Let’s Die Again

Talk-Shows und Titelgeschichten, im Herbst ’83 auf Lebensrettung abonniert, umkreisen im Frühling ’84 ein neues Thema: Sterbehilfe. Nicht für den Wald, der in diesem Fach keinen Nachhilfeunterricht braucht. Sondern der Mensch steht im Mittelpunkt.

So fuhr sie davon und sie war so schön,
ich hab’ sie als letzter noch lebend gesehn.
Sie winkte noch einmal mit der linken Hand,
bevor sie um die nächste Kurve verschwand.
Jetzt war alles zu spät –
Oh, Grace Kelly, verlaß mich nicht, wie soll ich leben ohne dich??
Grace Kelly ist tot, Grace Kelly ist tot, Grace Kelly ist tot

(aus „Grace Kelly ist tot“, Die Ärzte, eine Band aus Berlin)

Es wird wieder gestorben. Jahrelang hat die moderne Medizin Leben verlängert, mit immer neuen Bestrahlungs- und Operationsmethoden Leben verlängert. Jetzt ist Schluß.

Die Sterbeziffer pro Hundert und Jahr ist in der Bundesrepublik von 1,05 auf 1,21 gestiegen – ein Spitzenwert innerhalb der westlichen Industriestaaten. Das liegt nicht nur daran, daß weniger geboren wird in der Bundesrepublik, das liegt vor allem daran, daß der Alten-Berg, den die allzu humane Humanmedizin in den letzten Jahren aufgebaut hat, langsam wieder abgebaut werden muß: endlos verlängern geht eben auch nicht, und zur Zeit kippt die Kurve nach unten.

,Just in diesem Moment flammt eine alte Diskussion wieder auf, eine dieser klassischen liberalen Diskussionen, bei denen man sich fragt, worum es eigentlich wirklich geht, um dann überrascht zu werden, daß es wieder einmal nur eine Produkteinführungskampagne war.

In den 50er Jahren gab es Rüstungsgegner, vor allem in Amerika, deren liberaler Pazifismus in der Forderung gipfelte: man möge doch bittschön, gell, net gar so große Bomben bauen, diese großen mit abertausend und wasweißichwieviel Tonnen. Die sollte man doch bittschön nicht bauen, weil dann halt die ganze Welt in die Luft gehn tät, wenn sie mal explodieren. Man weiß ja nie.

Das war eine ernstgemeinte, heiß diskutierte Forderung der Liberalen der 50er Jahre. Sie gipfelte in sympathischen Rockabilly-Nummern wie „It Was a 50 Megatons“ und dem Horror vor der Weltvernichtungsmaschine, die wir aus dem Film „Dr. Strangelove“ von Stanley Kubrick kennen. Erst wehrten sich die Rechten zähneknirschend, den Pluralismus aufrecht erhaltend, den Skandal der Forderung und die mit ihr verbundene Unterminierung der Abschreckungsstrategie beschwörend, bis sie plötzlich eine neue Generation kleinerer Atomwaffen aus dem Hut zauberten, an denen die entsprechenden Brain-Trusts schon die ganze Zeit gearbeitet hatten, und die nun nicht nur auf die Nachfrage der Militärs stießen, sondern ebenfalls auf die sorgsam vorbereitete Nachfrage der Liberalen.

Heute will eine neue Grünliberale Verteidigungstheorie gegen den Widerstand der Wörners eine Rekonventionalisierung der NATO-Streitkräfte durchsetzen, während in den Forschungsabteilungen der Rüstungsindustrie das Produkt „Konventionelle Waffe mit quasi-nuklearer Wirkung“ unmittelbar vor dem Abschluß steht. Irgendwann wird dann die Rechte zähneknirschend nachgeben und sich dem Verteidigungskonzept eines Bastian öffnen, und die Rüstungsindustrie wird sagen „Voilà! Wir haben, was sie wollen!“

Ähnlich hatte die Anti-AKW-Bewegung vor allem die Funktion, eine Generation unausgereifter Produkte zu ersetzen. Die Industrie hatte erstens keine Imageprobleme, wenn sie irgendwo einen Schrottbrüter abwracken ließ – denn schließlich war die Bewegung für diesen Vorgang verantwortlich – und konnte sich zweitens über die Nachfrage nach neuen Brütern freuen, für die es nun noch das zusätzliche Verkaufsargument „Sicherheit“ gab.

Nun also Sterbehilfe: Was soll verkauft werden? Der Tod?

Realität ist, daß Sterbehilfe ein alltäglicher Vorgang an allen deutschen Krankenhäusern ist, genau wie Parteienfinanzierung in Tateinheit mit Steuerhinterziehung oder Unzucht mit Abhängigen oder fahrlässige Völkerverletzung mit Todesfolge in der Dritten Welt. Warum also jetzt der Hit für Hackethal?

Wir erinnern uns. Der Mann trat erstmals in Erscheinung mit einer Art medizinischer Null-Lösung für schwere Krankheiten. Nicht immer gleich operieren, das macht die Sache oft nur noch schlimmer, kein bewußtloses Vertrauen in Halbgötter-in-Weiß und auch Sterbehilfe, wenn der Patient sich das ganz doll wünscht. Die Folge war, daß der Markt der Mediziner wieder etwas offener wurde. Man konnte nicht mehr zum nächstbesten Halbgott gehen (was ich als einen paradiesischen Zustand erinnere. Höre auf deinen Halbgott und seine Diagnose. Allein der Seelenfrieden, den dieses Urvertrauen auf seine Allwissenheit bei mir schuf, ließ alsbald alle Krankheitssymptome abklingen), sondern wurde plötzlich zum kritischen, mitdenkenden Patienten: Paranoia, Hypochondrie und eine gesunde kapitalistische Spökenkiekerkonkurrenz waren die Folge. Alternatives Gesundheitsbewußtsein breitete sich aus, und wollte man einen Bekannten um eine Kopfschmerztablette bitten, wurde einem eine übelriechende Kleie aus dem Land hinduistischen Glaubens mit nicht minder hinduistischer Pharmazie gereicht.

Doch jetzt scheint die Nachfrage nach Gesundheit langsam abzuklingen. Selbstmorde nehmen zu, und da das große Massensterben durch einen so sehnlich herbeigewünschten Atomkrieg vorläufig ausgeblieben ist, steigt die Nachfrage nach einem schönen individuellen Tod. Da die Nachfrage bei größeren Bevölkerungsteilen erst noch geweckt werden muß, wird zur Zeit diese Diskussion angeheizt, die zunächst im Rahmen des individuellen Leidens „Krankheit“, aber immer vordem Hintergrund allgemeiner Schlechtgelauntheit und Depression, das Gefühl, ja die Gewißheit verbreiten soll, daß es sich zu leben eigentlich nicht lohne, jedenfalls unter gewissen Umständen zunächst mal und eigentlich doch überhaupt. Denn selbst wenn wir im einzelnen keinen Krebs haben, der eine oder andere unter uns jedenfalls noch nicht, so haben ihn doch die Natur, die Mitmenschlichkeit, der Wald, die Politik und all das andere. Wenn dergestalt die Leiden unerträglich werden, dann möcht man doch einen humanen Tod, einen individuellen, einen richtigen, einen würdigen vor allem, denn das Individuum hat ja ganz viel Würde und möcht daher auch ganz würdig sterben.

So die liberale Forderung. „Das Abendland will sich nicht mehr verteidigen/geworfen will es sein“, schrieb Gottfried Benn Anfang der 50er. Heute müßte man sagen: Das Abendland will sich nicht mehr verteidigen/Sterbehilfe will es. Einen wohlschmeckenden Schierlingsbecher mit einem Schuß Capuccino-Sahne und etwas Schoko-Streußel. Dazu „Koyanisqatsi“ auf Video. So läßt sich’s sterben.

Ein Arzt sagt: „Das Leben will immer leben, nur das Individuum will sterben.“ Und natürlich kann man niemanden dazu zwingen, wie die arme Hackethal-Patientin mit Trigeminus-Schmerzen zu leben. Diese Fälle wurden und werden von den zuständigen Halbgöttern diskret geregelt. Der Kult der Sterbehilfe, des individuellen Todes, will ja auch etwas anderes. Er will die Nachfrage nach dem eigenen Tod wecken. Frauen erzählen auf Partys, daß sie sich jetzt Zyankali besorgt haben. „Sind Sie krank, Madame?“ – „Nein, aber wenn es mal schlimm wird, will ich niemandem zur Last fallen.“ Genau der Punkt. Das Individuum funktioniert in Krisenzeiten, wie seine Erfinder es sich immer gewünscht haben. Läßt die Produktivität nach, steigt der Todeswunsch. Setzt die Produktivität aus, wird der Schierlingsbecher gekippt. Der Sozialstaat ist schließlich eh nicht mehr finanzierbar. Let’s die!

Mittlerweile ist es ja soweit, daß auch die Schulmedizin, also der in dieser Diskussion der konservativen Seite entsprechende Pluralismus-Partner, den Sterbehilfe-Kult anfeuert. Wenn erst der Konsens der Arbeitenden gegen Sterbende, Arbeitslose und Ausländer propagandistisch voll durchgesetzt ist, wenn es in den Krankenhäusern, für deren Erweiterung dann auch kein Geld mehr da ist, richtig eng wird, dann wird unter dem euphemistischen Slogan von der „Sterbehilfe“ sicher härter durchgegriffen werden mit dem unproduktiv und teuer vor sich hinfaulenden Fleisch, das noch nach teuren Operationen schreit, deren Ergebnis im besten Falle zwei weitere Jahre Leben auf Kosten des unfinanzierbar gewordenen Sozialstaates bedeuten würde.

So kann dann überflüssiges Menschenmaterial, Alten-Berge und Suchtzombies, wirksam reduziert werden. Die bürgerliche Klasse ruft den Sterbehilfe-Chic aus und betreibt die Selbstvernichtung mit individualistischem Schierlingschampagner. Das Proletariat krepiert im Namen von Euphemismen an gekürzten Operationen für hoffnungslose Fälle.

Paranoia?

Natürlich habe auch ich immer über den linken Einfallspinsel gelacht, der für alles auf der Welt den CIA verantwortlich macht. Aber Eden Pastora ist wirklich vom CIA. Natürlich habe ich nicht wirklich glauben wollen, der CIA hätte die KAL 007 bewußt in sowjetisches Gebiet getrieben, sondern das nur aus taktischen Gründen an bestimmten Orten behauptet. Bis vor kurzem ein „Panorama“Feature, ein von der gesamten Presse totgeschwiegenes „Panorama“-Feature übrigens, bewies, daß der CIA am Tode der vielbeweinten Passagiere mindestens so mitschuldig sein muß, wie J.R. Ewing an der Totallähmung des kleinen Mickey (also mit an Unmittelbarkeit grenzender Mittelbarkeit).

Paranoia ist also durchaus gesund in diesem Fall, gerade meine, denn es gilt offensichtlich wirklich (nicht im Gehirn eines einzelnen planenden Individuums natürlich, denn noch die größten Schweine sind gute Menschen, denen es ihre private Rechtfertigungsstruktur verbieten würde, zu denken, daß man Alten-Berge und unproduktives Leben wegschaffen, aus Gründen der Staatsraison vernichten müsse), den unfinanzierbar gewordenen Sozialstaat von einigen seiner Nutznießer zu entlasten. Wegschaffen. Darum singen wir mit Chubby Checker und den Residents („Third Reich’n Roll“): „Let’s die again, like we did it last World War.“