Krieg & Frieden: The Story of the Blues Part II

Um wieder mal einem dieser Fernsehabende zu entgehen, an dem doch nur Peter W. Jansen und Hannes Keil von Phantasie und Wirklichkeit gesprochen hätten, sah ich mir an zwei aufeinanderfolgenden Tagen die Gruppen Killing Joke und Gang Of Four an und konnte mir jetzt, so viel Jahre nachdem die eine Gruppe für das Eine stand (Marx, Intelligenz, Klarheit) und die andere für das Andere (Okkultismus, Schwachsinn, Mittelalter), den Gedanken leisten, daß bei Nutella Käpt’n Nuß drin ist, auch wenn Nutella draufsteht, will sagen, nachgerade evident zeichnete sich die Erkenntnis ab, daß das Wesentliche, was alle nichtpoppigen, Nicht-82er Punk-Nachfolgegruppen, insbesondere jene neue, uns älteren so wenig verständliche, positive oder New-Punk-Musik vereint, und eben auch Gang Of Four und Killing Joke der sexuelle Aspekt ist, der Body-Faktor, das Grooveding.

Erstmals in ihrer langen Geschichte hat sich die weiße Rasse von ihren Sitzplätzen erhoben und begonnen, ihre ungelenken, verstauchten, verkrampften Glieder zu bewegen nach neuen, eigenen Rhythmen. Das war das Ding der letzten fünf Jahre und da mir keiner mit der Weisheit kommen kann, Heaven 17, Haircut 100, Sex Pistols oder Brian Auger & The Trinity seien weiße Tanzgruppen gewesen, nein, aber in erster Linie Pop, sowie Chic vielleicht tanzbar sind, aber in erster Linie Pop. Wahre Tanzmusik, die wie im Falle Clinton auch Kunst sein kann, ist gewalttätig und schmerzhaft und eigentlich kein Vergnügen. Niemand kann mir erzählen, daß er „Planet Rock“ oder diese langen psychedelischen Funks von Sly & The Family Stone wirklich gerne hört. Der wahre Funk tut weh, so weh wie ein Abend an den Boxen von Killing Joke. Der Unterschied zwischen Popkunst und solcher Tanzmusik ist wie der zwischen Lesen und Vorgelesen bekommen.

Hardrock und Headbanging war so etwas wie das Neandertal des weißen Körpers, Pogo die Erfindung des Rades und Killing Joke – das ist ein erster bolleriger Bollerwagen mit notdürftig abgerundeten Wackersteinen als Räder. Bei Gang Of Four liegt der Fall ähnlich. Doch wo Killing Joke den Schmerzeffekt erzielen, indem sie laut und eintönig und unmelodisch sind, setzen Gang Of Four auf Jimi Hendrix und die Schönheit verzerrter Gitarren. Unglaublich, dieser Zwang des Andy Gill in die, als Dramaturgie mißverständlichen, Pausen und Zwischenräume hineinzurauschen und zu zerstören, was weich und schlapp klingen könnte. Gerade die Gang Of Four begannen als ein Popkunstphänomen. Die typische britisch-clever arrangierte Agglomeration von kleinen Verweisen hierhin und dorthin. Die Musik, die mit Innovation und Basics kokettierte, Dr. Feelgood, Marx, Hendrix, Medienkritik, Wilhelm Reich undsoweiter – alles deutete auf eine dieser hippen, flinken britischen Ideeideen, die für einen Sommer begeistern können, die für einige Monate voller Wahrheit und Schärfe lustvoll durch die Welt getragen werden. Dann kam die zweite Lp, die war genau wie die erste, was ein Riesenfehler ist, wie man weiß, im Pop-Bereich, und alles gähnte. Die Dritte war das Comeback als Popband und es brauchte eine vierte mit nur zwei guten Stücken, um zu begreifen, meinetwegen bis ich begriff, daß es hier um etwas ganz anderes ging, daß der Pop-Charakter der Gang nur ein kurzfristiges Nebenprodukt war, auf das man nicht so viel geben sollte, wie auf das Killinjokige Hauptanliegen; den weißen Arsch, den verformten in Bewegung zu bringen.

Soziologen wäschen seit einigen Jahren von nichts Anderem und überhaupt ist Neo-Primitivität das Anliegen von Jedermann zwischen Malcolm McLaren und Lech Walesa. Meistens kommt aber eben doch und zum Glück weiße Popkunst oder schwarze Popkunst heraus. Aber das ZURÜCKZURNATUR läßt sich nicht unterkriegen, sie geben nicht auf, den Körper, der in Wahrheit einem Buch ähnlicher ist als einer Maschine, für ein unbesetztes Stück Natur auszugeben, zu dem es ein möglichst feucht-sexuelles Zurück geben kann, eine wilde nackte Orgie um ein lautes Trommelfeuer. Sie wollen Indianer spielen und nachts draußen im Zelt schlafen.

Diesen Fehler hat die schwarze Tanzmusik von der sie die Härte und Schärfe abgeguckt haben, nie begangen. Der schwarze Körper war nicht irgendein verbuddeltes Ding, das man freilegen mußte, das aus irgendeinem Innen herausgeholt werden mußte, der schwarze Körper ist ein lustiger Charakter aus einem Comicstrip, der schwarze Körper ist der Atomic Dog und ausgedacht hat ihn sich George Clinton und James Brown und nicht Hermann Hesse und C. G. Jung. Deswegen können sie ihren Arsch nämlich bewegen, weil er ihnen selbstverständlich ist und nicht eine pathetische Errungenschaft, für die man lärmen muß und sich verdammt ins Zeug legen und ägyptische Mythologie reinpowern (wie Jazz von Killing Joke). Andererseits sind die Killing Joke-Fans eindeutig sympathischer als die alternden Musikfachleute, die es in der Regel besser wissen wollen und Costello und XTC lieben. Vielleicht müssen die Weißen diesen dornenvollen Weg zum Groove gehen, den neunfachen Pfad der Mißverständnisse und bourgeoisen Illusionen. McLaren wollte den jungen Primitiven als appetittliche Erscheinung, an der sich Leute seines Alters weiden konnten. Eine sympathische Illusion, die Wirklichkeit sieht entsprechend häßlicher aus, sie heißt Sex Gang Children, Killing Joke und Virgin Prunes, aber auch Wham. Auch ein whamiger Jugendlicher kann sich für Killing Joke erwärmen, er mixt den Pop-Gehirn-Groove von Wham, die eher mit dem Wunsch nach Ferien und Partys zu tun haben, mit dem Polter-Body-Groove von Killing Joke oder Gang Of Four, die eben nackt am Lagerfeuer sitzen zu wollen meist nur ungenügend verheimlichen.

Und diese Jaz Colemans oder lehmbeschmierten Virgin Prunes haben, das muß ich notgedrungen zugeben, auf ihre eigenartige Ober-Jahre Art, ihre Art von Sex, den ja auch einige Hippie-Gruppen hatten. Jaz Coleman ist eine peinliche New Wave-Ausgabe von Sean Connery, auch wenn er sich wie ein dummer Straßenkünstler schminkt.

Das neue Ding wird also eine Funkisierung, eine antimelodische Zerstörung sein, die das alles weiter treiben wird und dann vielleicht 1993 bei 70er Stand von Sly angekommt. Was sein muß, muß sein. Jedenfalls wird im gleichen Zug die superslicke Oper, das Melodienfeuerwerk und alles was sonst noch unter „intelligenten Pop“ läuft, sein Gesicht verändern. Ob die Antwort auf den wahren, weißen Funk von Boy George kommt, bleibt abzuwarten, könnte sich aber nach Singles wie „Time“ oder „Karma Chameleon“, den beiden größten Triumphen der Melodie in diesem Jahr, abzeichnen.

In „Mr. Deeds Goes To Town“ von Frank Capra ist Gary Cooper ein Millionär geworden, naiver Aphorismendichter. In New York speist er bei „Thullios“ (Slogan: „Eat with the Literati“), um echte Dichter zu sehen. Diese machen sich arrogant über ihn lustig. Nur einer, McLaren, hat ein Herz für ihn und geht mit ihm Saufen. Am nächsten Tag wird Gary Cooper von seinem Diener geweckt, der ihm eine Prärie-Auster credenzt und auf die Frage „Was habe ich gestern gemacht?“ entgegnet: „Sie standen in Unterhosen mit dem Nobelpreisträger McLaren auf der Straße und sangen ‚Retournons au Nature‘“.