Krieg & Frieden: Schauplätze, Ortsnamen, Eigennamen

1. Wien

Exakt einen Tag brachte ich unlängst in Wien zu. Am Flughafen, der nicht nach Weltstadt, eher nach Mannheim-Süd, nur für Segelflugzeuge zugelassen, aussieht, kommt es zur Konfrontation mit dem hier gültigen Koordinatensystem: Die Wegweiser der Flughafenautobahn ließen zwei Alternativen zu, Bratislava (früher Preßburg) oder Budapest. K.u.K.-Feeling kommt auf. In Österreich gibt es keine Grenzen nach unten und oben. In den Bücherregalen stehen Herrman-Hesse-Gesamtausgaben neben Karl-Kraus-Gesamtausgaben, in Plattenregalen steht Red Crayola neben dem Gesamtwerk von Andre Heller. Die Stadtzeitschrift „Wiener“, die zu den best layoutesten Magazinen der Welt gehört, leistet sich die Schlagzeile: „In New York tanzt man Rap – Warum nicht in Wien?“ Weil man in Wien Walzer redet. Die SPÖ macht Wahlkampf-Werbung in GGK-SPD-Stil, aber besser und selbstbewußter (obere Bildhälfte: schwarzweiß-Foto eines völlig derangierten Waldes, in der Mitte: rote GGK-SPD-Schrift: „Darum geht’s“, unten glückliche österreichische Jungspießer mit Pfadfinderlächeln in milder Herbstsonne in Farbe. „Für Österreich und seine Menschen: SPÖ“)

In der modern layouteten Stadtzeitschrift „Wiener“ hält es ein Kolumnist für originell, neu und mitteilenswert, daß Wahlkampf ja doch nur Theater sei. Ist es wahr? Sollten Politiker etwa bei Fernsehdiskussionen nicht ernsthaft die Belange des Volkes diskutieren? Sollte am Ende gar ein eingefahrenes Spiel mit verteilten Rollen da aufgeführt werden? Ist Politik ein schmutziges Geschäft? Geht es beim Fußball nur noch ums Geld und nicht um den Sport? Ist Graf Lambsdorff ein Gangster? Ist Völkermord beklagenswert? Hat ein Spiel 90 Minuten? Ist der nächste Gegner immer der Schwerste? In Wien existieren massive Blödheit und beeindruckende Klugheit nah nebeneinander. Die Häuser sind so alt und vermieft, daß man sie einreißen möchte, die Werbeagenturen sind besser als irgendwo sonst in der Welt. Die Werbung in Wien macht sichtbar. Die Häuser sehen aus wie ein gestörtes Schwarzweiß-Fernsehbild von Häusern. Die Männer sind zwischen Torheit und Tiefsinn hin- und hergerissen. Die Mädchen haben alle so was G’schlampertes.

2. Berlin / Tokyo

Im Pressezentrum der Berliner Filmfestspiele, gleich beim Bahnhof Zoo, vorne links, steht Rosa von Praunheim und redet mit einem wichtigen Mann, in der Kantine sitzt Michael Strauven, der SENSIBLE Film-Moderator aus dem Fernsehen, der so SENSIBEL sein will, wie der große SENSIBLE Filmregisseur Wim Wenders und dabei wirkt, wie ein chinesischer Fisch in den lehmigen Fluten des gelben Flusses, und unterhält sich mit Rosa von Praunheim. Anwesenheit und Abwesenheit sind derzeit Lieblingsgegenstände meines Räsonnements. Rosa von Praunheim erzielte während der Filmfestspiele einen neuen Weltrekord in Anwesenheit. Ich sah einen räsonnierenden Film von Chris Marker, „Sans Soleil“, der im wesentlichen über Japan räsonnierte. Oft amüsant, wie Roland Barthes’ Buch „Im Reich der Zeichen“, oft aber von der unerträglichen Idealisierung bestimmt, die allen von 68 geprägten Intellektuellen, besonders den französischen, als Matrix jeder Äußerung eigen ist. Einmal hoffen, wünschen, projizieren, immer hoffen, wünschen, projizieren. Nur der Gegenstand wechselt. Nichts gegen Hoffen, aber bitte nur in einem vergänglichen, befristeten, strategischen Zusammenhang. Marker idealisiert wieder absolut, wenn auch pfiffig: Er gehe nie mehr bei Rot über einen Zebrastreifen, auch wenn kein Auto in Sicht sei. Er habe gelernt dem Geiste der verschrotteten Autos zu huldigen. Er ehre auch die leeren Briefkästen, denn er habe gelernt, den Geistern der zerrissenen Briefe zu huldigen. Ja, die poetischen, europäischen Gemütsmenschen. Abends gab es dann einen japanischen Punk-Film, der aus der Perspektive der Subkultur Japan zeigte. Der dieselben Ordnungen, Regelungen zeigte, die Europäer so gerne idealisieren und sie behandelte, wie unsereins den Papst und die Katholische Kirche. Es lohnt nicht einmal, sich darüber lustig zu machen.

In Berlin gab es auch „Infermental“ zu sehen, das sechsstündige Video-Magazin, das in drei Portionen à zwei Stunden gezeigt wird und Beiträge von vielen wichtigen Menschen und Organisationen enthält. Demnächst werde ich eine Promo-Kampagne dafür in Gang setzen. In Berlin wählte ich ein paar Mal am Tag die Nummer 040/1166, die als Kripo-Ansagedienst die Stimme eines Kieler Mörders brachte, der tatsächlich sprach wie ein Mörder auf einer sehr schlechten Märchenplatte. Mit einer künstlichen, fast verfremdeten Häme, krächzend, quäkend. Auf dem Niveau von Klaus Kinski, aber echt. SICK. Die „Zeit“ lamentierte anschließend natürlich wieder von pietätlos. Es ist unglaublich, daß sich die „Zeit“ immer so verhält, wie man es von ihr erwartet. Daß da ein Presseorgan wirklich noch mit einer Stimme spricht, obwohl der etatmäßig etwas linkere Kulturchef Raddatz die Grünen wählt und Theo Sommer stattdessen die FDP. In Berlin, im „Risiko“ haben sie 1166 über Lautsprecher abgespielt.

3. Hamburg, Haiti, Peru, Chile, Dominikanische Republik

Wo wir bei der Presse sind: Die Zeitschrift „Stern“ glänzte in den letzten drei Jahren in ihrer Musikberichterstattung durch eine Fehlerquote, die kaum ein anderes Blatt je erreichen kann. Irgendwann haben wir bei „Sounds“ mal eine „Stern“-Journalistin auf die Ätzliste gesetzt, woraufhin ihr Chef bei unserem Chef nachfragte, was denn das für ein Kollegenverhalten sei. Woraufhin wir aus zwei Jahrgängen konsequent die Fehler sammelten, haarsträubendes Zeug darunter, und die Dokumentation an den Chef schickten. Man fragt sich ja, ob die Fehlerzahl in den Artikeln, wo man die Fakten nicht aus erster Hand besser kennt, genauso hoch ist. Der Chef antwortete irgendwas im Stile von „Kommt nicht wieder vor“. Kam aber doch. Immer wieder. Letztes Beispiel: Malcolm McLaren. Die Autorin des Berichtes will in „Buffalo Gals“ Musik aus den peruanischen Anden und aus der dominikanischen Republik gehört haben. Abgesehen davon, daß ich bezweifele, sie könne Musik aus den peruanischen Anden von Musik aus den chilenischen Anden unterscheiden und Musik aus Haiti von Musik aus der dominikanischen Republik, dürfte es jedem schwerfallen, irgend etwas derartiges aus „Buffalo Gals“ herauszuhören. Die Erklärung kann nur sein: die Autorin hat im „Musik Express“ über McLaren nachgelesen und dabei die Beschreibung seiner LP, die es noch nicht gibt, mit der Beschreibung seiner Maxi verwechselt. Oder sie hat McLaren wirklich interviewt und versteht kein Englisch.

4. Köln / Bonn

Es ehrt mich natürlich, daß sich Dr. med. Dr. phil. Rainald Goetz um meinen Kopf sorgt. Schließlich hat er den besten Artikel geschrieben, der je in „Konkret“ erschienen ist. Aber was soll ich tun? Mein Mitteilungsbedürfnis ist grenzenlos und so schlecht fand ich „Spex“ noch nie, eher zu bieder als zu locker was wirklich schlimm wäre. Aber ich würde auch für schlechtere Zeitschriften schreiben („Wer schreibt, der bleibt…“ Anm. d. Red.) Regel: wer einen Text nicht kürzt oder verfremdet, darf ihn drucken. Wer einen Text kürzt oder verfremdet, muß etws anderes zu bieten haben. Z. B. eine hohe Auflage, einen interessanten Leserkreis oder ein interessantes redaktionelles Konzept. Die Idee der fliegenden Blätter scheitert an meiner Faulheit. Reaktionen von Rainald Goetz bekam ich für einen Artikel in „Spex“, was prinzipiell für dieses Forum spricht, ich glaube kaum, daß er eine andere Musikzeitschrift liest.

Dem Leser Wolph danke ich für das Marx-Zitat, aber Petra Kelly ist gut. Nur wer noch an Politik im alten Sinne glaubt, kann ihr ihre Inhalte übelnehmen. Sie spricht nicht Inhalte verkaufend im alten Politikersinne. Sie reiht Worte auf eine Schnur („Wir werden uns für behinderte Frauen, gefallene Hunde, zertretenes Gras einsetzen“), spricht irgendwo ganz vorne im Mund, nicht mit so einem blöden, tiefen Brustton. Sie sieht gut aus (wie sonst nur Schilly, Maren-Griesebach, Helmut Schmidt. Und Peter Glotz erinnert mich immer mehr an Wolfgang Büld). Es sah noch nie jemand im deutschen Bundestag gut aus. Petra Kelly ist die einzige sichtbare Veränderung, der wahre historische Einschnitt. Ich freue mich schon heute auf ihre erste Rede für gefallene Hunde.

5. Liverpool, Wales

Es gibt zwei Sorten von Mädchen. Die eine kam gestern, die andere vorgestern in die Markthalle. Die eine kam zu Echo & The Bunnymen, ist jung, quirlig und interessant auch die, die nicht gut aussehen, weil sie immer aussehen, immer Zeichen aussenden, historisch wahrnehmbar und neu sind. Sie haben sich alle in Ian McCulloch von Echo & The Bunnymen verliebt. Die andere Sorte ist überwiegend uninteressant, älter, weniger konturiert, von Beruf und Alltag zerfressen und historisch. Unter ihnen sind allerdings die absoluten Spitzengeschöpfe, die 1a-Menschen, die ein Leben umkrempeln können. Sie kamen am Tag davor zum John Cale-Konzert und verliebten sich in den großen Waliser. Dem Konzert des Jahres. Nach dem John Cale-Konzert war ich nüchtern und früh im Bett. Gestern nach Echo war ich lange aus und trank zu viel Whiskey. Heute finde ich keinen Bezug zum Leben und bin kurz davor im Bett zu bleiben. Da geschieht etwas Wunderbares: Auf der Straße sehe ich zwei Kameramänner, einen Mikrogalgenhalter und einen schnauzbärtigen Mann mit Mikro. Er fragt einen anderen schnauzbärtigen Mann, einen aus der Gauloises-Reklame: „Glauben sie, daß jetzt der Aufschwung kommt?“ Die Erwähnung dieser religiösen Vokabel, die die SPD zwei Millionen Wählerstimmen kostete, versetzte mir einen Stoß und ich konnte wieder arbeiten. Draußen öffnete sich der Himmel, die Sonne lachte. Die Krise war vorbei. Es war der 10. März 1983, in vier Tagen würde Karl Marx Geburtstag haben.

Ein Freund rief an und beklagte sich über seine minderjährige Freundin. Ich sagte: „Das Problem mit der jüngeren Generation ist, daß sie nichts mitgemacht haben. Keine Drogen, keine Politik. Davon sind sie herzlos geworden. Nicht, daß ich mir eine neue Generation wünsche, die denselben Scheiß macht wie wir, aber wir sind so nett, weil wir es hinter uns gebracht haben. Die Jungen hatten es einfach zu leicht. Deswegen können sie auch einem Sänger etwas abgewinnen, der singt ‚Is this the blues, I’m singing?‘ oder ‚Who am I?‘“ – „Aber zu unserer Zeit hat man doch auch die Doors gehört?“ – „Ja, aber man hatte eine Doors-Phase, die man dann wieder ablegte, um das Gegenteil zu verkünden.“ – „Du meinst, die Kinder nehmen das ganz absolut, nicht als Bestandteil einer bestimmten Rhetorik, eines Diskurses?“ – „Ach, was. Die denken doch gar nicht, die sehen nur hin. Das ist ja auch gut so. Mit Nurhinsehen kommt man unter Umständen weiter als mit Denken. Denken muß man nämlich richtig können, Fehler beim Denken sind fatal. Fehler beim Hinsehen gibt es nicht. Richtiges Denken ist natürlich besser als richtiges Hinsehen, aber wer denkt schon richtig?“ – „Meinst du auch, daß die Ära Kohl von der Ära Derwall schon vorweggenommen worden ist?“ – „Oh, ja, das 4 : 3 gegen die CSSR damals, entspricht den DM-Aufwertungen im Moment, das Ausscheiden gegen Österreich in Argentinien den letzten Monaten der Schmidt/Genscher-Regierung. Kohl wird auch noch mit so einer WM-in-Spanien-Battiston-K.O.-Schlagen-Taktik ins Finale kommen, aber danach geht’s bergab.“ – „Kann ich das meiner Freundin erzählen? – „Deiner minderjährigen Freundin? Aber immer! Unseren Altersgenossen könntest du das nicht erzahlen, die verstehen wieder kein Wort, die würden wieder sagen, Fußball sei Fußball und Kapitalismus sei Kapitalismus.“ – „Ah, so.“ – „Bis nachher!“ – „Tschüß“ – Tschüß!“.