Literat-Ur-Viecher

Langsam sterben die Dinosaurier aus. Einer war gerade zu beklagen, für den ein Nachfolger nicht in Sicht ist. Böll ist tot wie sein moralistisches Pendant in der Politik, Heinemann. Lenz hat sich von der wirklichen Welt so weit entfernt wie Helmut Schmidt, bis hin zur „Zeit“. Walser entspricht Erhard Eppler, eine Modeerscheinung der 70er, von der keiner mehr redet, stattdessen von Lafontaine. Einzig der jüngere Außenseiter unter den vier Dinosauriern, Härtling, der Lothar Späth der deutschen Literatur, ist so präsent wie effizient wie breit wie vielleicht doch der Helmut Kohl der deutschen Dichtung. An seine Stelle gehört in diese Quadriga auch eigentlich eher Günter Grass, aber der ist weg wie Wehner.

Alt, weg und tot wie diese Autoren sind ihre Leser, obgleich freilich die Kaufkräftigsten. Die vier vorliegenden Schinken („Frauen vor Flußlandschaft“, Böll; „Exerzierplatz“, Lenz; „Felix Guttmann“, Härtling und „Brandung“, Walser) blockieren von nun an mindestens ein halbes Jahr Wunschzettel von Arztfrauen, selbstauferlegte Kulturabgaben und Hardcover-Investitionsprogramme von Innenarchitekten und leitenden Angestellten in der ganzen Republik, an langen Winterabenden in der Mitte der 80er wird sich die Bourgeoisie dieses Staates auf dem Baumschule gewordenen Exerzierplatz des späten Lenz in Gedanken ergehen, wird schmunzelnd Anteil nehmen, wenn Walsers Alter Ego, von meisterlicher Selbstironie bis zur Schmunzelstarre gewürzt, den Konflikt zwischen deutschem Geist und jungen amerikanischen Yuppie-Studentinnen (geistlos, aber mit knackigen Hintern) durchsteht, wird sich rätselnd und im Bewußtsein, zähe Schreibe sei ein Zeichen von hoher literarischer Qualität, durch den letzten Böll quälen, um sich schließlich, bei Adventsbeleuchtung, und Härtlings leicht verdaulichen Zeitgeschichtskitsch zu erholen.

Freilich weiß dies jeder. Kein halbwegs aufgeklärter junger Mensch, kein kultivierter Kenner, kein wahrer Leser hat in den letzten 5 bis 10 Jahren irgendein Buch irgendeines dieser Autoren auch nur mit der Kohlenzange angefaßt. Daß sie sich jetzt dermaßen massiert und zum Teil auch unlängst verstorben, auf den Markt stürzen, rechtfertigt eine Überprüfung dieses Standpunktes. Entdecken wir nicht auch in anderen Bereichen gerade zur Zeit die Nützlich- und Verwendbarkeit ungeschlachter Riesenhaftigkeit: ist nicht das Monstrum die Lieblingsidee aktueller Kunst- und Kulturstrategie, auch mal gerade bei den Jüngeren?

Peter Härtling ist ein Monstrum, optisch. Sein Roman ist, wie vermutlich alles von dem aus Fernsehdiskussionen bekannten unsympathischen Süddeutschen, schwer erträgliche Babysprache um einen Stoff, aus dem man ZDF-Zeitgeschichtsdokumentarspiele macht. Eine Geschichte, in der Juden in den 20er Jahren bei Tisch beiläufig Unterhaltungen führen wie diese:

„Hast du gelesen, Felix, der Hitler ist zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden.

Ja, Jona.

Damit wird er verschwunden sein aus der Weltgeschichte.

Bist du sicher?“

Amüsant, vollgepropft und elend ironisch: die neuesten 318 Seiten Martin Walser, sicher das im konventionellen Sinne beste Buch dieser vier. Das eingearbeitete Material duftet authentisch nach Kulturszene jenseits der Lebensmitte, reichlich und deftik, die rund um die Haupthandlung fließenden Anekdötchen, Geschichtchen und stets ironischen, stets über die Maßen dezent ironischen als solche kaum erkennbaren Invektiven vermögen den abgespannten, berufstätigen Akademiker aufs Genüßlichste zu divertieren, ja, ich selber konnte zuweilen nicht umhin, amüsiert distinguiert die Lippen zu schürzen, gleichsam zur Rosette zu formen und dergestalt mein Einverständnis mit dieser edel und illusionslos gealterten, gepflegt gebremsten Intelligenz still und ganz allein für mich kund zu tun. Es gibt wohl nichts elender Verlorenes und mitleidsträchtiger Anachronistisches dieser Tage als einen solide guten Schriftsteller, der einfach gut und solide und ohne größere Absichten (außer kleiner, fieser Ironie) gehobene Unterhaltung produziert.

Ganz anders, weil zum Beispiel absolut unlesbar, dafür garantiert monströs, der bis zur Knäckebrot-Konsistenz durchgedrögte, späte Lenz: 460 Seiten zäheste Knete, ohne jedes Wollen, ohne jeden Drive, aber andererseits auch nicht als sinnentleerte Stille gedacht, sondern zutiefst durchdrungen vom Parabelhaften, das bis ins kleinste Satzpartikelchen fleht: Interpretier mich! Entdecke, wie ich für 50 Jahre jüngere Geschichte stehe! Bin ich nicht Deutschland? Der zweite Weltkrieg? Der Marshallplan, die BRD? Aus einem Exerzierplatz wird eine Baumschule, die später Erbstreitigkeiten zum Opfer fällt. Oh Gründer und Söhne! Oh Verfassungsväter! Oh Yuppies! Adenauer, Brandt und Kohl!

Alles erzählt aus der Perspektive der rechten Hand des Gründers, eines einfachen Mannes, der ebenfalls den Streitigkeiten zum Opfer fällt, dieser einfache Mann, dieser kleine Mann, der mal wieder nicht Geschichte machen darf.

Tja. Unendlich viele zähe Deutschstunden lassen sich mit diesem, nur um des Interpretiert-werden-wollens geschriebene Schinken füllen, der aber gleichwohl eine eigene Qualität entwickelt, wenn man diese ewigen, obszönen Interpretationsangebote (unterste Schwierigkeitsstufe, „Bild“-Kreuzworträtsel – Das Leben ein Rebus) einfach mal ignoriert. Dann entfaltet das Buch den stillen, drögen, nebeligen Reiz einer norddeutschen Marschlandschaft im Frühnovember. Und hat etwas sehr Entspannendes.

Und Böll? Der zäheste von allen, wirklich die pure Qual, aber auch das grandiose Vergnügen, wirklich in eine garantiert versunkene Welt abzutauchen, in eine Literatur, wo die Autoren noch bizarr-skurrile Namen für ihre Figuren ersinnen (etwas, was man sonst nur noch bei Walser, aber dort in einer High-Tech-Version, findet). Ja, man muß es so nennen: ersinnen. Man muß sich die Mühe vorstellen, man muß sie (die Mühe) mitlesen, die es gekostet haben muß, Namen wie „Erika Wubler“ oder „Eva Kreylplindt“, vermutlich bleistiftkauend durch das kognitive System zu jagen, ja man muß das ganze Knarzige, immens Schwerfällige und, immer wenn man sich die Mühe macht zu verstehen, reichlich Bescheuerte, dieses „Roman in Dialogen und Selbstgesprächen“ auf sich wirken lassen, man muß diesen Roman lesen, bis man ins Bad muß, dann hat man ihn vielleicht begriffen, diesen Böll und seine ganze heroische Schwer-, Hinfällig- und Mattigkeit. Man muß ihn lesen, wie man ein verspätetes abstrakt expressionistisches Bild betrachtet: nur nicht an Absichten und Einsichten denken, sondern sich dem ockerfarbenen Geschmiere hingeben, den Anachronismus aufschlabbern, und dann unter die Dusche. Heinrich Böll, Frauen vor Flußlandschaft, Kiepenheuer und Witsch-Verlag

Siegfried Lenz, Exerzierplatz, Hoffmann und Campe-Verlag
Peter Härtling, Felix Guttmann, Luchterhand-Verlag
Martin Walser, Brandung, Suhrkamp-Verlag