Als eine faszinierende Person fällt sie uns schon seit Jahren auf. Eigentlich seit X-Ray-Spex‚ formidablem „Oh Bondage Up Yours“-Debüt. Eine der fünf größten Punk Singles überhaupt, und Lora bläst das Saxophon. In den folgenden Jahren kamen Singles und LPs und Auftritte, aber nie schafften wir es so richtig, mit ihr in Kontakt zu kommen.
Mehrere kurze Artikel legen davon Zeugnis ab. Erst nach ihrer äußerst ausgeruhten letzten LP ergab sich auch eine ausgeruhte Situation für ein längeres Gespräch, das die Widersprüche, die vielfältigen Neigungen, Facetten dieser Persönlichkeit wenigstens streift.
Von jeher hatte mich Loras leicht ätherische, entrückte Ausstrahlung verwirrt. Man könnte meinen, daß sie mit ihren Gedanken sonstwo ist, aber ein kleiner Witz, ein plötzliches Lächeln zeigen, daß sie ganz da ist; auch wenn sie sich, wie meistens, hinter arabischen Tüchern, Schals, wallenden Umhängen, indischen Gewändern und Pudelmützen verbirgt. Ihre Erscheinung erinnert etwas an Free Jazz Musiker der Sechziger, die gerade auf einem religiösen oder politischen oder auf dem Weltmusiktrip waren und sich gern mit tausend Zeichen ihrer Lieblingskulturen behingen. Bei Lora Logics Musik war Exotik immer im Spiel. Flirts mit Nordafrika z.B. Sie hat letzten Sommer zwei Monate mit Beduinen auf der Sinai-Halbinsel gelebt, und schon auf ihrer ersten LP mit ihrer langjährigen Band Essential Logic liebte sie rätselhafte Namen, Anspielungen und Sätze wie „Diesel injection of light / Medieval rejection of life / Oh, making the commitment / soliciting with the beat / learn the shabby robot rules / in beat religion school“.
BEAT RHYTHM NEWS war ein Dokument eines, nennen wir’s ruhig punkigen, wiedererwachten Jazz-Geistes mit haargenauen, durchdachten Kompositionen, abgezirkelten harten Melodien, dominiert von Loras Stimme und Sax-Overdubs, aber noch frei von der Ätherik und Gelöstheit späterer Singles oder der neuen LP. „Ich find sie gut, die Platte, aber sie war nicht gerade relaxt, das Aufnehmen war verkrampfter, und wir haben manche Stücke monatelang geprobt, deswegen klingt alles so überexakt und kantig. Bei PEDIGREE CHARM war das Schöne, daß die Aufnahmen in dem Bewußtsein entstanden, daß man nicht so ernst nehmen muß, was man tut. Das heißt nicht, daß mir die Platte nicht wichtig ist. Ich wollte diese Sachen schon lange machen, auch schon mit Essential Logic. Aber ich konnte es mit diesen Musikern nicht machen. Wir haben uns gut verstanden, aber du weißt, boys will be boys, und Musiker haben eh alle ein großes Ego. Abends trinken sie und morgens stehen sie nicht auf. Die letzte Tour mit Essential Logic war wunderbar, wir alle wußten, daß es die letzte sein würde, und daraus ergab sich diese tolle Atmosphäre. Danach nahm ich die Platte ein erstes Mal auf. Mit Phil Legg an Gitarre und Bass und mit einem Schlagzeuger, der Duncan hieß. Dann ging ich mit Red Crayola auf Tour und legte das Projekt erstmal auf Eis. Ich war unzufrieden mit Baß und Schlagzeug, und die ganze Platte wurde ein zweites Mal aufgenommen, mit Charles Hayward von This Heat und Ben Annesley, den ich auf der Red Crayola-Tour kennengelernt hatte. (…) Im Vergleich zu früheren Aufnahmen hatten wir überhaupt keine Schwierigkeiten uns zu organisieren, alles entstand wie von selbst.“
Warum in Arizona?
„Oh, das war nicht in Arizona. Wir haben die Platte in meinem eigenen Studio aufgenommen in Brixton. Ein enger kleiner Raum, in dem wir manchmal auch schlafen mußten. Alles war so beengend und deprimierend, daß wir dann die Sache umgedreht haben und das Studio ‚Milton Groovy Arizona‘ genannt haben. Inzwischen nehmen auch andere Leute da auf, und wir bekamen nach der LP begeisterte Anrufe, wie ‚Wer ist der Produzent‘, ‚Wo ist das Studio?‘ Im Moment nimmt gerade Stuart Moxham mit The Gist darin auf.“
PEDIGREE CHARM ist eine Plate, die man weniger leicht in den Griff und ins Ohr bekommt, als man zunächst denken könnte; das geht von den großen Freiräumen, die der Zuhörer in der luftigen Produktion und Loras klarer Stimme vorzufinden meint, die sich aber bald als handfeste Verführung durch intelligente Luftspiegelungen entpuppen, bis hin zu den nahezu kryptischen und verschlüsselten Texten: „Ich sprech nicht gern über meine Lieder nach der Art von ‚Dieser Song-ist-über-das-und-jener-über-das‘, ich finde ‚Martian Man‘ bringt es auf den Punkt.“ Der Mann vom Mars und der kriegerische Mensch, die Schlüsselzeilen des Songs sind „Martian Man is dead / … / action man is only lead / no more fiction / no more fiction / sugared mice are only frosted / … / muscle man is really thin / robots are only thin.“
„Das Lied spricht von der westlichen Zivilisation: Fernsehen, Medien. Keine Fiktionen mehr, sondern Wahrheit. ‚Pedigree Charm‘ (eigentlich Stammbaum) ist ein Wortspiel. ‚Pedigree Chump‘ ist eine bekannte englische Hundefutter-Sorte. ‚Hiss and Shake‘ handelt von alltäglichen Vergiftungen. ‚Grystal Gazing‘ ist der Titelsong eines Films, in dem ich die Hauptrolle spiele und auch die Filmmusik geschrieben habe. Zwei Regisseure, ein Ehepaar, bekamen eine Single von mir in die Hände, weil ihr Sohn das Cover lustig fand. Es war ein Affe drauf. Sie waren begeistert von der Musik, von der sie noch nie vorher gehört hatten. Die Frau schrieb also eine Geschichte. Sie wollte jemanden beschreiben, der so ist, wie sie sich die Person vorstellt, die diese Musik gemacht hat. Sie nannte ihren Charakter Kim. Dann rief sie mich an. Ich las das Drehbuch, und Kim ist tatsächlich genau wie ich. Der Film spielt in Notting Hill Gate unter sechs verschiedenen Personen und spiegelt die ökonomische Depression von ’81 wieder. Drei Personen begehen Selbstmord, und ich bin eine Rockmusikerin, irgendwie ist das Ganze auch ein Witz über ‚Breaking Glass‘. Ich bin irgendwann in ‚Top OfThe Pops‘ und singe ein Lied, das ich einem der Selbstmörder widme, und träller dann aber ganz fröhlich los. Sehr krank das Ganze.“
Es geschieht oft, das man jemanden unerträglich findet, der nahezu das gleiche Denken, das gleiche Weltbild propagiert wie man selber. Man haßt ihn wegen der kleinen Unterschiede. Oder man haßt Leute, deren Denken einem den Lebensraum vergiftet (wie z.B. alle Astralhippies, holsteinischen Studenten, Feuilleton-Liberalen und New-Wave-Dummys) mit seinen Lügen, Eingrenzungen und Wiederholungen. Und es gibt Leute, die man vollkommen versteht, vor allem, wenn es die Möglichkeit gibt, über Kunstwerke zu kommunizieren, und die dennoch Dinge meinen, mit denen man nicht nur nichts zu tun hat, sondern die man normalerweise nur aus elenden Zusammenhängen kennt. Die Ästhetik, die Lora Logics Musik bestimmt, sagt mir bis ins kleinste Detail zu. Sie spricht die Wahrheit. Doch in Loras Rede kommen Begriff vor wie „Körper und Seele“, „spirituell und materialistisch“ oder gar „Krishna“. Obwohl völlig weltlich in ihrer Lebensführung, politisch informiert und von offenem Wesen, gibt es etwas, in ihrer Musik lokalisierbar, das sie selbst als spirituell bezeichnet. Sie erzählt mir die Geschichte eines bestimmten Wissens, das in Indien von Prophet zu Prophet weitergereicht werde, und das eine sehr genau ausformulierte Wissenschaft vom Leben beinhalte, ja, es sei wirklich eher Wissenschaft als Religion. Ausgehend von der Prämisse, daß die Seele wiedergeboren werde, ginge es eben darum, das Übergangsstadium in unseren jeweiligen Körpern so angenehm wie möglich zu gestalten. Die Wahrheit dieser Lehre sei offensichtlich. Wer sich genau ansieht, wie gut alles in der Natur funktioniert, müsse doch einfach begreifen, daß ein höheres Prinzip dahinterstehe. Gerade weil das so offensichtlich ist, ist es doch verdächtig, wende ich ein. „Oh, nein, das ist nicht eine von diesen billigen Hippie-Philosophien, die irgendein geschäftstüchtiger Inder nach Europa importiert, um mit der Scheinlösung anderer Leute Probleme schnelles Geld zu verdienen.“ Jedenfalls unterzieht sich Lora hin und wieder („ganz ohne Zwang, nur wenn ich Lust dazu habe“) einer bestimmten, strengen klösterlichen Zucht in einem Londoner Tempel, wo sie um vier Uhr aufsteht und diverse Übungen mitmacht. Wenn sie auf Tour ist, lebt sie allerdings wieder einen völlig anderen Stil, raucht und trinkt und findet auch nichts dabei, und zwischen Weihnachten und Neujahr fährt sie mit ihrer Familie nach Österreich in den Ski-Urlaub.
„Mit Mayo Thompson habe ich oft nächtelang über solche Fragen diskutiert, und es ist natürlich klar, daß wir uns nie einig werden, denn er ist ja Marxist, und Marxismus hat ein Zentrum, aber für mich ist es klar, daß ein Zentrum immer ein höheres Prinzip sein muß, nichts Weltliches. Trotzdem reden wir immer wieder, und ich bleibe ja auch in Red Crayola.“ Ich sehe es ja auch eher so wie Mayo und rede gern mit ihr. „Es ist ja auch viel Perverses im Namen von indischer Kultur angerichtet worden. Das hat mit der Kolonisierung zu tun. Die Aufrechterhaltung kultureller Traditionen ist ein schwieriges Unterfangen, und es ist klar, daß ein völlig fremder Einfluß wie der englische viel zerstört und entwurzelt hat, aber das hat alles nichts mit dem zu tun, wofür ich mich interessiere.“ Die Unabhängigkeit kann man Lora ohne weiteres abnehmen.
„Mein Glaube, obwohl ich es nicht gern Glaube nenne, denn ich predige nicht gern, und ich würde auch nie in Songtexten von diesen Dingen reden, ist sehr stark beeinflußt worden durch Erfahrungen, die ich in Krankenhäusern gemacht habe. Ich hatte die Gelegenheit, ausgiebig Menschen sterben zu sehen. Und da passiert jedesmal etwas Seltsames. Sie sterben nicht einfach so. In dem Moment, wo der Tod eintritt, wo das Belebte sie verläßt, wird dir klar, daß da etwas den Körper verlassen hat. Man merke das ganz deutlich.“ Lora redet noch eine Weile über die einzelnen Propheten, die sie interessieren, über Indiens Rolle in der Frühgeschichte und über die politischen Implikationen ihrer Religion: „Wenn die Menschen nicht mehr so stark an materiellen Werten hängen, gibt es für sie auch keine Notwendigkeit für geregelte Arbeit und politisches Wohlverhalten. Sie werden freier.“ Leider scheitere ich immer wieder an Begriffen, die mich schon zu Hippie-Zeiten terrorisiert haben und die ich nun von Lora wiederhöre: Energy, Spirit – vage Worte, die für die, die sie verwenden, über magische Kräfte zu verfügen scheinen, die ich aber nicht einmal mit der Kohlenzange anfassen mag. Womit wir wieder beim Thema wären: Ars Longa Vita Brevis. Die Texte von Lora erreichen genau das, was solche Worte nicht erreichen: sie treffen zu. Konkret im Bild, wirksam, ohne auf die reaktionäre Tätigkeit der Interpretation bauen zu müssen, die entkräftet, was Sprache an Kraft entwickelt. Lora sagt: „Ich mag Art & Language gern. Ich mag diese Verbindung von Kunst und Sprache.“ Abends sagt mir jemand, der Recht hat: „Das ist ja gerade das Gute an der heutigen Zeit. Daß jemand bei Hare Krishna sein kann, ohne daß das weiter wichtig ist. Daß die großen Dinge, die früher ein Leben total umkrempelten, heute die kleinen Dinge sind, und daß die kleinen Sachen zählen.“
Es ist die Rough-Trade-Welt, wo so verschiedene Dinge wie Mayo Thompsons hochintellektueller Marxismus, David Thomas’ Jehovah, Lora Logic’s Krishna und Scritti Polittis frankophile Pop-Semiologie nebeneinander existieren können und nicht zu peinlichen Konzepten ausgewalzt werden, sondern einfach und bescheiden zu größerer Buntheit beitragen. Dafür braucht man keine liberalen Toleranzlügen, nur etwas weniger Kleinlichkeit. Werte die klassischen Weltanschauungen einfach ab und verstehe sie als Teil der Pop-Kunst! So wie Kleidung, Gitarrentypus, Haarschnitt oder die weltbewegende Entscheidung, ob Drummer oder Rhythmus-Box. Wer gut ist, hat eben auch das Recht, Recht zu behalten.
Und am nächsten Morgen erzählt Lora einem gewissen M.O.R.K., wie sie Abba findet, CHANGES von Bowie, die Musik ihres Großonkels Kurt Weill und die Gesänge sizilianischer Hirtenjungs. Und ihr Lieblingsclub sei der „Dschungel“ in Berlin, man könnte dort schon nach einem Getränk vollkommen besoffen sein. Irgendwann werde sie ein Buch über Mayo Thompson schreiben, das sei die seltsamste Person, die sie je kennengelernt hat.
„Natürlich sind Heilsversprechen auch Waren. Aber man muß sich ja um irgendetwas kümmern, so … “ Dieses so, mit einem freundlichen Lächeln begleitet, ist Loras Antwort. Sei es, daß sie über den Unterschied von „wahrem Ego“ und „falschem Ego“ referiert, sei es, daß sie ihre Lieblings-LPs aufzählt, alles endet mit diesem lächelnden so. In der Mitte ihrer Stirn hat sie einen Leberfleck, der genau da sitzt, wo bei indischen Brahmanen-Frauen deren künstliches Kastenzeichen. Und wenn ich spirituell in meinem aktiven Wortschatz hätte, würde ich das Wort garantiert auf Loras PEDIGREE CHARM-LP anwenden, so sage ich inspiriert. Wir lassen dann offen, welcher Atem sie angehaucht hat. Sie hat für mich heute die Wirkung, die in den frühen Siebzigern Van Morrisons Platten hatten, Beruhigung und Stärkung, ein kräftiger naturreiner Vitaminsaft fürs Hirn. Mit Poly Styrene, die Lora damals bei X-Ray-Spex rausgeschmissen hat, wird Lora wahrscheinlich bald eine gemeinsame Platte machen. Die beiden haben sich zufällig im besagten Tempel wiedergetroffen und viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Seltsam sind die Wege des Punk. So.


