Krieg & Frieden: Eingemachtes Stachelbeergelee

„And it’s too bad that our friends can’t be with us today“
Jimi Hendrix, „1983“

„I didn’t had the nerve to say no“
Blondie, Songtitel

„Although I’m joung / I got a job to do“
Blondie, „Contact in Red Square“

„Honey, that’a quite a different subject“
Smokey Robinson

Die Frage, ob nach „Tears Of A Clown“ überhaupt noch ein Song geschrieben werden mußte, darf nicht gestellt werden. Schließlich stehen wir alle unter Legitimationsdruck. Und ich bin für Geschichte.

Wenn, was hin und wieder vorkommt, ich nach einem der Journale greife, die in letzter Zeit so beharrlich zum Verkauf angeboten werden und sich der musikalischen und der dazugehörigen kulturellen Geschehnisse anzunehmen vorgeben, gesellt sich dem Ekel über das schülerhafte, von gar keiner Vision, gar keinem Willen angestachelte Schreiben, das dort betrieben wird, ein weiteres Mißvergnügen hinzu, das von der Aussichtslosigkeit ausgeht, an diesem Zustande irgendetwas zu bessern. Wenn selbst einem Bowie anläßlich der Midlife-Crisis nichts anderes einfällt, als den lächerlichen Satz „heutzutage hätten so viele Gruppen nur noch Stil und keinen Inhalt“ zu paraphrasieren, was in leichter Abwandlung ja auch ein gewisser Jon Savage auf diesen Seiten verbreiten durfte, wer soll dann noch der Jugend erklären dürfen, daß sich die Welt nicht auf zweiteilige Hausfrauen-Weisheiten reduzieren lasse, die er selbst mitzuverantworten hat, und die erstmals so etwas wie eine Lösung von der Heavyness des Ego ahnen ließen, ein Zertrümmern der immer gleichen todbringenden Mühlen, die das Korrekte, Echte und Wahre produzieren, angst und bange wird und er von B.B. und Albert King zu reden beginnt, wo soll man dann beginnen, der strukturellen Dummheit den Garaus zu machen?

Was in England zur Zeit als Trend gehandelt wird und, wie alle Trends zuvor, so doof ist, das Trendhafte an sich negieren zu wollen, ist die Rückkehr des klassisch-britischen Rock-Tiefsinns, auch wenn es sich neuerdings „Positive Punk“ oder „New New Punk„ oder anders nennt. Die Rückkehr der schweren, bürgerlichen Sozialisation über Individuum, Tiefe, Ego, Selbst, Okkultismus und Scheiße: Sex Gang Children, Southern Death Cult, Brilliant (die Killing Joke Nachfolge-Band) Spear Of Destiny, immer noch Bauhaus und auf dem Gymnasial-Level natürlich die vor Wichtigtuerei berstenden U2 und Echo & The Bunnymen, denen man noch das eine oder andere nachsehen kann.

Anzuerkennen, daß das Leben eines der schwersten oder der Güter höchstes nicht ist, egal ob über den ideologisch-korrekten-Arbeitslosigkeits-Nachrüstung-Jam-Diskurs ist der erste Schritt auf den Tod zu. Wo das Interesse an der Welt in Interesse an sich selbst umschlägt. Wo man nicht mehr spricht über das, was man sieht, sondern das, was man sieht mit dem beschreibt, was einem gesagt wird. Derjenige, der dem Jugendlichen sagt, seine Eltern seien oberflächlich, ist gleichzeitig derjenige, der den Eltern hilft, den Nachwuchs sich selbst anzugleichen. Der Jugendliche begreift seine erste, die schlimmste Dichotomie „Oberfläche/Dahinter“ bemüht sich um jenes behauptete, natürlich nicht existente Dahinter, diesen metaphysischen Terminus, der jeder bürgerlich-idealistischen und bürgerlich-linken Kritik zu Grunde liegt und verliert sein leichtes Wesen, nicht seine Unschuld, sondern seine Fähigkeit über Scheinprobleme, die sprachlichen Fallen entspringen, zu lachen. Ein noch schnellerer Weg zum Tod, zum sicheren Erstarren zu Lebzeiten ist allerdings das, was zur anderen Hälfte, diese Magazine füllt, von denen ich eingangs redete: das Ersticken im Faktischen, das unaufhörliche, unendlich-kombinierbare Lexikon der Produzenten, Besetzungen, Stilbezeichnungen, an dem so unendlich geschrieben wird, ohne daß es Kraft freisetzen könnte. Alister McLouie spielt Baß auf der neuen J. Tombstone, Pop-Musik als Hobby – voll eklig!

Es gibt zwei Sorten guter Musik: beflügelnde Hochstaplermusik wie ABC, deren Videos, um mal einer in diesem Blatt nicht totzukriegenden Auffassung zu widersprechen, das Beste sind, was überhaupt je an Promotion-Video gemacht wurde – wer das bestreitet, sollte ein Jahr lang die Lizenz zur Berechtigung von Kinobesuchen verlieren – und bewegende Musik wie „Tears Of A Clown“ oder „Our Lips Are Sealed“ von Fun Boy Three oder „I Confess“ von The Beat oder irgendein beliebiges John Cale-Stück. Die meiste Musik ist zähe Musik. Ihre Funktion ist, das veränderliche, irisierende Menschenleben einzudicken, hier und dort festzukleben. Sie kann süß sein, wie Marmelade, aber alle, die darangehen, bleiben kleben und verenden, wie die Fliegen. Die Lage ist eklig 1983. Der Frühling bricht aus. Menschen schwärmen durch die City. Die Fensterputzer am Comptoir mir gegenüber tänzeln todesmutig beschwingt über die Simse des elften Stocks. Brummfliegen setzen sich neckisch auf ihre Nasen. Doch die Welt kämpft verzweifelt um ihre alten Gewißheiten, will sich keinen Frühling leisten.

Es kommt zu Ereignissen, wie der Wiederaufführung des Stummfilms „Napoleon“ oder dem Konzert von Mari Wilson. Solche Ereignisse sind den Menschen meiner Umgebung Gesprächsthemen. Eine Zeitschrift wie diese verlangt nach Berichterstattung. Doch draußen reißt die Hansestadt Hamburg eine Verkehrsinsel auf, weil sie darunter Reste der Hammaburg vermutet, Reste des alten Dom, gegründet von Bischof Ansgar, als man auch hier noch katholisch, also doppelbödig, hinterfotzig und betrügerisch war. Jeden Tag kratzen Männer mit dicken Kurzsichtigkeitsbrillen behutsam an kleinen Formationen roter Ziegelsteine, Gelehrte, so wie der sympathische Schachspieler Hübner, der in der Schweiz einen ebenso sympathischen alten Russen bekämpft. Mißerfolge können Gelehrte nicht schrecken („Zehn Fehlstarts hintereinander sind ein Beweis für unsere Theorie von der natürlichen Überlegenheit des Dezimalsystems.“), ein Arbeitsloser besucht jeden Mittwoch heimlich Abendkurse, weder seine Frau noch seine Kinder dürfen etwas davon erfahren. Die Frau hat Angst um Statusverlust bei der beruflichen Fortbildung ihres Mannes, wenn die Kinder argwöhnen: „Ob der wohl Maurer lernt? Oder Heizungsmonteur?“ – „Nein, das will ich nicht. Die Freunde meiner Freundinnen lernen Bühnenbildner oder Programmierer oder Innenarchitekt.“ – „Vielleicht lernt er Schornsteinfeger. Die Brüder sollen ja irre Gelder verdienen. Das weiß jeder.“ – „Oder Müllmann! Die sollen sich fast noch besser stehen.“ Zur gleichen Zeit führt ein Großindustrieller die neue Sicherungs- und Überwachungsanlage seines Safes vor, die ihm die Gehälter dreier Wachleute einspart: „Alles vercomputerisiert und verkabelt.“. „Napoleon“ ist ein sehr schwacher Stummfilm, alle anderen Stummfilme sind besser, denn sie sind von damals und nicht von Francis Ford Coppola verkabelt, orchestriert und vercomputerisiert. Napoleon ist ein schlecht besetzter Monumentalfilm voller unerträglichem französichen Nationalismus, über den ein Griffith- oder Lang- oder Eisenstein-Fan nur lachen kann, zusammengestoppelt und frankophil, sein Regisseur war ja auch ein beinharter Bonapartist, Abel Gance hieß er, sehr öde, typisch 83er-Kult. Mari Wilson macht eine gute Show. So langweilig dieser Satz ist, mehr gibt es über sie nicht zu sagen. Es sieht fantastisch aus und jeder, der sie ein wenig kennt, kann sich das ausmalen. Aber, da sie ein 82er Phänomen ist, gibt es heutzutage über sie nichts mehr zu sagen. Es gibt keine Beziehung von ihrer Music-Hall-Leichtigkeit, ihrer lustvollen Hochstapelei mit fremden Feder zu den verstückten Herzen, die dem Okkultismus frönen. Die Damenwelt erblüht in neuem Glanz. Keiner merkt es, keiner will darüber sprechen. Die schlechte Laune, die das falsche Denken macht, hat alle überrannt.