Minus Delta t, eines der zähesten und ausdauerndsten Kollektive fast aller künstlerischen Avantgarden, haben ihre Erfahrungen für ein riesiges Opernprojekt eingesetzt. Die Todesoper, bei der Documenta uraufgeführt, ist jetzt auf Schallplatte erschienen. Das Interview zur Triple-LP führte Diedrich Diederichsen.
Minus Delta t haben nicht wenige meiner engsten Freunde irgendwann in deren Pubertät dazu angestiftet, die Künstler oder Massenmörder zu werden, die sie tatsächlich geworden sind. Wieder andere verbinden mit ihrem Namen eine avantgardistische Wave-Band, die ihr Publikum attackierte und zu Reaktionen zwingen wollte, von deren 14 Auftritten 13 durch Veranstalter, Publikum oder Polizei abgebrochen wurden. Einige kennen sie als Spezialisten für verrückte Selbstversuche in Beirut oder Polen (als US-Soldaten verkleidet). Von dem Versuch, einen Stein aus Wales nach Bangkok zu verschaffen, war vor gut fünf Jahren oft berichtet worden, der Papst und Bruno Kreisky hatten daran mitgearbeitet. Die letzten Arbeiten waren Radiostationen, eine fixe in Lyon und diverse mobile zu Anlässen wie Documenta oder Buchmesse, sowie der Auftritt als uniformierte Kulturpolizei in Kassel, Münster und beim Kölner Kunstmarkt. Einige ältere Kunstkenner werden sich erinnern, davon gehört zu haben, daß MDt-Member Mike Hentz in den 70er Jahren u. a. Kunstinteressierte für Stunden in Galerien einsperrte.
Von der Fülle der Aktionen, Performances, Auftritte, Klausuren zu Forschungszwecken, die im einzelnen zu diskutieren und/oder zu bewerten mir fernliegt, ist wenig dokumentiert und festgehalten worden: Akustisches als Doppel-LP von der Asien-Expedition (auf Ata Tak), ein retrospektives Buch, das Hentz 1980 vorgelegt hat (hauptsächlich um seine eigene Arbeit zu dokumentieren), ein Merve-Buch zum Bangkok-Projekt („so unzufrieden wir damit waren: von dem, was in diesem Buch stand, ist 80 % realisiert worden“) und jede Menge Material, das nur gezielt und gesteuert berichtenden Medien vorgelegt wurde. Dieses Jahr veröffentlichte die Gruppe ein sehr lustiges Wörterbuch, das helfen soll, den in der jahrelangen Zusammenarbeit der aus den verschiedensten Sprachräumen stammenden Mitglieder entstandenen internen Geheimcode besser zu verstehen, und die Tripel-LP zur bei der Documenta aufgeführten Todesoper.
Was aber mehr als die Einzelheiten interessiert – auch wenn uns die Oper noch beschäftigen soll, denn sie hat die Form der Schallplatte angenommen – ist die Einzigartigkeit, mit der diese Gruppe sich über einen Zeitraum von einem Jahrzehnt die Unabhängigkeit ihrer Arbeit erhalten hat (Unabhängigkeit mittlerweile auch von dem Gerede über Unabhängigkeit und „Medienstrategien“), bei eingebauten Möglichkeiten allerdings, sich ständig zu korrigieren, ohne die korrigierenden Einflüsse von außen an die Macht im Inneren kommen zu lassen, also bis hin zur bisweilen unverständlichen Privatsprache. Minus Delta t reden viel von ihrer „Philosophie“, aber die sogenannte läßt sich auf keine bestehende zurückführen, besteht auf ihrer eigenen, aus verzerrter Szenesprache und Privatkürzeln zusammengesetzten Begrifflichkeit. Das prägt auch die Arbeit, der vor allem eigen ist, ein immenses und einflußreiches Output geliefert zu haben, das immer bemüht war, so viele Leute wie möglich direkt einzubeziehen („In Kassel haben wir jeden Abend eine Party gegeben. Man muß den Leuten ja heute das Feiern wieder beibringen“), das von bildender Kunst, Musik, Theater, Radiostationen zu Expeditionen und der Wiederbelebung der Oper reicht, aber selten bis nie direkt auf der Ebene der Massenmedien wahrgenommen wurde (und wenn mit großen Verlusten: sie erschienen dann als die schrillen Provokateure und konnten diesem Bild auch nichts entgegensetzen), sondern eher in dem Gerücht überdauert, das aus den Mündern der vielen, die irgendwann einmal irgendwo direkt einbezogen waren, spricht. Und nach Meinung der Gruppe auch in diversen vereinfachten und popularisierten MDt-Ideen bei anderen Leuten/Künstlern/Gruppen vor allem im Musik- und Performance-Bereich.
Um zu belegen, daß sie tatsächlich so sprechen und denken, wie das nur in einem auf sich selbst gestellten System gedeihen konnte, das bei aller risikofreudigen, die eigenen Grenzen immer neu testenden Radikalität, zumindest subjektiv, sich immer Veranstaltungen zur Selbsterschütterung aufzwingt, kommt hier der Eröffnungsdialog unseres Interviews, es geht um die Oper, das Wort „Enzyklopädie“ (des Todes) war gefallen, die Idee der Gruppe, alles, was zum Härtethema Nummer eins an Bildern, Ideen und Tönen im Umlauf ist zu bearbeiten und zu sammeln.
Ich: „Aber das Wort ‚Enzyklopädie‘ schließt doch Dramatik aus?“
MDt: „Nö.“
Ich: „Die Idee der Enzyklopädie ist es doch, die Dinge gleichberechtigt nebeneinander zu stellen und nicht aufeinander aufbauen zu lassen und zu sagen: hier ist der Höhepunkt, das ist das Finale, und das ist der Anfang.“
MDt: „Na gut. Es gibt zwei Möglichkeiten einer Vermittlung einer Arbeit die – sagen wir’s mal wie vor fünf, sechs Jahren – zu heavy ist für die Leute. Da könnte Deine Frage zutreffen, daß die Enzyklopädie eine Absicherung ist, eine philosophische Absicherung für die Leute, genauso wie, wenn wir ein Buch machen würden, was hundert mal mehr Leute mitkriegen würden, als wenn sie eine Performance von uns sehen und das nicht geregelt kriegen. Andererseits ist es aber so, daß nämlich im Sinne des melting pot, dem Problem des philosophischen meltingpots, wo in einem Ruinenfeld, das nämlich Europa heißt, von der Tradition und der Moral her eigentlich nur noch dieses Bircher-Müsli existiert, das irgendwo zwar festgehalten werden muß, klar, um es abzuhaken, oder wie wir es früher mit dem Begriff ‚Mediamystik‘, den ich jetzt wieder reinbringen will, versucht haben, versuchen zu neutralisieren; Mediamystik nämlich als Einordnung, ihr seids katholisch, ihr seids Punk, ihr seids was anderes; damit haben wir so konsequent gearbeitet, daß wir katholisch waren, daß wir Punk waren, daß wir wissenschaftlich waren, New Wave, seriös, dilettantisch, alles gleichzeitig in vollkommen verschiedenen Formen, bis alles kein Wert mehr war und wir unsere eigene Neutralität wieder hergestellt hatten, gegenüber der Gesellschaft.“
Um nur mal einen Vorgeschmack zu geben auf den Sound der Reden dieser Gruppe, die sich sympathischerweise für alles zuständig empfindet („ohne Arroganz, nicht für alles“), dies aber nicht ewig als ein Herumvagabundieren zwischen Allem (allen Formen, Szenen, Systemen, Soziotopen etc.) betreiben konnte, sondern jetzt, mit der Oper, zur guten alten Idee des Gesamtkunstwerkes zurückgefunden hat. Nach der Todesoper, so eines der beiden Mitglieder, die um Anonymität baten, soll eine Arbeitsoper folgen, der nächste große Begriff.
„Wir strickten ein System von allen wichtigen Dingen, mit denen jeder Mensch zu tun hat, von Dir bis auf der Straße, von Geld bis Frauen, von Nahrung bis Wohnen, öffentlich, privat, Philosophie, Vision etc. Dann haben wir uns gesagt: gut, um wirklich was zu verstehen, ist es nötig, daß wir eine Invention, etwas Neues machen und uns nicht auf andere Medien, Möglichkeiten verlassen, wo uns die Entwicklungsprozesse erspart blieben. Denn das Wichtigste ist, daß wir die Entwicklungsprozesse mitkriegen, daß wir die organisch und in der Praxis mitkriegen. Jetzt ist uns natürlich klar, daß wir das nicht mehr erleben werden, daß wir sagen können: so jetzt ist das abgestrichen, jetzt geht es weiter. Vielleicht, wenn wir nochmal auf die Welt kommen. Und wir haben da eine Palette von so zwanzig Medien, zwischen denen wir springen konnten, und dann immer kontinuierlich weiter …“
In der Oper kommt nun alles zusammen?
„Nein, das sind auch nur wenige Medien, die Musik, Video, Bühne und die Multimedialität als Medium. Das waren die Sachen, die wir gesehen haben, als wir aus Asien zurückkamen und uns fragten, was interessiert uns eigentlich noch in Europa? Den Hampelmann zu machen auf der Bühne im Performance- oder Musikbereich kann uns ja nicht mehr interessieren, was bleibt da außer im Supermarkt zu arbeiten? Da sahen wir, gut es gibt das Radio, Radiostationen machen, und es gibt als traditionelles Medium die Oper, in der alle unsere Erfahrungen zusammenlaufen könnten, das ist ein Globalmedium, und das bezieht die ganzen künstlerischen Facharbeiten mit ein, die wir entwickelt haben. Nur hat keiner das gemerkt, keiner hat sich getraut, wirklich alle Facharbeiter zusammenzubringen und relaxed-visionär ein Statement loszulassen, und sei es, daß es auch falsch war. Haben wir uns gesagt: Medium Oper, das machen wir, egal ob es eine gigantische Materialschlacht ist, das wissen wir.“
Anderes MDt-Member: „Heute wo wir unter den ganzen hoch spezialisierten, gecleanten Design-Technics leiden, unter dem gecleanten Video-Clip, gecleant nicht im abschätzigen Sinne, sondern im Sinne von hochspezialisiert, und wo das wagnerianische Gesamtkunstwerk auch von keinem Opernhaus der Welt mehr gemacht wird, da wird ja nur die Musik inszeniert, nicht das Musiktheater, da merkst Du, daß es eben keine Magic mehr hat, nur Musik zu machen, zum Beispiel der Tod der ganzen Industrial-Musik: Für die Industrial-Leute waren wir ja die Götter der Bewegung, die sind heute immer noch dabei und hauen auf dieselben Dinger und sind etwas verwirrt, für die sind wir Verräter, aber andererseits wissen sie doch, daß wir recht haben, und haben nur nicht begriffen, daß die Industrial-Musik nur vergessen hat, auch die Industrial-Rituale zu machen, das Industrial-Theater zu machen, daß die Leute jetzt auf ‚Survival Research Project‘ abfahren, diese Maschinenkunst, das ist leider Gottes fünf Jahre zu spät, und die hätten das ja machen können, die Neubauten zum Beispiel. Aber die Spezialisierung hat dazu geführt, daß diese Magic jetzt weg ist, denn die Leute haben Angst, eine Sache von Grund auf zu entwickeln, nach zehn Jahren wieder ’ne Geschichte neu zu entwickeln.“
MDt reden viel von der Soziopsychologie künstlerischer Gruppen, von der Phase des Kennenlernens, wo einfach der intensive soziale Kontakt noch aus jedem Nullenhaufen immer etwas Interessantes/Aufregendes herausholt, von der Zeit danach, in der man entweder lernen muß, diese Effekte zu beherrschen oder an den Debatten über Kommerzialisierung/Perfektionierung zu zerbrechen. Ich denke, daß MDt immer über dieses wahrscheinlich größte Archiv aller denkbaren künstlerischen Sozialtechniken mehr mitteilen können als über die Welt; ihre Wahrnehmung von Veränderungen/Einschnitten ist immer bezogen auf die heiße, bewegte Welt ihrer Aktivitäten. So besteht der Reiz dieser Todesoper nicht in der Diskussion des Todes, die inhaltlich nicht nennenswert über aus der Weltkultur Bekanntes hinausgeht, sondern in dem Fünf-Freunde-Effekt. (MDt als fünf Freunde, die die Schwierigkeit der zu lösenden Aufgaben immer weiter erhöhen.) In diesem Sinne sind sie die Beatles, wie man sie sich früher immer vorstellte, als undurchschaubare, künstliche Familie, deren innerer Zusammenhang immer viel mehr zu sein schien, als das, was sie nach außen mitteilten. Je reicher aber so ein Innen wird, desto ärmer kommt dem, der in diesem Innen lebt, die Welt da draußen vor, die natürlich nie arm und vor allem nie falsch sein kann (als existierende Welt). (Auch in der Spex-Redaktion kennt man dieses Problem.) Den dabei notwendig auftretenden Verzerrungen der Wahrnehmung, die sich bei MDt in viel Bedauern über eine schlaffe Jugend/Musik etc. äußern, wirken sie durch unermüdliches Zugehen, Losgehen, Sich-Einnisten, Nerven etc. richtig entgegen. „Die Tradition ist für uns nur ein Sprungbrett“, erklären sie. Ihr Verdienst ist es, eine Kultur des Risiko entwickelt zu haben, immer wieder bewiesen zu haben, daß das Unmögliche (auch ohne Etat) zu realisieren ist. Wirklichkeit ist möglich, nicht nur denkbar – kannste haben – das ist Minus Delta t. Und sie arbeiten nicht nebenher woanders, um diese Radikalität abzusichern. Sie verdienen ihr Geld mit realisierten Unmöglichkeiten, die zur Passivität führende Arroganz des Alles-geht-Gedankens bekämpfend, indem sie beweisen, daß sich aber dieses alles ganz anders anfühlt, wenn man es macht. Ich bedaure es, an dieser Stelle abbrechen zu müssen. In die Triple-LP sollte man durchaus reinhören. Es steckt viel ehrliche Arbeit dahinter. Für mich ist schon dies eher eine Arbeitsoper, was unsere Sterblichkeit angeht, werde ich von den dürren Saiten und Worten des Reverend Gary Davis immer noch vorzüglicher bedient: „Death will never take a vacation. In this land.“

