Lou Reed

Die Parkplätze vor der Philipshalle waren jedenfalls voll und die wenigsten der angereisten Klein- und Mittelklassewagen trugen das gewohnte D auf dem Nummernschild, und neben noch nachbarschaftlichen Ws, Es und Ks gab es auch viel HH, F, M oder gar Bs. Kennzeichen genug also, um ein Treffen der nationalen Lou-Reed-Elite zu erwarten, ein Gipfeltreffen von Connaisseurs, die den richtigen Stoff im Blute haben und alle Velvet-Bootlegs auswendig kennen.

Stattdessen waren mindestens zwei Elemente dieses Lou-Reed-Konzertes identisch mit dem letzten Lou-Reed-Konzert, das ich, fast auf den Tag genau, zehn Jahre zuvor in der Hamburger Musikhalle gesehen hatte. Die Menschen zunächstmal. Ich verspreche, daß dies das letzte Mal ist, daß ich mich vor Ihnen ekle, aber ich würde etwas Wichtiges verschweigen, wenn ich nicht sagte, daß selbst das einzige BRD-Konzert nach Jahren der Abwesenheit offensichtlich nicht in der Lage ist, etwas anderes an Publikum anzuziehen, als ein vollvermieftes, langhaariges, wollpulloveriges, unsicher taperndes Jugendzentrumbesucherpandämonium mit weggezüchteter Wirbelsäule und wahrhaftig kreisenden Joints. Mir wurde schwarz vor Augen, ein Teil der Wahrnehmung fiel aus.

… und setzte wieder ein als, nein nicht als Lou Reed die Bühne betrat, sondern als die Simpel-Intro-Akkorde von „Sweet Jane“ das Konzert beginnen ließen wie das von 1974. Das zweite identische Element. „Sweet Jane“, nicht das populärste oder erfolgreichste, aber wohl das meistgehörte Lou-Reed-Lied aller Zeiten. Schon weil jeder es nachspielen konnte. Diese Band hier nudelte es konsequent in der „Loaded“-Fassung durch und ich mußte kurz daran denken, wie Sterling Morrison et al Reed immer dafür gerühmt hatten, daß er live jeweils neue Textzeilen improvisiere, was man auf dem 1969-Live-Doppelalbum von Velvet Underground auch sehr schön hören kann.

„Das nächste Lied geht weit zurück in die Vergangenheit. Das könnt ihr schon an den Preisen merken. Für 26 Dollar … (Jubel aus dem Publikum) … gibt’s heute kein Heroin mehr.“ Nur die Erwähnung dieser mythischen „Twentysix Dollars“ reichte für einen Aufschrei, als „Waiting For My Man“ begann und ich dachte, daß ich bis heute eigentlich nicht glauben kann, daß der junge Lou Reed sich tatsächlich an der Ecke 125ste Straße / Lexington Avenue herumgetrieben und schwarze Mädchen angemacht haben soll. Dieser Mann, der mit seinen 42 Jahren immer noch so etwas massiv Bürschchenhaftes, Wunderkindmäßiges ausstrahlt, der soll sich mitten in Harlem in den Matsch gestellt, Heroin gedrückt und sein zartes Leben in Gefahr gebracht haben?

Er reitet dann parforce durch die Siebziger, hier ein „Street Hassle“, da ein „Sally Can’t Dance“, besonders glücklich macht mich die werkgetreue Wiedergabe von „There She Goes Again“. Doch alles Mid- bis Up-Tempo. Sogar „Take A Walk On The Wild Side“ wird zum flotten Fetzer und ich muß daran denken, daß der erfolgreichste Sänger der historischen Sekunde, Holly Johnson von Frankie Goes To Hollywood, seinen Namen aus diesem Song hat: „Holly came from Miami Fla. / … /shaved his legs and then he was a she“. Er ist keine She geblieben.

Natürlich fragt sich der Fan, dem man nun langsam in Greatest-Hits-plus-neue-LP-Stimmung gebracht hat, wo seine persönlichen Favoriten bleiben: „Candy Says“, „Caroline Says“ und „Lisa Says“ und überhaupt all die Balladen, und Lou Reed sagt, er wisse, eigentlich seien wir alle wegen der schnulzigen Balladen gekommen und spielt „Satellite Of Love“. Ganz schön. Immerhin. In der Vergangenheit heftete an Lou-Reed-Konzerten mehr als einmal der Ruch des Skandal. Sie waren zu kurz, zu langweilig, er stand unter Drogen, wurde festgenommen, hatte sich eine total unfähige Big Band zur Seite gestellt. All sowas. Diesmal gab’s nichts davon, es gab genügend Lou Reed fürs Geld, es gab keine Pannen und verläßliche Profis wie den Hans-Dampf-Gitarristen Bob Quine, der aussieht wie der Oberbilker Kundenberater der Stadtsparkasse Düsseldorf. Es gab drei Zugaben und Solidität wohin das Auge blickte. Nur wenn sich Lou Reed an den genial-primitivistischen Nummern seines letzten Albums versuchte, war es mehr als eine gelungene Weißt-Du-noch?-Veranstaltung, mehr als ein Guck-Lou-Reed-der-steht-da-wirklich-Konzert. Dann äußerte sich nämlich dieser rührend jugendliche 42-Jährige und erzählte von den Video-Arkaden am Broadway, Ecke 52ste Straße, wo er laut Ansage wirklich viel „rumhänge“ (was ich einfach nicht glaube) und machte den Versuch, so ein Thema (Video, Computer), das für Modernität steht, in sein steinaltes Rock’n’Roll-Konzept zu integrieren. So zu betrachten, als wäre er dreißig Jahre jünger. Und bei diesem Liebeslied, „I Love You Susanne“, da geht es auch nicht um die Liebe im besten Mannesalter, sondern um Pubertät.

Ja, es ist ein sehr schönes, ergreifendes Lied, dieses „I Love You Susanne“. Aber, als ich auf dem S-Bahnhof Oberbilk stand, dachte ich, ich will, nein ich will nicht mein ganzes Leben mit dieser Eisenkugel Pubertät an meinen Fußgelenken herumlaufen.

Später hörte ich eine alte Animals-Nummer, „As The Years Go Passing By“. Eric Burdon singt darin: „Aaah, the blues / the ball and chain that is ’round every English musicians leg / In fact every musicians leg“. Von diesen Ketten und Kugeln sollte man sich endlich mal frei machen.