Ich weiß es nicht, er weiß es nicht, niemand weiß es; das ist unklar und wird vielleicht auch immer unklar bleiben: Es bleibt, daß es so ist. Die Einheit stellt sich durch Ausschluß her. Und der Ausgeschlossene ist er.
Michel Serres
Die Elite und der Kandidat
Mit den Opferungen im Namen der Kunst, um die es hier geht, sind weniger die Mechanismen, von denen Theweleit im Buch der Könige spricht, also Opferungen (Damenopfer, Selbstopfer) bei der Stimulanzproduktion in der privaten Organisation einzelner Künstlerleben gemeint. Sondern eher ein Mechanismus aus dem Leben der Künstlergruppen, der auftaucht, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Eine Künstlergruppe befindet sich im Entstehen oder erlebt einen Moment des Erfolgs und der Konsolidierung. Diese Gruppe hat einen politisch oder ästhetisch begründeten Avantgarde-Anspruch, sie empfindet sich in „subversiver“ Gegnerschaft zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren (sittlichen) Gesetzen oder zu deren Politik und damit zur Legalität, in einem engen oder weiteren Sinne. Es scheint, daß, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, einer oder mehrere vonnöten sind, die durch eine gruppeninterne Ausgrenzung ausgeschlossen werden, um sich intern auf diese Grenze zu vereidigen. Das Ziel ist die Legitimierung der Gruppe.
Die Beschaffenheit des Kandidaten für diese Opferung ist oft die eines Sympathisanten oder Nahestehenden, einer mittleren Charge, die bzw. den man eines Verrats oder eines ästhetischen Versagens überführt haben will. Die Ähnlichkeit zu alltäglichen Intrigen geht genau so weit, bis im Alltag auf immer schon bestehende, als natürlich empfundene Sitte oder Gesetz, auf common sense schließlich zurückgegriffen wird, um Machtverhältnisse zu stabilisieren. In unseren Fällen werden Sitte und Gesetz aber nicht nur nicht anerkannt, eine ihnen entgegengesetzte Handlungsweise bestimmt die Identität der Gruppe, egal ob es sich um apolitisch-elitistische oder politische, aber versteckt elitistische Gruppierungen handelt. Das Element des Elitären ist entscheidend, weil die Idee der Avantgarde-Gruppe selber zwischen der alten elitären Identität des Künstlers und seiner neueren Situiertheit im Sozialen siedelt: Elite ist genau das Problem seiner neuen Lage: indem er in mancher Hinsicht von der Entwicklung z. B. der technischen Bilder seiner für jedermann erkennbaren besonderen Fähigkeiten beraubt ist – und in anderen Künsten durch entsprechende Technologien – , definiert er sich einerseits über gesellschaftliche und soziale Projekte, andrerseits durch einen übersteigerten Genie- und Elite-Begriff, der ja gegen die offensichtlichen Indizien behauptet werden muß, die in der Volksweisheit gipfeln: meine kleine Tochter kann das auch. Die ideale Verbindung der elitären und der sozialen Orientierung war die Künstlergruppe, sie mußte daher geheimgesellschaftlich-elitäre mit politisch-radikalen, am liebsten antisozialen Forderungen in Übereinstimmung bringen. Sie hat oft genug auch in beide Richtungen als Durchgangsstadium zwischen sozial-politischer und einsam-elitärer Arbeit gedient.
Meist gibt es eine klare Ähnlichkeit zwischen Opfernden und Geopfertem, die ausgeräumt werden mußte (etwa das Streben des Betroffenen nach persönlichem Ruhm oder sein Versuch, sich mit den Meistern der Gruppe zu messen). Meistens wird in dem Geopferten ein frisch überwundener eigener Zustand wiedererkannt, an den man nicht erinnert werden will. Der Unterschied zu entsprechenden Vorgängen in rein politischen oder religiösen Sekten besteht darin, daß diese sich immer auf ein außerhalb der Gruppe „schon immer“ bestehendes Gesetz, einen großen Anderen berufen, das/die prinzipiell für alle erreichbar und zugänglich ist. Während die Gesetze und Umgangsformen in der subversiven oder avantgardistischen Künstlergruppe (die auf dem Selbstverständnis aufgebaut ist, nicht nur außerhalb des Gesetzes zu stehen, sondern vor allem neuer zu sein, und daher von den bestehenden Gesetzen gar nicht erfaßbar) erst entstehen, indem es zu einer Handlung im oben erwähnten Sinne kommt. Was nicht heißt, daß die Künstlergruppe ohne objektiven Außenbezug zustande kommt.
Hitchcock
In Hitchcocks Film Rope, im deutschen Sprachraum als Cocktail für eine Leiche bekannt, begehen zwei elitistische, schwule Studenten einen Mord an einem Kommilitonen, aus zwei Gründen: der Betreffende ist als minderwertig erkannt. Und: der Mord ist nichts als die Umsetzung einer Theorie ihres Professors über „the Superman’s right to kill.“1 Dieses Recht und damit die Bestätigung, zu den Supermen zu gehören, erhält aber, wie jedes neue Gesetz, nur eine praktische Bedeutung, wenn es wahrgenommen wird. Das Recht des Übermenschen zu töten stellt sich als seine Pflicht heraus, wenn er in den Kreis der Übermenschen aufgenommen werden will. Der Wunsch, sich über oder außerhalb des (alten) Gesetzes zu stellen, wird zum Zwang, einem Gesetz zu folgen. Oder einen gesetzmäßigen Ablauf auszulösen, der das neue Gesetz als Testlauf, Pilotfilm in Kraft setzt. In Rope hat der sich als mißverstanden herausstellende Professor, dargestellt von Jimmy Stewart, noch die Chance, in einem Moralappell nicht nur klarzustellen, daß er mißverstanden worden sei, sondern auch allgemeine Gleichheit aller Menschen und Verabscheuungswürdigkeit des gezeigten Verbrechens zu verkünden. Die Zuschauer der späten 40er ließen sich von dieser angeklebten und wenig überzeugenden Distanzierung nicht bluffen oder beruhigen: in den USA, vor allem aber in Europa, am heftigsten in der Schweiz2, kam es zu empörten Protesten. Kinobesitzer verlangten von der Vertriebsfirma unentgeltlich einen Ersatzfilm.
Die „wahre Botschaft“ der Gesetzlosigkeit
Das Unbehagen am Auftritt des routinierten Sympathieträgers James Stewart als Vertreter einer scheinbar von außen und vom Gesetz aus urteilenden, konventionellen Moral verweist darauf, daß uns die Gesetze der Moral genau da nicht weiterhelfen, wo uns unser Gefühl ja zunächst überhaupt nur aufmerksam gemacht hat, weil es einen Bruch unserer Moral ausgemacht hat. Wir erinnern uns instinktiv, daß die Gesetze der Moral immer schon auf das Einplanen ihres Bruchs aufgebaut waren, ja daß sie uns in einem gewissen Sinne immer schon aufgefordert haben, sie zu brechen. Wir erkennen, daß James Stewart unrecht hat, weil er, indem er theoretisch ein Gesetz aussprach, die Botschaft formulierte, niemals eine Theorie blind umzusetzen (er konnte das nur, indem er sozusagen den Grenzfall ausprobierte, eine Theorie, die sagt: Töte!). Und wie jedes Gesetz, das der Vater verhängt, mußten die Studenten es brechen, indem sie den Inhalt seiner Theorie als Gesetz auffaßten und umsetzten. Der Zuschauer versteht das, weil er weiß, daß Jimmy Stewart unmöglich so was meinen kann. Denn dieser ist das Gesetz in beiden Varianten: erst als dessen neues Gesetz schaffender Bruch, um am Schluß in die Form des konventionellen Gesetzes zurückzuschlüpfen, als Verkünder eines Gesetzes und damit gleichzeitig Figur, die zum Bruch auffordert. Die dabei gewahrte Einheit der Person könnte zum Schlüssel unseres Problems werden, der Einheit der Differenz von Gesetz und Gesetzlosigkeit. Die Opferung im Kreis derer, die das allgemeine Gesetz nicht anerkennen, konstituiert nicht nur ein neues Gesetz. Das neue Gesetz entpuppt sich als Inversion des alten. „Tue, was du willst, sei das ganze Gesetz“, spricht Aleister Crowley, zu Recht der Ablehnung der Gesetze den Namen „Gesetz“ gebend.
Dazu Slavoj Žižek
Slavoj Žižek schreibt: „The Big Other [also zum Beispiel das moralische Gesetz] does not exist as subject of history; it is not given in advance and does not regulate our activity in a teleological way. Teleology is always a retroactive illusion and ‚states that are essentially by-products‘ are radically contingent. It is also against this background that we should approach the classic Lacanian definition of communication, by which the speaker receives from the other his own message in its true, inverted form. It is in the ‚essential by-products‘ of his activity, in its unintended results, that this message’s true, effective meaning is returned to the subject. The problem with this is that, as a rule, the subject is not prepared to recognize in the mess that results from his actions their true meaning. This brings us back to Hitchcock: in the first two films of the ‚transference of guilt‘ trilogy, the addressee of the murder (Professor Cadell in Rope, Guy in Strangers On A Train) is not prepared to assume the guilt transferred to him by the murder accomplished by his partner an act of communication. By realizing the desire of the addressee, the murder returns him his own message in its true form (witness the shock felt by Professor Cadell and the end of Rope when the two murderers remind him that all they did was to take him at his word and act out his conviction about the Superman’s right to kill).3 Oder einfacher und auf Deutsch: Ich muß einen Gesetzesbruch begehen oder anstiften, um mir durch dessen Konsequenzen erst klar zu machen, was ich eigentlich gemeint habe.
Dazu Bob Dylan
Die in diesem Sinne „wahre“ Botschaft der Gesetzesgegnerschaft in Avantgarde-Zirkeln wäre aber auch – und ein Blick auf die Geschichte solcher Gruppen erweist das als Binsenweisheit: unbedingter Gehorsam gegenüber den neuen, den eigenen Gesetzen. Diese Gesetze des Gesetzesbruches sind nicht nur Antithese oder Komplement zum alten Gesetz, sie verstärken es noch oder stellen es in einer neuen, nunmehr unantastbaren Form wieder her, als Big Other. Den Gehorsam müssen dabei nicht notwendig dominierende Figuren weniger dominierenden auferlegen. Ebenso oft haben wir den Fall, wo sich Personen selbst das Gesetz der Gesetzgegner als inneres auferlegen. „To live outside the law you must be honest“, sagt Bob Dylan 1967.4 Was ist „Honesty“ aber wieder für ein Terror? Diese Frage haben die 70er Jahre beantwortet. Ihnen ging voraus, was sich mit dem Boom der Künstlergruppen in der Moderne ankündigte: ein kollektives Prinzip ersetzt das alte individuelle. Ästhetische und soziale Techniken überlagern einander, zum populären Mythos wie auch zu einer Revolution in der Produktionsweise von Pop-Musik geworden in der nicht totzukriegenden Idee der Band. Dylan, der sich damals von einer Band begleiten ließ, die „The Band“ hieß, trauert an verschiedenen Stellen den verschwindenden Möglichkeiten des guten, alten amerikanischen Individualanarchismus nach. Als die Dominanz des Sozialen über das Ästhetische – ein inzwischen in den Gegensatz elektronische Einsamkeit versus Tribalismus transformierter Prozeß – in den 70ern komplett war, hat auch die Honesty terroristisch jede Denkbarkeit von Gesetzlosigkeit in der Praxis besiegt. Vor diesem Hintergrund kann man die Opferungen und Diskriminierungen der alten Künstlergruppen auch als präventive Maßnahme gegen die Nivellierung durch gute Absichten sehen – denn parallel zum Sieg der „Honesty“ fingen in den 70ern Einzelne und neue Stämme wieder an zu sagen „I’m Bad“. Dem grundsätzlich bürgerlicher „Gutheit“ innewohnenden Herrschaftsanspruch entgegenzutreten, indem man ihn entkleidet und exekutiert, eben durch unser Beispiel der Opferung, folgt freilich der Logik von Präventivkriegen und vorauseilendem Gehorsam. Komisch ist nur, daß entgegen allen Anzeichen die Idee und auch die Effektivität der Band als ästhetisch-soziale Praxis das alles überlebt zu haben scheint. Vor wenigen Tagen noch erklärte mir Mike Watt von der Band „fIREHOSE“, der auch in verschiedenen Filmen des Künstlers Raymond Pettibon über jugendkulturelle Oppositionsbewegungen mitspielt, nachdem er mich über die Geschichte von FBI-Infiltrationen in solchen Bewegungen aufgeklärt hatte, zum Abschluß: „You can’t join a group and you can’t work for yourself: you have to join a band!“
Dazu Oswald Wiener
In „Einiges über Konrad Bayer“ von 19785 schreibt Oswald Wiener: „Wenn Konrad eintrat, befiel einen eine gewisse spannung, die situation gestattete nicht mehr ein ruhen in ihr oder eine bewegung mit ihr, man war nunmehr gezwungen, sie immer wieder, ihre einzelheiten, die möglichkeiten ihrer interpretation, der interpretation der eigenen erscheinung in ihr, die konkreten anblicke und ihre möglichen bedeutsamkeiten durchzugehen und die möglichkeiten von veränderungen vorwegzunehmen. die niederschrift vieler gespräche wäre unverständlich, da die zusammenhänge nur durch schnelle wechsel in der brennweite der aufmerksamkeit und durch umklappende vorstellungen, die sich nicht immer in formulierungen zeigten, gewahrt werden konnten. man durchmusterte die gegenstände und die bewegungen immer wieder, man geriet aus dem kaffeehaus ins unbekannte, wer das nicht vermochte und dennoch mehr sein wollte als staffage, wurde material; ein bekanntes theaterstück von W. Bauer paraphrasiert einen weitgehend durchdachten plan, den Konrad mit W.T. und mir längere zeit hindurch weiterfeilte und der eigentlich nur deswegen nicht völlig in die tat umgesetzt worden ist, weil das globale gelingen nicht recht zweifelhaft war und weil ein unterschied zwischen einem menschen und einer vorstellung schwierig zu treffen ist.“
„Change“
In dem „bekannten theaterstück von W. Bauer“ erkennen wir Change, wo zwei Spätbohemiens beschließen, den Maler Blasi, den sie für naiv und berechenbar halten, zunächst zu Ruhm zu verhelfen, um ihn anschließend so zu manipulieren, daß er sich das Leben nehme. Ihre Motive sind dabei nicht nur experimentell, sondern auch materiell: als Verwalter des Werks des zu opfernden Künstlers wollen sie von seinem Freitod profitieren. Im Mittelpunkt aber steht die „Manipuläschn“, für die sich Fery rührend großspurig und reizend kretinös als Erfinder einer neuen radikalen Kunstform feiern läßt. Zu zeigen, daß der Freitod, immer gern als die letzte Zuflucht individueller Freiheit gesehen, kein freier ist, wäre vielleicht eine mögliche Deutung der Idee gewesen, die dem von Wiener geschilderten „Plan“ zugrunde lag. Das Milieu, in dem Change spielt, ist ein lumpenintellektuelles Bohemia. Am Ende fällt einer der Opferer selber in die Grube, die er gegraben hat, und suizidiert sich. Mich interessiert weder die Moral noch die meiner Meinung nach verfehlte sozialkritische Interpretation, die dem Stück vielfach zuteil wurde, etwa so: „Auseinandersetzungen mit der Realität in einem direkten Sinn, sei es sozial, politisch oder wirtschaftlich, bleiben ausgespart und lassen sich nur indirekt als ein verdrängtes Problem erkennen: in der Ausschließlichkeit und Übersteigerung, im Leiden an diesem von Surrogaten bestimmten Leben mit Beat, Donald-Duck-Heften, Haschisch, abgenutztem Sex, Literatur …“ schrieb seinerzeit Ute Nyssen6. Kaum noch nötig zu korrigieren, daß wir heute wissen, daß nicht nur Ausschließlichkeit und Übersteigerung, Surrogate aller Art – für was, für welches Original? –, vor allem aber Beat und natürlich Haschisch, schließlich ganz besonders Donald Duck, das Original der Originale, wenn es denn je eines gab, uns allesamt als vorbildliche Bestandteile oder Grundlagen einer mittlerweile unübersichtlich verzweigten und ausdifferenzierten Kultur zu gelten haben, die vielleicht den letzten verlorenen Kampf um eine richtige Lebensführung im Falschen führt (und daher immer wieder so sichtbar das Falsche als Richtiges wiederentdeckt). Denn natürlich hing der Erfolg von Bauers Stück auch damit zusammen, daß er die richtigen „Surrogate“ zur richtigen Zeit wählte. Gerade, weil die Ingredienzen, die das Stück in der Subkultur seiner Zeit situieren, stimmen (anders als bei so vielen Nachfolgern in Drama und Prosa), erkennen wir etwas ganz anderes in dem Stück: nicht dem Herabsinken, sondern dem Erfolg, der Entstehung einer bohemistischen Clique wird hier bei der Arbeit zugesehen. Und zu diesem Erfolg verhilft hier, soll ihr verhelfen: eine Opferung. Daß der Opferer selber zum Opfer wird, ist nur möglich durch das Spiel des „Change“, einen Vorgang, der in etwa dieselbe Funktion hat wie das, was Žižek als Lacans Begriff von Kommunikation beschrieben hat. Die „true meaning“ der „Manipuläschn“ ist Ferys Wunsch, das Unbeherrschbare (unklare, unbürgerliche, ungeregelte Verhältnisse) zu beherrschen: er wollte mehr sein als Staffage und wurde zum Material, was ihm Blasi durch sein instinktives Verstehen von Konkurrenz auf dem beruflichen (Kunstmarkt) wie auf dem privaten Sektor (Frauen) zurückspiegelt. Am Ende ist die „Manipuläschn“ gelungen. Daß wer anderen eine Grube gräbt selbst hineinfällt, ist nicht Moral, sondern Gesetz, welches einschließt, daß jeder Versuch, ihm durch Manipulationen zu entgehen, schon eingeplant ist. The Big Other der modernen Künstler: Donald Duck, Jazz und Beckett – die Bezugspunkte von Change, – können ein Lied davon singen. Blasi aber, der gelehrige Gewinner, geht als verfehltes Opfer als lebensfähige Figur aus der Geschichte hervor, als postbohemistischer Typ, zwischen Cretin, Karrierist und Rebell: die Sorte, die im Gegensatz zu den Elitisten bis heute überlebt hat.
Radikalität und Un-Frei-Tod
In die Zeit der Entstehung von Change fällt die Institutionalisierung und Organisierung der vielen dissidenten und devianten Praktiken, die in den 50ern und frühen 60ern noch „heroische“ Einzelfälle einer, mit heutigen Verhältnissen verglichen, noch enorm unorganisierten, unsubventionierten Boheme waren. Diese Kräfte waren nun zu „Studentenrevolten“ in allen Bereichen der Kultur zusammengezogen worden, gemeinsame Ziele und dahinführende Regeln waren verabschiedet worden, der Übergang von Radikalität in Radikalität als Bewerbungsschreiben bis zu Radikalität als Unterrichtsgegenstand folgte in den 70er Jahren nach. Der Widerspruch zwischen Demonstrationen (nicht wünschenswert) und Belebung der Innenstädte (wünschenswert) schrumpfte zu einer Geschmacksfrage, bis er in seiner postmodernen Versöhnung schmolz. Wer jetzt verzweifeln würde, würde einen Freitod wählen, der nichts freies mehr an sich hätte. Das kommerzielle oder politische Kalkül, also die „Regeln der Macht“ oder „The Big Other“, hatte immer schon vorher einen „Plan“, dessen strategischer Überlegenheit durch Imitation sich selber via „Manipuläschn“ anzuschmiegen, nur zu dem schrecklichen Ende führen konnte, das die ultima ratio kleinbürgerlicher, egozentrischer Souveränitäts- und Freiheits-Illusion traditionell ist; der Leichnam des Selbstmörders ist nichts als das Symptom einer Krankheit, die schon vorher diagnostiziert worden war. Becky Thatchers Augen bleiben trocken. Dies konnte man aber in den 50ern vielleicht noch nicht wissen, weswegen man sich die Gesetzmäßigkeit der eigenen vermeintlichen Gesetzlosigkeit durch eine Herrenmenschenmystik noch „selbständig“ herbeiinszenieren wollen konnte, die Regeln noch zu gründender, späterer Parteien vorwegnehmend. Die deterministische Mechanik der ästhetischen Praxis im Sozialen: was in der Künstlergruppe Ergebnis eines Experiments war, wird später zum Know-how der Macht.
Frühe und klassische Boheme, Postboheme, Blasi – Imitation und Gegnerschaft
Vor diesem Hintergrund blickt Change sozusagen auf die noch unabhängigere, über die eigenen Regeln sich noch unklare, bohemistische Klassik zurück und entdeckt in ihr den gesetzmäßigen Ursprung der totalen Unfreiheit jener Freiheit, über die heute Institutionen frei verfügen. Und die in einen Freitod führen mußte, dem noch anhing, nicht einmal frei, sondern das Ergebnis nicht nur einer „Manipuläschn“ zu sein, sondern auch noch einer „Manipuläschn“, die mit dem Ziel, selber Souveränität zu erlangen, veranstaltet worden war. Der englische Kunsthistoriker T.J. Clark hat einmal festgestellt, daß die Strategie der frühen Boheme nicht Differenz und Gegnerschaft, sondern in übertreibender Parodie übergehende Imitation gewesen sei. Deren Ergebnis war, wenn man so will, eine „unwillkürliche Differenz“ auf der ästhetischen Ebene, der soziale Differenzen, Anpassungsschwierigkeiten, alle Arten von vorauseilenden oder zurückbleibenden Anachronismen zugrundelagen. Seit diese Differenz aber als Ausnahme (von gesellschaftlichen und anderen Determinanten, Gesetzmäßigkeiten) auf der Ebene Kultur legalisiert, aus einer im Grunde indifferenten, weil legalisierten, Position heraus geplant wird, als Symptom einer produktionsnotwendigen und nicht produktionsnegativen Andersartigkeit, die daher nicht anders ist, fällt sie zurück zum Gegenstand gerade dieser Gesetze, parodiert sie jetzt, unwillkürlich und grausam gesteigert, sich selbst, zur Drastik gezwungen nicht mehr, indem sie spielt, sondern indem sie exekutiert. Indem er wiederum dieses sich selbst unklare Dilemma der ganz besonders unfreien, freien Konkurrenten um prämierbare Andersartigkeit auf dem pluralistischen Markt wiederum gelehrig parodiert, gewinnt Blasi den alten Vorsprung zurück. Die Gruppe um Fery schließlich, die manipulierend große Manipulationen des Systems imitiert, erhält schließlich auch ihren Differenzgewinn, Blasis Unabhängigkeit. Nur daß im Sozialen der Gruppe nicht das planende Individuum prämiert wird, sondern irgendeiner. Diese Soziallogik konnte Fery als Noch-Elitist nicht verstehen.
Linksradikaler Elitismus: die Situationistische Internationale
In den späten 50er Jahren gab die Situationistische Internationale (in ihrer eigenen Publikation) eine Anzeige auf, in der sie fragte: „Halten Sie sich für ein Genie? Oder glauben Sie zumindest, über eine außergewöhnliche Intelligenz zu verfügen? Dann nehmen Sie Kontakt mit der Situationistischen Internationale auf.“7 Man suchte also nach Leuten, die mehr sein wollten als Staffage. Zu denen, die sich meldeten, nicht auf diese Anzeige, sondern im Verlaufe der Geschichte der SI, durch die Vermittlung ihres Mitglieds Asger Jorn, gehörte die deutsche Gruppe SPUR. 1959 wurden die SPUR-Maler bei einer Konferenz der SI in München aufgenommen. Sie konnten natürlich als vielleicht erste westdeutsche Regung eines dissidenten Avantgarde-Bewußtseins nach dem Kriege nicht mit der von brillanter negationistischer, an der französischen Avantgarde-Tradition geschulten poetischen Eleganz mithalten, die der geheime SI-Chef Guy Debord stalinistisch wie ein Indiz von „richtigem“ Bewußtsein einsetzte. Zudem war ihre Position als Immer-noch-Maler in der politisch-metaphorisierten Avantgarde-Logik problematisch, der Maler schlechthin ein naives und bürgerliches Tier, genau wie in Change, das ja von der erzmodernen und wiedermal zeitgemäßen Konfrontation: Malerei versus Konzept-Art handelt. Egal, ob Fichten oder Abstrakter Expressionismus. 1962 wurde die SPUR zu einer Konferenz nach Paris zitiert, wo sie in einem demütigenden, stalinistische Schauprozesse zitierenden Verfahren ausgeschlossen und ein damaliger Assistent, Uwe Lausen, zum Chef der deutschen Sektion der Situationistischen Internationalen bestimmt wurde (ein letzter kleiner Seitenhieb, der den Opfern der Hierarchie bedeutete, sich nicht auf eine Ablehnung von Hierarchien berufen zu können). Sie wurden wegen einer wahrscheinlich vergleichbaren Unterentwickeltheit „poetischer“ Fähigkeiten, die bei Wiener als das Nichtvermögen, aus dem „Kaffeehaus ins Unbekannte zu geraten“ vorkommt, ausgemustert – nicht ohne wie andere SI-Mitglieder vor ihnen und nach ihnen, zu Material einer poetisch-stalinistischen Inszenierung geworden zu sein, weil sie mehr sein wollten als Staffage. (Die Geschichtsschreibung der Beteiligten hat natürlich andere, inhaltliche Gründe ausgemacht: Debord warf SPUR wie den anderen vor und nach ihnen ausgeschlossenen Künstlern vor, auf dem Kunstmarkt reüssieren zu wollen, sie wiederum ihm, ihre kreative Potenz durch papierene Formeln wie „situationistische Disziplin“ zu unterdrücken. SI-Historiker Roberto Ohrt diagnostiziert einen Konflikt zwischen Wort und Bild – das mag alles stimmen, ändert jedoch nichts daran, daß die SI Debords nur existieren und attraktiv sein konnte, weil sie immer wieder das Mittel des Ausschlusses als Opferung einsetzte, um zu garantieren, daß ein künstlerischer Schritt, eine Gruppenmitgliedschaft und andere normalerweise rein symbolische Akte Folgen im Realen haben würden.)
Formalisierung von Stimmungen
Die SI hat mit der von Wiener beschriebenen Szenerie nicht nur gemeinsam, daß sie einen poetischen Kampf gegen die Langeweile führte, deren sie – ein Unterschied – mit politischen, marxistischen Begriffen Herr zu werden versuchte. Es ging ihr, besonders ihrem dominierenden Denker Guy Debord, hauptsächlich darum, das noch nicht Meßbare oder noch nicht Gemessene der „Stimmung“ und die Konstruierbarkeit von Situationen zu untersuchen und zu formalisieren. Beiden hier angedeuteten Szenen, die sich ungefähr zur selben Zeit und circa fünf bis zehn Jahre vor der Niederschrift von Change zugetragen haben müssen, ist trotz des Unterschieds zwischen offen thematisierter Psychotechnik und politischer Begrifflichkeit gemeinsam, daß sie den Nachweis ihrer avantgardistischen Eliteposition sich erbringen wollten/mußten, indem sie Mitbewerber, als „mehr als Staffage“ angelockt, in Material umzuwandeln wußten. Das hat nichts mit einem eher dem vorigen Jahrhundert entnommenen Mabuse-mäßigen Motiv eines dämonischen „Spiels mit Menschen und Menschenschicksalen“8 zu tun, sondern mit einer durchaus melancholischen und im Geiste der eben verlorenen Poesie verübten Handlung, bei der sich die schärfsten Liebhaber dieser avanciertesten bürgerlichen Verfeinerungstechnik den letzten antihumanistischen Kick geben, um sich und ihr Talent endgültig den großen „nichtsubjektiven“ Diskursen zur Verfügung zu stellen: Kommunismus, Naturwissenschaft etc. Immer verbunden mit einer nicht zu unterdrückenden kulturpessimistischen Trauer, die sich den Verlust des Glaubens an die Poesie und die darin schon erworbenen Fähigkeiten nur erklären wollte mit einem beispielhaften Niedergang des Restes der Menschheit. Ein Niedergang, der aber von der großen nicht-subjektiven Bewegung der Industrialisierung der Seele und des Poetischen ebenso ausgelöst worden sein soll, wie in ihm die Poesie aufgehoben sei. Ein berühmter Satz von Guy Debord: „Ich kenne kaum etwas anderes, dessen Schönheit es den in Paris angeschlagenen Metroplänen gleichtun könnte, als die zwei im Louvre ausgestellten Häfen in der Abenddämmerung von Claude Lorrain, die die genaue Grenze zweier städtischer Stimmungen darstellen, die so verschieden sind, wie man es sich nur vorstellen kann.“
„Zwei, drei Generäle und siebzig Waschlappen“
Die SPUR-Leute hatten nicht die Unbekümmertheit von Blasi, und Guy Debord war intelligent genug, einen, der diese Unbekümmertheit, freilich auf einem anderen Niveau, aufzubieten wußte, Asger Jorn, nicht zum Opfer zu wählen. Dieser setzte Debords poetisch-marxistischer Melancholie seine Malerei entgegen, der er den gleichen Status zubilligte wie Debord der Kritik. Da wo Debord dem traditionell für kontingent Geltenden (Stimmungen, Situationen, Langeweile) nicht nur Gesetzmäßigkeiten ablesen wollte, die es mit Metroplänen aufnehmen können sollten, sondern diesem Kontingenten sogar über politisch begründete Eingriffe begegnen wollte, plädierte Jorn für eine Praxis, die er vielleicht etwas zu naiv in der Malerei gefunden haben wollte, und die sich der Kontingenz stellte. Die Opferung der SPUR blieb kein Einzelfall, im Schlußkommunique der SI blieben nach zahllosen Ausschüssen und Abrechnungen „zwei, drei ruhmreiche Generäle und siebzig Waschlappen“9 übrig, wie Roberto Ohrt erklärt. Jorn wurde nicht ausgeschlossen; er verließ die SI auf eigenen Entschluß, blieb aber Debord und der Organisation – die Ausnahme – freundschaftlich verbunden.
Ein vernunftkritikkritischer Traum
In den späten 30ern sollen Pariser Surrealisten unter der Führung von Georges Bataille sich vorgenommen haben, im Dienste der Kunst und im Rahmen eines öffentlichen Rituals in einer Kirche einen Menschen zu opfern. Bald fanden sie einen armen Schlucker, der sowieso nicht mehr wollte und den sie unterschreiben ließen, daß er aus eigenem Antrieb aus dem Leben geschieden sei und keinerlei Rechtsansprüche für ihn oder seine Hinterbliebenen aus der Opferung entstünden und außerdem die verantwortlichen Künstler juristisch exkulpiert seien. Dafür gaben sie ihm etwas Geld für Begräbnis, Hinterbliebene und Henkersmahlzeiten. Als Alexandre Kojève davon erfuhr, lachte er Bataille aus und sagte etwa: „Ihr seid wie Taschenspieler, die sich selber Taschenspielertricks vorspielen lassen, um an Magie zu glauben …“ Die Aktion wurde gestoppt.
Der Trauminhalt
Bezeichnenderweise weiß ich nicht, ob ich diese Story gelesen oder geträumt habe. Ich glaube schon, daß ich sie gelesen habe, sogar zu wissen wo. Aber diese Story steht nicht da, wo ich sie gelesen zu haben glaubte, jedenfalls nicht so. Bataille-Forscher haben so nicht von ihr gehört. Beim Bataille-Thanatographen Mattheus finden sich immerhin zwei Hälften der Story weit auseinandergezogen: Als die Geheimgesellschaft „Collège de Sociologie“ gegründet werden soll, fragt man Kojève, ob er mitmachen wolle, und bekommt die entsprechende Antwort; an anderer Stelle wird eine Opferung erwogen, um den Zusammenhalt der Gruppe durch ein gemeinsames Verbrechen als Opfer zu besiegeln, ganz explizit also und ohne Illusion über den rein gruppendynamischen und gruppengesetzstiftenden Charakter des Opfers also; angeblich soll sich sogar – laut Caillois – Batailles Geliebte Laure freiwillig gemeldet haben. Doch all das hatte ich noch nicht gelesen, als ich mich selbst zum ersten Mal einem Anderen die Geschichte erzählen hörte. Vielleicht habe ich sie also doch geträumt. Erklärbar wäre so ein Traum durch eine Recherche, mit der ich zu dem Zeitpunkt, als sich mir die Story einprägte, tagsüber beschäftigt war: der geistesgeschichtliche Weg von Linksradikalismus über Vernunftkritik zu ästhetizistischem Neokonservatismus und Rechtsradikalismus. Zu meinem Material gehörte etwa Jacob Taubes’ Buch Ad Carl Schmitt – Gegenstrebige Fügung10, in dem Kojève recht anschaulich geschildert wurde. Bataille spielte ebenfalls eine Rolle, weil seine Schriften in deutscher Übersetzung von dem Neo-Rechten Gerd Bergfleth für den Matthes-&-Seitz-Verlag herausgebracht wurden, der natürlich auch in dieser Recherche vorkommen mußte. Es wäre also möglich, daß ich nur die Wahrheit („true meaning“) der Vernunftkritik geträumt habe, jener von enttäuschten Linken veranstalteten Opferung ihrer Wahrheit, der Vernunft, die sie als mörderisch erkannt haben, um sich genau dem hinzugeben, was an der Vernunft mörderisch ist: der Tat, der Konsequenz, dem blinden Gesetz, der Irrationalität, die entsteht, wenn das theoretisch als richtig Erkannte wirklich leben, wirklich eingreifen soll, wenn es exekutiert werden muß. (Vor der Vernunft gab es die [legitimierte] Tat nicht, nach der Vernunft gibt es nur noch Tat.) Vor drei Tagen, lange nach der Niederschrift dieses Textes, traf ich einen Literaturwissenschaftler und Kenner, der die Story auch so kannte, wie ich sie geträumt hatte, und auch nicht wußte woher.
Legitimität des Illegitimen
Das Problem, das durch eine Opferung – welcher der beschriebenen Art auch immer – gelöst werden soll, ist auch das der Konstruktion von Legitimität für diejenigen sich formierenden Künstler und Subkultur-Cliquen, die allen naiven Glauben an Authentizität und Wirkung verloren haben. Angehörige der Punk-Generation konnten sich ganz „natürlich“ in nicht nur Debords artifiziellen Stalinismus hineindenken. Wir wollten nicht nur nicht in das frigide Gefängnis der Künste eingesperrt sein, wir hatten unseren Stalinismus in maoistischen K-Gruppen gelernt, aber irgendwann die Begeisterung für Maos Gedichte verloren. Die durchaus richtige Beobachtung, daß die Geschichte der SI die eines einzigen Scheiterns notdürftig als leninistisch maskierter Elitismen eines brillanten Kopfes war, der seine Brillanz lieber im Sozialen des Kollektivs austragen wollte (aus Gründen, die wir nur zu gut verstehen konnten), zugunsten einer anderen künstlerischen Praxis, die sich in der Aktion, im Leben verwirklichen wollte, aber auf Kosten derjenigen, die Staffage oder Material eines Sozialen darstellten, das noch nicht darauf vorbereitet war, wie ein Gedicht behandelt zu werden und nur aus versagenden Menschen bestand, dieser Einwand war ein Gedanke, den wir als bürgerliche Spielverderberei abgetan hätten. Debords Satz „Der erste moralische Mangel bleibt die Duldsamkeit in allen ihren Formen“ könnte mich noch heute begeistern, wenn ich nicht seit Jahren in kollektiver sozialer Praxis die Lektion immer wieder hätte lernen müssen, wie Duldsamkeit mit Verstehen – jenseits bloß liberal-höflicher Toleranz – zusammenhängt (im funky Nebeneinander der individuellen Geschwindigkeiten). Tatsächlich sperrt diese Duldsamkeit das, was wir hier Poesie nennen, für immer im Reich des Ungefähren ein, das sogar laut z. B. Rilke seine führenden Vertreter immer abgelehnt haben. Ein Ende dieser Opposition von grausamer Reproduktion des Gesetzes in allen Akten der Verwirklichung und wirkungsloser Beliebigkeit wäre wohl nur herbeizuführen, wenn man die Subjekt-Objekt-Beziehung Poesie/Kunst versus Welt/Politik aufzulösen lernen würde.
Büro, Büro
Die Mechanismen, die wir als poetisch zu empfinden gelernt haben, sind, wie Adorno noch bedauernd ahnte, längst zu ihrem Vor- wie Nachteil in ein Soziales ausgewandert, wo auch nicht mehr die auf den zweiten Blick terroristische Honesty der 70er regiert. Die Voraussetzungen dieses Sozialen sind tribalistische Politik, Industrialisierung und Digitalisierung. Ein Indiz für den Beginn dieser Entwicklung war ja die Konjunktur der Künstlergruppen in der klassischen Moderne, der Band in der Pop-Musik und schließlich die gegenwärtige Tribalisierung westlicher Gesellschaften. Die Ausbeutungsverhältnisse und Rituale, die über das Künstler-Ich, die Gruppe, ihren Weg genommen haben, diese Voraussetzungen von Produktion poetischer Stimulanz sind in industrielle Verhältnisse eingezogen. Nicht die Produkte haben sich gewandelt in der Kulturindustrie, sondern in „normale“ Arbeitsverhältnisse sind „poetische“ Strukturen eingezogen: Die Konjunktur, die der Zusammenhang der Opferung in Kunst/Kulturproduktion, der menschlichen Kosten, die bei der Entstehung „großer Werke“ anfallen, zur Zeit erlebt – von Theweleits Buch der Könige bis zum Interesse der Massenmedien an Schicksalen wie dem der Camille Claudel – hängt damit zusammen, daß ein immer größerer Bevölkerungsteil heute von seiner „Kreativität“ lebt. Von und in Produktionsverhältnissen, wo seine Fähigkeit, Stimulanz zu erzeugen, gefragt ist und bald wahrgenommen wird als die Umwandlung, Verdichtung, Härtung von anderer, möglichst noch unbearbeiteter, gerne „authentisch“ genannter Stimulanz. Also: von mehr als Staffage in Material, um diese geniale Formel ein letztes Mal zu bemühen. Denn in ihr steckt ja die von Künstlern seit der Romantik als den ersten wahrgenommene Industrialisierbarkeit des Poetischen und der besondere Genuß, den sie beim Anblick eines „human being as a automaton“ (Paul Bowles) empfanden. Dieses Produktionsverhältnis, das früher das der Künstler war, findet sich heute in vollendeter Industrialisierung in all den Medienberufen, bei denen es vordergründig betrachtet und für Außenstehende gar nicht darum geht, etwas Neues oder Stimulanz herzustellen. Schon 1918 fiel Arthur Cravan auf, daß auf der Straße nur noch Künstler herumlaufen. Keine Chance, noch einen Menschen zu treffen. Nicht zuletzt auch wegen der von keiner Sozialgesetzgebung, keiner Versicherung oder Krankenkasse bedachten oder abgedeckten Risiken der industrialisierten Stimulanzproduktion wurde ein Buch wie Theweleits Buch der Könige als Vorstudie zu einem Kapital der Kulturproletarier notwendig und so erfolgreich. Change wäre in diesem Zusammenhang als Vorstudie für eine neue Staffel der erfolgreichen Serie Büro, Büro zu betrachten. Diese Komödie ist heute Büroalltag in Werbeagenturen. Und da dort das Defizit an Legitimierungen meist noch viel größer ist als nach dem Verlust des Glaubens an die Poesie, sind Opferungen ganz anderer Art vonnöten. Die alte Büro-Intrige ist eben auch raffiniert geworden und gehorcht nicht mehr den alten Gesetzen. Die Doppelnatur der Opferung in der modernen Kunst – Legitimierung durch erwiesene Wirkung von Kunst nach außen, Einschwören des kleinen Kollektivs auf eine Linie nach innen – wirkt wie das Modell für den Führungsstil des durchschnittlichen Creative Director, die „Manipuläschn“ hat über den Weg der Imitation von Unbefugten in ihre ursprüngliche Sphäre zurückgefunden, die Unbefugten wurden eingestellt. Blasi hat eine Medaille vom Art Directors Club gewonnen. Die Nachfolger von Fery heißen aber im geschichtlichen Maßstab Otto Mühl oder Erich Honecker. Warum hat Kojève wohl so laut gelacht? Weil es ja wirklich zum Lachen oder so lächerlich ist?
- Alfred Hitchcock: Rope – Cocktail für eine Leiche, 1948, nach dem Theaterstück von Patrick Hamilton von 1929. Darsteller: Farley Granger, James Stewart, John Dall. ↩︎
- Donald Spoto: Alfred Hitchcock – Die dunkle Seite des Genies. München 1986, S. 360. ↩︎
- Slavoj Žižek: Looking Awry – An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture. Cambridge, MA und London 1991, S. 74. ↩︎
- Bob Dylan: „Absolutely Sweet Marie“ auf Blonde On Blonde, CBS 1967. ↩︎
- Oswald Wiener: „Einiges über Konrad Bayer“. In: Die Zeit, 17.2.1978 (nachgedruckt in: Verena von der Heyden-Rynsch (Hrsg.): Riten der Selbstauflösung. München 1982). ↩︎
- Ute Nyssen: „Zu einigen Stücken von Wolfgang Bauer“. In: Wolfgang Bauer: Die Sumpftänzer – Dramen, Prosa, Lyrik aus zwei Jahrzehnten. Köln 1987. ↩︎
- Situationistische Internationale 1958–1969. Hamburg 1976. ↩︎
- Fritz Lang/Thea von Harbou: Doktor Mabuse der Spieler. Spielfilm 1923. ↩︎
- Roberto Ohrt im Gespräch mit dem Verfasser in: Texte zur Kunst. Vol. 1. Köln 1990. Bezogen auf Guy Debords Text Die wirkliche Spaltung in der Internationalen. Hamburg 1978. ↩︎
- Jacob Taubes: Ad Carl Schmitt – Gegenstrebige Fügung. Berlin 1988. ↩︎