gut und Böse sich völlig neu gruppieren, das keine Hierarchien zwischen bürgerlicher „Kultur“ und populärem „Schwachsinn“ mehr kennt, weil Gottschalk und Alexander Kluge inzwischen bruchlos ineinander übergehen, weil das Fernsehen des „Vier gegen Willy“-Zeitalters, des „Waldhaus“-Age (Hauptschlagzeile im Kölner Express: „Waldhaus-Schauspieler: Wir schämen uns!“) nicht mal mehr Hilfestellungen für irgendwelche Sinnstiftungen offeriert, nur noch taumelt und kreist und schaukelt und von der Fernbedienung über in- und ausländische Kanäle gejagt wird – das Wort „remote control“ für Fernbedienung sagt alles – , bis es von dem herbgelben schwarzen Loch im Zentrum von Werner Höfers Weinglas ausgesogen verschwindet. An diesem Punkt eröffnet dann ein neuer Kabelkanal wie „Tele 5“, wo nur noch vollkommen Bekloppte mit anderen Bekloppten über wirklich nichts reden und sich dafür auch nicht mehr schämen. Da kann man dann auch schmecken, daß auch die Fernsehkritik endlich ein ganz anderes Vokabular braucht, ganz andere Forderungen aufstellen muß.

