Lüpertz und andere in der Galerie Werner

So wie der sogenannte freie Mensch eine Utopie ist, ist der sogenannte freie Künstler immer eine Utopie gewesen, ein Wahnsinn, so Reger oft. Die Künstler, die sogenannten großen Künstler, so Reger, denke ich, sind außerdem die skrupellosesten aller Menschen, sie sind noch viel skrupelloser als die Politiker. Die Künstler sind die Verlogensten, noch viel verlogener als die Politiker, also die Kunstkünstler sind noch viel verlogener als die Staatskünstler; höre ich jetzt wieder Reger. Diese Kunst wendet sich doch immer dem Allmächtigen und dem Mächtigen zu und von der Welt ab, so Reger oft, das ist ihre Niedertracht. Armselig ist diese Kunst, weiter nichts, höre ich jetzt Reger gestern sagen, während ich ihn heute vom Sebastiano-Saal aus betrachte.

Thomas Bernhard, „Alte Meister“

Immer häufiger geschieht es, vor allem natürlich in der von namhaften internationalen Zeitschriften wie „Time“, „Newsweek“ und „Interview“ als Europas Kunstmetropole Nummer eins ausgewiesenen Baustellenstadt Köln, aber mittlerweile auch gerne in Hamburg oder in Wien und München, seltener in Paris und London, daß die wahrhaftigen Pop-Ereignisse, das ganz scharfe Schnell-und-Vergänglich, kontrastreich konturierte Aktualitäten-Delirium in Galerien und unter Künstlern sich ausbreitet anstatt in Konzertsälen, Discos oder im Paisley Park gegenüber von der Kölner Synagoge, wo ich neulich noch so nett mit Mark und Brix gesessen habe und wir uns über alles so entsetzlich einig waren, weil wir eben seit Jahren, zwar in verschiedenen Welten, aber doch im Universum des Pop/Sub/Indieground, ständig die gleichen Lektionen lernen und beherzigen, daß es mir schließlich wie Schuppen von den Augen fiel: Ich will diesen Menschen nicht, wie es meine Reporterpflicht wäre, ausquetschen und in Widersprüche verwickeln, ich will all den Guten nur Denkmäler bauen; indiskret beobachten, observieren, notieren – das geht nur noch da, wo man ein Fremder ist und immer sein wird. Kunst z. B.

Dieser fast monatlich stattfindende Round-Up durch gleichzeitig eröffnende Hip-Galerien (Hetzler, Maenz, Grunert, Sprüth), bei dem man sicherer als bei irgendeinem anderen vergleichbaren gesellschaftlichen Ereignis in dieser oder einer anderen deutschen Großstadt ein relatives Maximum von Leuten trifft/sieht, die zu treffen/sehen für einen auch nur milde an Zeiterscheinungen interessierten Zeitgenossen von Interesse und gewinnbringend ist, dieser Auftrieb, der immer wieder schon die Autoren dieser Zeitschrift beeindruckte und -flußte, hat sich inzwischen bundesweit herumgesprochen, die entsprechenden Künstler dieser Galerien sind auch dem Pop-Publikum immer mehr bekannt, und jeder hat ein Bild von diesem deutschen Neu-So-Ho. Was die wenigsten wissen: Am hipsten geht es noch immer in der Galerie zu, die bei den Round-Up-Premieren meist geschlossen hat, in der Galerie, deren Künstler sich als erste wie Popstars aufführten – immer in der Absicht, das Gegenteil zu tun, versteht sich – und die allesamt gerade den Punkt erreicht haben, den Berühmtheitszenith, wo aus Kunstkünstlern Staatskünstler werden: Galerie Werner.

Die Galerie Werner eröffnet mit Vorliebe dann, wenn gerade die Bundesliga angepfiffen wird, am Anfang eines langen samstäglichen Einkaufsbummels oder zu nachtschlafener Zeit (um zehn Uhr morgens), jedenfalls immer so, daß sie einen dann erwischt, wenn man nicht auf Pop und Party, sondern auf Besinnung, Bummeln und Bücherkaufen eingestimmt ist. Die vier zentralen Künstler sind Baselitz, Lüpertz, Penck und Immendorf, dazu kommt seit Jahren ein amerikanischer Weirdo namens James Lee Byars, der aussieht wie Leon Russel und Skulpturen und Einrichtungen mit Gold und Schwarz herstellt (etwa vier schwarze Couches mit goldenen Beinen oder eine große goldene Kugel), die meistens aussehen wie Dagobert Ducks Vitrine des ersten selbstverdienten Talers oder desselben Ausstellung von Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, die sich kein Mensch in Entenhausen ansehen wollte, bis Dagobert in einem Wutanfall die Exponate zerschlägt und zerbeißt, was dann wiederum zwei langhaarige, pudelmützige Kulturkritiker zu dem begeisterten Ausruf hinreißt: „Das hier ist Op“ – „Ach was, Edel-Op!“

Aber Byars oder neuerdings eben auch Captain Beefheart sind nur die dezent-weirden Ausnahmen, letzte Woche sah ich die Eröffnung der neuen Lüpertz-Show, da sah ich wieder die Regel, die Genie-Kult-Künstler, die den meisten Pop-Stars in Sachen Selbstdarstellung, und zwar von der Sohle bis hinauf zu ausrasierten Kopfstellen, weit überlegen sind: Lüpertz trug eine schwarze Jacke mit Samtkragen, aus der sein massiv-kantiger Charakterkopf, der so massiv charakterköpfig ist, daß er wie ausgedacht aussieht, neugierig, leutselig herausragt, Baselitz, ganz im Rot-gemusterten, den bekanntlich wenig von seinem Schloß herunterlockt, strich leicht wippend leicht beschwingt durch die Hallen, halb Crumb-Figur, Komplementär-Genie zu Lüpertz. Wenn dieser in seiner Kantigkeit für Kompromißlosigkeit und Unnachgiebigkeit des Genialischen steht, ist jener behende schleichende, durch seinen Vollbart eher ins Weiche und Weise tendierende Erfinder der kopfstehenden Bilder Exponent der weltabgewandten, stoisch-milde-amüsierten Seite des Genialischen. Immendorf ist dagegen der Atlas, der die deutsche Geschichte auf den Schultern trägt: Uhren, Schmuck, Ringe, oft gülden glänzend und schimmernd, weisen ihn als den aus, der nicht Genialität als Selbstzweck verkörpert, sondern sich durch die blutgetränkte deutsche Erde wühlt – und wie alle, die sich durch den Dreck wühlen, erzielt er auch die besten Resultate, will sagen: macht die beste Kunst, aber das interessiert hier zunächst nur am Rande – und an ihr, der Geschichte, sein kantiges, aber eher vogelig-kantiges, weniger 90°Winkel als bei Lüpertz, Profil geschliffen hat. Drei wahrhaft schmucke Männer sind das, echte Figuren, die noch Unterhaltungen verstummen lassen können, Aufläufe verursachen – dabei sind sie natürlich ganz und gar ausgedacht. Was nur für sie spricht.

Komplettiert wird das Quartett durch Penck, der als einziger nicht in Schmuck schwelgt, nicht majestätisch Räume abschreitet, sondern, etwa halb so groß und bescheiden, irgendwo steht und sächselnd leise Gespräche führt. Dabei kultiviert er den absoluten Penner-Look, zieht die sprichwörtliche Schmutz- und Staubwolke nach sich und gleicht in jeder Beziehung Pigpen: zu gleichen Teilen Pigpen von den Peanuts und Pigpen von Grateful Dead.

Ja, es gabe eine Menge über diese Leute zu erzählen, über Pencks drei Millionen, mit einer Clique von idiosynkratischen Sachsen eingespielten Free-Jazz-Platten zum Beispiel, aber ich erwähne sie nur, weil sie alle da waren und weil sie, im Gegensatz, zu den Pop-Stars, die wir so kennen, nicht nur gutes Geld verdienen, sondern dies auch über einen längeren Zeitraum als der normale Popstar, und dennoch, völlig unangefochten, ihr Genie-Spiel spielen dürfen. Finanzielle und kulturelle Anerkennung, beides in großen Portionen und im besten Mannesalter, so daß man auch beides noch so richtig genießen kann – früher gab es so was nicht. Aber seit Künstler zu Lebzeiten Berge von Geld verdienen, haben sie auch die Mittel, die Aureole des Genialen nicht mehr aus romantischer Verwahrlosung basteln zu müssen, sondern aus feinsten Tuchen schneidern zu lassen.

Gerade das macht sie aber interessant bzw. zu dem Material, aus dem man Kunstgeschichte wie auch Romane flicht; denn Gottfried Benn hatte zweifelsfrei recht, als er sagte, daß sich gute Geschichten nur mit gutem Material erzählen lassen und daß Kartoffelschalen ein schlechteres Material abgäben, Prinzen, Baronessen und andere Majestäten ein gutes, weil vielschichtigeres. Und diese selbsternannten Majestäten, diese behaupteten Majestäten, geben naturgemäß das beste Material ab; denn noch bevor die Literatur beginnt, sie zu bearbeiten, ist dieses Material bereits im Sinne der Literatur vorbehandelt, sind diese Typen doch so sensationell, weil sie fiktional und doch zum Sehen und Anfassen sind: Mega-Individuen, die Apotheose des Kleinbürgerlichen.

Und, ach ja, es war ja eine neue Lüpertz-Ausstellung. Lüpertz kann wahnsinnig gut malen, er kann einfach gut malen, immer sieht alles gut aus, sitzt, stimmt, geht auf. So Reger gestern zu mir im Bordone-Saal. Alle Theorien scheinen ihm völlig egal zu sein, Kunstgeschichte und ihre Theorie, die immer dazu tendiert, kontraproduktiv zu wirken, schlagen sich in seinen Bildern, die er speziell auf der neuen Ausstellung vollpackt mit allerlei Klassischem, Griechischem und ergänzt mit Rilke im Katalog, nicht nieder. Sein von ihm und diversen hochgelahrten Hofschranzen immer wieder vielbeschriebenes, immer wieder neu, um signifikante Differenzen verschobenes Genie ist ein antiintellektuelles, eines, das vom Adel der Kunst und dergleichen zu faseln bereit wäre, wenn nicht… Und hier erhebt sich die entscheidende Frage: Ist Lüpertz wirklich ein Genie?

Was er macht, ist, übersetzt in die Geschichte der Pop-Musik, etwa Procul Harum, allerdings mit mehr technischer Meisterschaft, also vielleicht Keith Emerson, aber nicht so aufdringlich und nicht so aufdringlich klassisch, vielleicht die ersten zwei Collosseum-LPs, aber nicht so hybride, reiner, also perfektes Handwerk, das alle zeitgenössischen Befindlichkeiten ignoriert, alle Verbote intellektueller Durchdringungen der Kunstgeschichte wie auch einen gelegentlichen Kitsch-Vorwurf an sich abprallen läßt, also Classic-Rock, mit einem artifiziellen Genie-Kult bis in die Beinkleider als Dreingabe. Und alles hermetisch-wasserdicht abgeriegelt durch Lüpertz’ Auftreten. Niemand würde es wagen, ihm die entscheidende Frage zu stellen: „Meinen Sie das ernst, was Sie tun?“

Und wie könnte man sie auch stellen. Würde Lüpertz antworten: Ja, ich meine das ernst – was er im Prinzip auch antwortet –, steht er da als blöder, geschichtsloser Romantiker, der allen Ernstes meint, sich aufführen zu können wie ein Wesen aus dem 18. Jahrhundert, Sturm und Drang. Würde er antworten, nein, ich spiele das Genie, um dieses und jenes außerhalb meines Spiels zu demonstrieren, würde er also sagen, ich bin das Fake-Genie, wäre er einer dieser Konzept-Eintagsfliegen, die einen Gedanken gehabt haben und diesen in immer neue Gewänder kleiden, um im Markt zu bleiben. Er wäre ein blöder Karikaturist. Er ist naturgemäß beides nicht.

Auf den ersten Blick ist der anti-historische Genie-Kult fraglos reaktionär, wie alles Leugnen der Geschichte. Auf den zweiten Blick und entgegen allen Beteuerungen der Mitspieler ein Spiel, ein Zuschanzen von Posen unter vier hausgemachten Titanen. Aber auch das täuscht. In Wirklichkeit handelt es sich hier um die Bearbeitung der grundsätzlichen Befindlichkeit eines jeden kunstinteressierten bürgerlichen Wesens: so idiotisch Pfarrer sind, die Gott leugnen, so idiotisch Pop-Musiker sind, die keine Stars sein zu wollen vorgeben, so idiotisch wäre ein Künstler, der das Bedürfnis seines Publikums, auf irgendeine Weise von der Qualität des Genialischen umhaucht werden zu wollen, ignoriert. Oder sagt: Ja, ich bin ein Genie, aber aus strategischen Gründen.

Wir sind bei Lüpertz, der sich in „Lui“ als ganzer Mann präsentiert wie Baselitz in „Vogue“, bei dem Punkt angelangt, wo wir den Urheber von Kunst als ein Wesen, mit dem man reden kann, vernachlässigen müssen. Auf die Gefahr hin, daß man die letzte bürgerliche Erbauungskunst unterstützt, muß man Ja sagen zu Lüpertz. Was er zu sagen hat, hilft keinem von uns weiter, aber es ist das massivste, eindringlichste Monument davon, was Kunst in dieser Welt sein kann, was sie wirklich real sein kann, bewirken kann: Erbauung. Und während ich dies denke, das Weinglas in der Hand hin- und herdrehend, tritt die Faust auf dem Auge auf: Der Sammler Ludwig betritt den Saal.

Das Erbärmliche an Erbauung zeigen, dingfest machen, übertreiben und überwinden, das könnte Lüpertz zusammenfassen, wenn die neuen Bilder nicht gerade das nicht mehr leisten würden. Sie sind nur noch erbaulich und griechisch und machen damit eigentlich erst richtig klar, was die anderen Bilder und der sie umflatternde Kult bedeutet hatten.

Der Sammler Ludwig also. Faust auf dem Auge, Faß ohne Boden, Charaktermaske des Kapitals. Ich hatte sein Porträt naturgemäß schon oft gesehen. Der bekannte Polit-Künstler Hans Haacke hatte sich auf unzähligen Bildern mit der Tatsache beschäftigt, daß der Schokoladenfabrikant seinen Mitarbeitern die Taschen kontrolliert, ob sie nicht eine Tafel mitgehen lassen, und den den Schoko-Rührern abgepreßten Profit in die Kunst steckt. Ludwig, das längst aus der Mode gekommene Abziehbild für alle Zusammenhänge zwischen Kunst und Kapital, stand empörend real, aber dann doch wieder ganz von der Leinwand gekletterte Comic-Zeichnung, überspitzte Karikatur des Zylinderhut-Kapitalisten, der Bomben scheißt, mitten im Raum und nahm Michael Werner an der Schulter und führte ihn durch dessen Galerie.

Wenn ich eine Erfahrungssumme der Jahre 83 bis 85 habe, ist es der Satz: Alle denkfaulen, linken Klischees haben viel mehr recht, als wir es je erwartet hatten. Wer kann sich meine Begeisterung vorstellen, als Ludwig den Saal betrat. „Ich-und-meine-Frau“-Ludwig, das klischeehafteste (!) aller linken Klischees, von einem Haacke-Bild (!) heruntergestiegen (!), besah sich alles Erbauliche, was da war, in den Räumen der Galerie Werner, die Taschen voller Taler, die er seinen Schoko-Arbeitern abgepreßt hat. Ein massives, schweres Delirium packte mich, eines von der Sorte, die man sich einfängt, wenn die Wirklichkeit alle die Klischees, die die Dümmsten je von ihr angefertigt hatten, übertrifft, und ließ mich träumen.

Ludwig im Bordone-Saal, auf der Sitzbank neben Reger, den „Weißbärtigen Mann“ von Lüpertz betrachtend. Hans Haacke auf einem Abort des Kunsthistorischen Museums von Wien, das Ganze beobachtend, Werner und Irrsigler, Arm in Arm in einem Marlene Dietrich Film. Zweifellos ist Markus Lüpertz ein Genie, ganz ohne Zweifel, und wenn Baselitz Hundertwasser wird und Lüpertz Dali. Kunst, die Material für Diskussionen liefert, Kunst als Auseinandersetzung, Abgrenzung, das bleibt das Privileg eines wunderbaren, aber naturgemäß beschränkten Undergrounds. Aber Kunst im Overground, Staatskunst oder Kunstkunst, ganz wie’s beliebt, ist grandioses Klischee, und man darf dankbar für all die Sensationen sein, wenn Klischee sich in seiner ganzen Pracht entfaltet, dankbar für diese Wahrheit.

Der liebste in der Galerie Werner ist mir der Galerist selber. Wie mein Lieblingsschauspieler Herbert Marschall ist er immer leicht gebückt und unendlich souverän. Vielleicht kann er all die Wahrheit nicht aushalten, die er immerzu anrichtet und angerichtet bekommt. Naturgemäß mögen ihn alle Frauen, wie alle Frauen Herbert Marschall mochten. Dieses traurig milde Ennui, das souverän übrig bleibt, wenn all die Genialität sich ausgetobt hat und Ehefrau Marlene Dietrich, wie in Lubitschs „Angel“ nach der kurzen Episode mit einem feurig-faden Ausländer, zurückkehrt zu ihrem Mann, dem britischen Diplomaten, der sie vernachlässigt, aber so reizend höflich, milde, gelangweilt ist wie dieser Galerist, auf dessen Schulter jetzt immer noch die klassische Kapitalistenpranke vom Sammler Ludwig weilt.