Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze – über Freund und Feind, Lüge und Wahrheit und andere Kämpfe an der Pop-Front

„We’re going to live for a very long time“
Heaven 17

„Herr Hofstädter, bei ihnen ist eingebrochen worden!“
Stadionsprecher in Bochum, wenige Sekunden nach dem Abpfiff des Länderspiels Deutschland-Finnland

„Die Welle der Gewalt“
Hamburger Abendblatt, ein Tag später

„At the height of the fighting, hey-la-ho!“
Heaven 17

„Wir sind folglich an einen revolutionären Prozeß angeschlossen und der ist im Verhältnis zu allen pessimistischen Marxismen, mit denen wir es zu tun haben, von Grund auf optimistisch. Was den revolutionären Prozeß anbelangt, bin ich völlig euphorisch, denn auch wenn es keine Revolutionäre und keine revolutionäre Bewegung geben wird, so wird es doch auf jeden Fall die Revolution geben. Das ist ein Grund mehr, die Revolution zu machen. Das ist im Vergleich zu allen revolutionären Utopien der radikalste Optimismus, den man sich vorstellen kann.“
Felix Guattari

„Ich weiß, daß die Theorie gar nicht grau ist, sondern für jede Kunst die weiten Perspektiven der Freiheit bedeutet. (…) Warum das Mißtrauen gegen die Theorie? Sie muß gar nicht stimmen, um große Werke zu inspirieren. Fast alle großen Entdeckungen der Menschheit gingen von falschen Hypothesen aus. Auch ist eine Theorie sehr leicht zu beseitigen, wenn sie nicht mehr funktioniert. Aber die praktischen Erfahrungen des Zufalls verrammeln, wie schwere undurchsichtige Wände den Weg.“
Bela Balasz

Dieser Text will kein Programm formulieren, er will vielmehr Mut machen, das Terrain der expliziten Äußerungen zurückzuerkämpfen.

Babylon

Die Erde ist alt und seit tausenden von Jahren leben Menschen auf ihr. Wer David Wark Griffith’ religiös-liberale, amerikanisch-gutgläubige Babylon-Deutung kennt (in einer Episode des Films „Intolerance“), kennt das früheste Punk-Mädchen. Sie ist so reizend wie schmutzig. Ein babylonischer Softy himmelt sie an, doch sie weist ihn brüsk ab. Gesellschaftlichen Kontroll-Instanzen, wie dem obligatorischen Heiratsmarkt, verweigert sie sich fußstampfend. Am Ende kämpft sie für ihr Idol, Belsazar, die Orgien-feiernde Lichtgestalt, den David Bowie der Epoche.

Bowie

Seltsamerweise hatten viele frühe Punks ausgerechnet den schönen Bowie als einzige Errungenschaft der ihr vorangegangenen Generation gelten lassen. Für Johnny Rotten/Lydon war „Rebel, Rebel“ die Hymne seiner Adoleszenz, so wie für seine Anhänger später sein „God Save the Queen“. Der zweiten Generation von Punks mußte David B. eigentlich als das Ebenbild des so arg befehdeten Schickies gelten, doch auch hier genießt er erstaunlichen Respekt. Bowie bleibt eben die genauest umrissene Entgegnung auf den gemeinsamen Feind Aller (der Punks, Skins, Popper – die es gar nicht gibt, sondern die von Hamburger Ilustrierten in einer konzertierten Aktion erfunden wurden – Teds und New Waver, also jene mit den hart-konturierten, pessimistischen Uniformen): dem Hippie oder wie er auch oft genannt wird, dem Alternativen, um alle Begriffe endlich aufzulisten, die gegenwärtig die Flügelkämpfe im Bewußtsein der Jugendlichen mobilisieren. Bowie markiert die Grenzen.

Haben die Hippies gesiegt?

Gibt es einen taktisch-strategischen Sinn, einen aktuellen-potentiellen Nutzwert dieser jugendlichen Nachschubtruppen, den Rückeroberern des Pop, im politischen oder transpolitischen Kampf? Oder sind nicht auch in die ästhetische Praxis derer, die sich anders dünken, Werte der vermeintlich gehassten Hippies eingegangen?

Der Autor und seine Zeit

Denke ich an die Jahre ’73-’76 zurück (Studentenrevolte tot, oppositionelle Politik sinnentleert, gesellschaftlich-kulturelle Restauration, Musik: langweilig, Peter Handke, Jazzrock, indisch-griechische Umhängetäschchen, die Drehtabak-Revolution, zweitklassige Bogeyincasablancamanhattantransfer-Nostalgie unverbindlicher Individualismus oder weltfremde, rigide Agitation. So weltfern wie ihr scheinbarer Gegenpol: die sog. neue Innerlichkeit. Tatsächlich vereinigten sich politisch-engstirnige Rigidität und Kampfkader-Kadavergehorsam oft mit verquastem Cat-Stevens-Hermann-Hesse-Sensibilismus in einer Person: dem typischen Gymnasiasten/Studenten der 70er), fällt mir in meiner eigenen geistigen Entwicklung ein bemerkenswerter Bruch auf, der gleichzeitig eine Reaktion auf die in der Klammer aufgezählten Umstände dieser Epoche darstellt, wie auch deren eigentliche Inhalt, dem man sich in traditionell-linker Phraseologie schwammig mit dem Begriff Rückzug nähern könnte. Rückzug auf bereits gewonnene Positionen intellektueller Kultur: Free Jazz der 60er, Poesie des vorigen Jahrhunderts, Orientierung an unverbindlichen, stets wechselnden Werten vergangener Epochen. Denn nichts half gegen die Mittelmäßigkeit der BRD-Kultur besser als eine Redoute bei der Fürstin Guermantes, eine Speed-Orgie mit Nico und Gerard Malanga in Warhols Factory, eine konspirative Sitzung spanischer CNT-Aktivisten oder ein Arbeitsessen (Borschtsch) mit bolschewistischen Führern im Winter 1917. Denn bei uns war’s gesichts-geschichtslos, was vor allem fehlte, war eine Ästhetik, die über die Gegenwart präzise Auskünfte zu geben vermochte.

Der erste Auftritt des Feindes

Ich wähnte mich damals als ein einsames Bollwerk gegen die Flut alltäglicher Geistlosigkeiten, ahistorischen Sud, der vom Phänotyp dieser Epoche (gewöhnen wir uns endlich an, die Epochen immer kürzer anzusetzen!), dem gutmütig-bescheuerten Schlaffi repräsentiert wurde: In weiter Kleidung trabte er einher, schwer überhaupt seine Umrisse gegen den Horizont abzugrenzen, seine Matte pflegte sich in Ästen zu verfangen. Sprach er mit dir, flocht er zahllose „Du“s und „Weißtu“s in seine Rede wie Kleister, als wolle er dich an sich festbinden und dich in die dicke, trübe Soße einer kopfrunter vor sich hinpusselnden Zwergen- und Trollkultur zerren.

Der Feind ist der Autor

Tatsächlich fühlten aber all die Gnome genau wie ich: sie hielten sich für notgedrungen Zurückgezogene in bösen Zeiten. Ihre Dosis revolutionäre Verbrüderung hatten sie ’68 getankt oder aber in ihrer Pubertät in Schülerkampfkadern die Nachwehen erlebt, nun mußten sie durch Kinderladen-Kollektive, andere Laden-Kollektive oder durch simple Bierschwemme mit Fraternisierungs-Ritualen kompensieren. Ob die Accessoires ihres Rückzugs (Castaneda, Django Edwards, Aristide Bruant-Poster) mir damals wie heute weniger elegant erschienen als die meines eigenen, ist zunächst sekundär. Jedenfalls stellten jene Enttäuschungen und vor allem die Nachgeborenen, neben den noch später geborenen eigentlichen Initiatoren, einen Gutteil der ersten Punk-Bewegung. Und ihr Schlachtruf „Tod den Hippies!“ hätte bei vielen als Aufruf zur Selbstzerstörung verstanden werden müssen (und war auch zum Teil sogar so gemeint)!

Aber da die meisten dieser 50er-Kinder, die stets ebenso angstvoll-neidisch nach vorn (77-?) wie nach hinten (68) blicken, saturierte, vollgefressene, innerlich gefestigte Adenauer-Abkömmlinge sind, taten sie alles andere als sich töten. Sie sickerten mit ihren Werten in das Neue ein. Sie besetzten die vagen Anti-Formeln des Punks mit ihrer eigenen Dürftigkeit. Haben diese Hippies oder besser Pippies nun gesiegt? Haben sie das Grauenvolle vollbracht, daß nämlich auch heute 18-jährige Tolkiens „Herr der Ringe“ für ein „irgendwie unheimlich schönes Buch“ halten?

Manifest Nr. 1

Die Kraft, die Punk schuf und im Innersten zusammenhielt, war zunächst ein lange unterdrücktes, aufs ärgerlichste sublimierte Verlangen nach Klasse, Stil und Schneid (bei den Linken als faschistoid verrufen: wenn einer zu gut aussieht). Blitzschnell, laut und hart. Hier bin ich, bis dahin reiche ich. Hier habt ihr mein Bewußtsein. Kommt, unter der behaglichen Schmusedecke der Subkultur hervorgekrochen und stellt euch der Kälte, die euch wirklich umgibt und vernichtet alle Brücken, vor euch wie hinter euch!

The street-walking cheater with the hands full of napalm

Dieses letzte Postulat ist das einer jeden Generation, einer jeden Rebellion: der notwendige Kampf um den Standpunkt. Viele 3 Jahre Ältere konnten sich zunächst anschließen. Waren sie nicht von jeher Punks gewesen, hatten reaktionäre Rentner im Park geärgert, im Lateinunterricht mit Klappmessern gespielt (nicht nur, um das Dope zu zerschneiden), Iggys „Search And Destroy“ gehört, sich insgeheim nach lauten Schimpfworten und vor allem nach erdhaftem, offenem Sex (ohne Beziehungen!) gesehnt. Eine buntscheckige Menge war’s, die sich aufs Neue stürzte, und sie nahmen neue Strategien gegen ein Establishment in Angriff, das sich längst auf im langen Marsch steckengebliebene 68er Sozialdemokraten stützte. (Vor allem in den pädagogisch wichtigsten Bereichen: Schule und Medien).

Der Autor weiß mehr, als er zugibt

Aber wie langweilig, noch einmal die Geschichte des Punk zu referieren, zumal ich der einzige bin, der darüber die Wahrheit in den Händen hält. Und die glaubt mir sowieso keiner!

Scheitern am Wissen

Ich wollte in diesem Buch ursprünglich über das seltsame, absolut revolutionäre Verhältnis weiblicher Schlagzeugerinnen zum Rhythmus schreiben (Palm Olive, Maureen Tucker, Gudrun Gut) und über den innovatorischen Umgang weiblich-dominierter Bands mit dem Rhythmus (Slits, Essential Logic, Raincoats, Lizzy Mercier Descloux, Ludus etc.). Aber die Arbeit am Partikularen drängte immer wieder ins Zentrum, zum Totalen, zu der Frage: Sieg oder Niederlage? – auch wenn’s nur ein Nebenkriegsschauplatz ist.

Erstes Auftreten des eigentlichen Feindes

Eine Stelle war’s, die vielen Leuten mit unklarem Schrott im Schädel die Gelegenheit gab, sich der Sache zu bemächtigen: die Interpretationen der unwissenden Medien. Wer von außen über die Musik der letzten vier Jahre etwas sagen will, muß erstens verdammt viel von Musik verstehen und darf zweitens kein Interesse an der Bestätigung vorher feststehender Wahrehiten haben. Die Onkel und Tanten von TV/Presse etc., die einen unendlichen, leiernden Diskurs von Betrachtungen und Informationen produzieren, der weder Widerspruch noch Zustimmung forciert, da alles integrierbar ist, hatten sich eine Halbzeile aus einem Song der Sex Pistols herausgesucht: No Future. Alles weitere war eine zuweilen beeindruckende Serie von Tautologien: „Die Jugendlichen haben keine Zukunft, denken sie, und deswegen schreien sie: keine zukunft, weil sie deprimiert, frustriert etc. in die Zukunft sehen, weil sie pessimistisch … keine Chancen …“.

Natürlich war niemand beim TV gewieft genug, selber an den Spruch zu kommen. Er wurde ihnen auf dem Präsentierteller gereicht. Nicht von den Pistols – die waren zu schnell und für die Berufsinterpretierer zu unverständlich. Schlechte Punkgruppen waren’s, Hippies, die nach Messages suchend – der Hippie braucht immer einen Sinn, einen Sinn, den er nötigenfalls seinen Eltern verklickern kann – diesen Slogan unzählige Male abgewandelt wiederholt hatten, bis das TV darauf stieß. Aber: Alles, was das TV weiß, ist nicht mehr wahr. In dem Moment, wo eine Nachricht über den Bildschirm flimmert, ist sie nur noch ein Bestandteil der Rudi-Carell-Show und die hatte schon bessere Gags als eine Jugend, die „No Future“ ruft.

Regel: Gib nie eine Information ans Fernsehen, mache nie eine Kunst, die das Fernsehen mit dem ihm zur Verfügung stehenden Begriffsinstrumentarium auflösen könnte! Versuche im Fernsehen einen Pop-Song aufzuführen, der fast so klingt wie ein Pop-Song, nur nicht ganz (z.B. schöner), und du erreichst eine größere Verwirrung als mit der drohenden Gebärde des Protestes. Beispiel: Grace Jones’ „I’ve Seen that Face Before“, in der 1000. aktuellen Schaubude. Auf den Gesichtern der drei anwesenden norddeutschen Landesherren Stoltenberg, von Dohnanyi und Albrecht wurde eine eigentümliche Imitation, ja gehöriger Schrecken sichtbar, der sich erst beim Anblick des vertraut-menschlichen Adamo wieder zu verflüchtigen schien. (Wenn es darum ginge, wer mehr Unordnung in einem Mann mit Schlips anzurichten vermag – Bettina Wegener oder Grace Jones – würde letztere siegen).

Der plötzliche Sinnentzug ist die beste Strategie gegen die einzige ewige Fernsehsendung. In seinen besten Momenten leistet das Fernsehen dies selber. Der Skandal, wie ihn die Pistols ’77 im britischen TV inszenierten, hat in der liberalen BRD keinen Sinn, zumal Norbert Grupe alias Prinz von Homburg bereits vor Jahren in einem Gespräch mit Rainer Günzler den ultimativen Fernsehskandal geliefert hat: er schwieg.

Scheitern II

Wenn im folgenden vom Hippie die Rede ist, so meint das weniger den lokalisierbaren Parteigänger eines Denkens, sondern einen mit allen Irrungen und falschen Ideen der 70er behafteten konstruierten Typus, einen Zustand des Scheiterns. Das typische Element jeder Hippie-Ideologie: der Sinn, die Message. Hiermit wurde Punk im öffentlichen Bewußtsein wieder eine Bewegung wie jede andere: mit Zielen, Leitbildern, Pros und Contras. Und das Schlimmste: die Punk-Basis richtete sich danach. Ende ’79 schrieb „Bild“: „Die Punker – dumpfer Haß auf alles“. Ein Jahr später traf diese Behauptung auf die, die aussahen wie Punks, tatsächlich zu.

Scheitern III

„Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen.“ (Robert Musi)

Lernen

Zweifellos ist Punk längst hier angelangt und die Benutzung des Begriffs tatsächlich nur noch für Historiker sinnvoll. Aber wir Füchse, die wir uns schon lange an dem Aas gütlich tun, sollten doch darauf achten, keine Zulieferer des Aphorismenvorrats zu werden. Wir können das, was wir gelernt haben, nutzen für die Zukunft und das erreichen, was Punk nicht schaffte: den Hippie in uns und um uns überwinden, der einen so schwachen, labberigen Gegner für die herrschende Lage abgibt und der immer noch 90 % des subkulturellen Gedankenvorrats mit seinen vom historischen Original längst degenerierten Werten versorgt. Denn, wenn es so weitergeht wie bisher, ist es für Kanzler Schmidt keine Schwierigkeit, jeden jugendlichen Zweifel an seiner deutsch-amerikanischen Freundschaftspolitik zu sabotieren: er braucht nur das Haschisch zu legalisieren.

Den Dreck der Niederlage abwaschen

Die Erde ist alt. „Einfach schmutzig bleiben“ ist als Geste oder gar Maßnahme der Rebellion nutzlos. Es ist der klassische durch alle Spielarten ziehende Gestus der Verweigerung, der uns bei dem babylonischen Punk-Mädchen noch spitze Schreie der Entzückung entlockt (sie ist übrigens deswegen Punk, weil sie sich agressiv verweigert, würde sie nur schmollen, aber sich trotzdem waschen, wäre sie ein Hippie), der aber heute stumpf geworden ist.

Bleib bös!

Die Erde ist alt. Und uralt ist die Taktik der Vereinnahmung und Abwerbung. Und die Bäuche derjeweils herrschenden Systeme sind, zumindest in Zeiten relativer Prosperität, immer größer geworden. Die Verschleierung der realen Vereinnahmung ist durch die Einrichtung einer Nische für Verweigerer, Protestler und Andersdenkende noch weiter fortgeschritten. Was also gibt es zu tun, um die Integrität des Rebellischen zu retten, bzw. neu zu konstituieren? Zurück zu Bowie: Bowie war und ist der einzige fähige Schauspieler der Rockgeschichte. Er verfiel nie je in die anheimelnde Lächerlichkeit der Fools-Bewegung, dennoch wußte er die kurzlebige Glitzerberühmtheit in ein langlebiges Konzept zu überführen. Bowie wird viel geliebt, direkt, feucht, unvermittelt. Er wurde kaum je begriffen. Die Bourgeoisie hat eine grauenvolle Angst vor ihm; sie kann ihm, genau wie den frühen Punks, nur mit ihrem argumentativen deus ex machina kontern, den sie sich, wie so vieles, der linken Argumentation entliehen hat: dem Faschismusverdacht. Bezeichnend die Tatsache, daß ausgerechnet Springers „Abendblatt“ und der konservative „Münchner Merkur“ einen Essay aus dem Alternativblatt „Schädelspalter“ nachdruckten, der den Mythos vom Faschisten Bowie verbreitet.

Bowie II

Bowie ist die Bedrohung; denn die Motivation, die von ihm und der seiner Musik innewohnenden Utopie ausgeht, gründet sich nicht auf den leicht einschätzbaren und in ihrer Gefährlichkeit ebenso gering zu veranschlagenden alternativen Verbesserungsvorschlägen des Hippie-Protests. Sein Entwurf ist der einer ideologisch klaren Persönlichkeit ohne Schlacken, die sich skrupellos der Idealtypen der bürgerlichen Mythologien bedient, ohne sich ihnen verpflichtet zu fühlen. Bowie nutzt alle ihre Schattierungen aus (Astronaut, Harlekin, Alien, Diktator, Diplomat), um sie respektlos, distanziert und präzise in seinen brisanten Diskurs der Lust einzuformen. Bowie ist der Revolutionär, der in alle Rollen schlüpft, die gemeinhin für Feinde der Revolution vorgesehen sind, um sie voller Lebensfreude zu sabotieren. Bowie antizipiert den alien rebel; und die Geschmackslosigkeiten, Fehler, die ihm hin und wieder aus Unkenntnis der eigenen Methode unterlaufen, tragen umso mehr dazu bei, das herrschende Denken zu unterminieren. Wahrlich: Bowie ist der Vater der wichtigsten Punk-Bestandteile, wenn auch dies nicht so ist, daß man solche Kontinuitäten konventionell nachweisen könnte, solcher Vererbungs- oder Inspirationsvorgänge habhaft werden könnte. Neben einigen anderen Genies, die aber nie eine vergleichbare Breitenwirkung erreichten, bürgt Bowie für die machtvolle Bedrohung durch die subversive Kraft der Rock-Inszenierung.

Worum es eigentlich geht

Bowie ist einer der wenigen, die auf dem Terrain des Pop seit mehr als zehn Jahren kontinuierlich große Leistungen vollbringen. Pop – das ist die letzte Instanz der Wahrheit und die letzte Verständigung zwischen Basis und Überbau. Pop bringt seit 10 oder 20 oder 50, vielleicht seit 150 Jahren beständig die wahrhaftigsten Bilder zur Wirklichkeit hervor, ohne daß die Praxis des Feuilletons, der allgemeinen Meinungsscheiße je ihre gichtigen Finger tötend auf dieses Gestaltungsprinzip legen konnte.

Was ist Pop? Im weitesten Sinne: Bertolt Brecht, Free Jazz am Anfang, Gesang in 3 Minuten, Jazz der 40er – Momente von Kunst ohne Mühseligkeit. Epiphanien. Hier soll es aber um Pop seit 1960 gehen, um die unter diesem vagen Namen bekannte Kultur dieser Epoche. Zunächst waren auch die Hippies Pop. Ihre Leistungen und deren Fortsetzungen gründen sich wie bei den Punks auf drei, vier kreative Pop-Jahre. Wagemutiges, großspuriges Anhäufen großer Themen auf netten Melodien, unangreifbar geniale Kürzel: Als David Crosby mit den Byrds 1966 sang: „Everybody has been burned before / born before“, war das so eine subtile, Unvereinbares vereinende, historisch-kulturelle Momentaufnahme – eben typisch Pop. Heute glaubt er wohl sogar, was er damals sang. Und hunderte lächerlicher kalifornischer Sektenbrüder mühen sich, „den INHALT“ dieses Satzes (wie tausendmillionen anderer) zu LEBEN oder zu erforschen. Sie betreiben eine Pop-Exegese als sei’s die Bibel. (Das mag manchmal bei späteren Pop-Erscheinungen – Red Crayola, Art Bears, Pere Ubu – durchaus angebracht sein, beruht aber eigentlich auf reinem grundlegenden Mißverständnis davon, wo eine Wahrheit von Pop wirklich ihren unversöhnlich-lustvollen Stachel in das Fleisch der jeweiligen Zeitgenossen jagt).

Eine schöne Definition von Pop lieferte mir unfreiwillig die Zeitschrift „Spex“. In einem Verriß einer der größten Pop-Künstlerinnen, Debbie Harry, schreiben sie nörglerisch vorwurfsvoll: „daß die Gruppe Stilelemente nie wirklich spielt, sondern nur benutzt“. Eben. Das ist es seit Bertolt Brechts „ich gestehe, daß ich in Dingen des geistigen Eigentums…“; das ist 20. Jahrhundert; das ist der Fortschritt des menschlichen Bewußtseins, daß Kunst nach der Epoche des „Gegen“ (gegen den Kapitalismus, böse Menschen, Lieblosigkeit, Schweine, Hörgewohnheiten, Sehgewohnheiten) eine neue Haltung hervorbrachte, die, immer gewahr der Widersprüche, um die herum und durch die sie entsteht, diese in respektlosen, naseweisen, plumpen und grellen Mini-Analysen vereint. Diese Mini-Diskurse schließen alle möglichen Überlebenskampf-Taktiken ein. Sie stehen jedem kämpfenden Genossen zur Verfügung, der sich von der Peinlichkeit des echten Anliegens freigemacht hat und nur noch mit der ultimativen Fröhlichkeit einer nahezu aussichtslosen Lage sich die Wahrheit erkämpfen will, wissend, daß alles, was er in der Sprache des Pop sagt, in mehreren Anführungszeichen erscheinen wird.

Was dies im Kern zusammenhält

Epochen der buchstäblichen Erneuerung sind seit Urzeiten vorbei; Debbies, Bowies und aller anderen (bewußtes oder unbewußtes) Prinzip, Stilelemente nur noch zu verwenden, gehört die Zukunft (und auch ein größeres Stück Vergangenheit). In der klassischen Musik ist die kleinste Einheit der Ton, im Pop ist es der stilistische Verweis. Pop-Musiker bedienen sich nicht mehr bei einer Ton-Palette sondern bei einem Sound-Stil-Klangfarben-Supermarkt; über Qualität entscheidet die Haltung zum Material und ob das Resultat in den Erfordernissen des Alltags funktioniert. Das entscheidet sich oft im Verhältnis der spezifischen Nuancen zum bekannten, jeweiligen Pop-Code. Popmusiker sind semiotische Alchimisten, keine Tonsetzer.

Unsere letzte Freiheit

Pop mischt diese Welt auf. Nicht eingegliedert in einen kulturellen Sekundärprozeß, sondern nur von Schallplattenfirmen oder Einzelenthusiasten des Schnellverdienens als reine Ware behandelt, der kein Überbaugebläse den Warencharakter weglügt. Stattdessen findet dieser Warencharakter selbst ständig Eingang in die Pop-Reflexion, wird mal traurig, mal frech, stets selbstbewußt zur Schau getragen. Das, was ich hier als Rahmen der Pop-Musik/Kunst abzustecken versuche, mag anderswo als bekannt, zumindest als erahnt gelten. In Deutschland aber, wo Bob Dylan immer noch wegen seiner pfadfinderhaften Jugendführerqualitäten eher geschätzt wird als wegen seiner treffenden, historisch-analytisch genauen Kurzformeln für Liebeskummer in Epochen der Libertinage und seiner einsamen, knappen Artikulation des Phänomens „große-Kunst-trifft-miefigsten-Provinzialismus“, muß endlich für das rechte Verständnis der letzten Ausdrucksform geworben werden, die uns im Zeitalter der kritischen Meinungsscheiße noch bleibt.

Unruhe stiften

Zweifellos kann gute Pop-Musik, die zumindest bis vor sehr kurzer Zeit von der Generation der 76/77er monopolisiert wurde, in Kämpfen eingesetzt werden. Per definitionem ist sie gut, wenn sie wahr ist, und wenn sie wahr ist, versetzt sie ebenfalls per definitionem die Mauern der Stadt in Erschütterung, richtige Anwendung vorausgesetzt. Nur ist Pop viel zu weise, um zu taugen als Soundtrack für ein verlorenes Bürgerkriegsspielchen, das vielleicht als spektakuläres Szenario, den Staat verunsichernd, einen Sinn hat, aber nicht, wie sich das noch zu viele Anarcho-Kombattanten vorstellen, als reelle Schlacht gegen eine an Medien- und Waffenterror überlegene Staatsmacht. Für den Kampf-Typus „spektakuläres Szenario“ ist Pop jedoch von großem Nutzen, insbesondere der Pop der späten 70er, antizipiert er doch in Texten und Klang tausende von möglichen Mini-Szenarios symbolischer Unruhe.

Unerkannt bleiben

Aber die traditionelle, auffällige Unruhe darf immer nur eine Seite des Kampfes gegen die offizielle konservativ/liberal/sozialdemokratische Mixtur einer im Kern provinziellen, gelegentlich ins ästhetisch-politisch Kühne umschlagende Medienfassade pluralistischer Verdummung sein. Sie muß ergänzt werden durch ein Konzept, wie es etwa Genesis P. Orridge von Throbbing Gristle „alien culture“1 nennt. Ein Unterwandern, Einsickern in das Normale, Alltägliche, das nichts mit einem blauäugigen Marsch durch die Institutionen gemein hätte.

Die Maske der Normalität, von einem avancierten, wissenden Kopf getragen, nicht um sich zu verstecken, sondern um „mittendrin zu stecken“, ist die verwirrendste Taktik der Okkupation offizieller Meinungsinstanzen. Auf Kunst angewendet heißt das: nicht nur Nutzung der von der Jugendkultur als Verständigung entwickelten Ästhetik (mit all ihren Leistungen und Irrungen, die man stets auseinanderhalten muß), sondern Virtuosität in, durch keinerlei Anspruch exponierten, normalen Formen. Die Abwesenheit von sozialen/weltanschaulichen Identifizierungsmerkmalen (Kleidung, Haarschnitt) stellen eine brüskierende Leere für den auf solche Zeichen angewiesenen Großstadtmenschen dar und erschüttern den eindimensionalen Hippie ebenso wie den Mehrheitsbürger.2

Abba

Auch in der Kunst ist die nackte „Normalität“ verschwunden. Wie fast alle Hippie-Ideologeme ist auch „Anpassung“ (als vermeintliches Feindbild) in die Niederungen der Konsumartikel-Industrie-Kalkulation abgesunken und die Kennzeichnung eines jeden Erfolgsschlager als stilistisch spezifisch (Reggae, Country, Calypso, R & B – Boney M., Goombay Dance Band, Gunter Gabriel, Peter Maffay) längst eine Maxime der musikindustriellen Fließbandproduktion. Das „Unangepaßte“ ist ebenso bereits ein erzbürgerlicher Alltagsreflex, der oft die übelsten Mutationen der genormten Häßlichkeit hervorbringt. Dagegen ist der nackte Schlager, wie ihn etwa noch Abba schrieben, also mittlerweile eine obszöne Hinterrücks-Attacke, eine vom Gegner nicht lokalisierbare Bastion ästhetischer Kriegsführung.

Alternative Häßlichkeit

Die heruntergekommene Hippie-Idee par excellence ist der Fool, der gleichzeitig in unzähligen Inkarnationen beim Talk Show wie beim zahlenden Publikum zum Liebling avanciert ist: Feuerschlucker, Gaukler, Clowns – jede Menge circensischer Relikte wurde in den letzten Jahren mit dem Mythos vom „Anderssein“ verbunden und der Fool, mit seiner willkürlichen, scheinbefreiten Narrheit zur Symbolfigur eines Bewutßseins, das glaubte, mit dummfreundlichen Clownereien, eskapistischer Märchenschwelgerei und präzivilisatorischen Archaismen die „Phantasie an die Macht“ zu bringen. Und fühlt sich dabei auch noch als Alternative zu einer „zu kopflastigen, zu rigiden Linken“. Der Versuch, durch immer größere Buntheit dem grauen Altag Paroli zu bieten, führte zu einer Masse bunter Ameisen, die in ihrer formelhaften, konventionellen Unkonventionalität, bald so verwechselbar uniform aussahen wie ihre Feindbilder.

Die bürgerliche Öffentlichkeit hatte leichtes Spiel mit dieser Geisteshaltung (die so hartnäckig in so viele Ausdrucksformen dessen, was sich New Wave/Neue Deutsche Welle dünkt, eingesickert ist und mit der auch sonst circa 15 % Bundesbürger schwanger gehen): ihre dürftigeren Organe waren eitel Freude über diese herrlich verspielte Kultur. Sie wollten mitspielen und veranstalteten Straßentheatertreffen, Literaturtrubel, Fools-Festival, Liederzirkus und derlei mehr – die tapsig-geschminkte alternative Häßlichkeit mit ihren Symbolfiguren (ich sage nur: Zadek, Heller, Hundertwasser, Lindenberg, Savary, Edwards) wurde ein fester Bestandteil der feuilletonistisch abgesegneten leichten Muse, während das Leben ernst blieb.

Die ernsteren Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit hatten ein ebenso leichtes Spiel, die Geistlosigkeit jener Kumpel-Kindergarten-Haltung zu denunzieren.

Invasion von der Wega

Die „alien-culture“-Idee, das Gegenteil des oben geschilderten, verlangt dagegen, die Karten nie zu zeigen, mit denen man spielt. Man kämpft ja nicht nur an der (ästhetischen) Front, sondern vor allem in der Etappe des Gegners, steckt mitten drin, kriegt alles mit und zeigt keine Regung auf dem freundlichen, klugen Gesicht. Wie der Eindringling vom anderen Stern, der sich trotz seines um Galaxien anderen Bewußtsein, hinter einer Menschenmaske verbirgt und so ohne Angriffsflächen bleibt. Unter dieser Tarnkappe, über die man keine verbindlichen Aussagen machen kann, da sich ihr Gesicht nach dem jeweiligen Wirkungsgebiet des jeweiligen „alien rebel“ richtet, dringt der wissende Kämpfer unerkannt in das Netz vereinbarter Selbstverständlichkeiten des bürgerlich-parlamentarischen Für-Gegen-Meinungs-Diskurs ein, auf daß dessen Macht und Überzeugungskraft verpufft, implodiert – oder um es mit den Worten des amerikanischen Verteidigungsministers zu sagen – bis dieses System zusammenbricht „mit einem Winseln, nicht mit einem Knall!“

Für Grenzen

Wie jeder Rebell glaubt auch der alien an die Machbarkeit der Dinge, ist er ein Verfechter des Künstlichen und muß daher die heilige Aversion im Hippie-Allerweltsbild gegen Künstliches, gegen absichtsvoll gemachte Schönheit und für das „Natürliche, Echte“ bekämpfen. Diese Vorstellung von Echtheit prädestiniert den Hippie zum Opfer, das er ja permanent darstellt, zum ewigen Verlierer; denn er verweigert den Glauben an die Aktivität, an das Formen (auch wenn er vordergründig betrachtet viel zu aktiv und viel zu präsent ist. Doch das ist nur Hampelei.) Ästhetische Aktivitäten reduziert er auf den scheinbar spielerischen, in Wirklichkeit planlosen Griff in den Schminktopf. Spiele ohne Regeln sind debil, Anarchie nicht Anarchismus. Der alternativen Häßlichkeit wohnt ein Prinzip inne, das nach Selbstauflösung, Selbstaufgabe verlangt. Der Hippie in seiner wallenden, alle Konturen verbergenden, alle Entschiedenheit des Körpers aufhebenden Kleidung, lebt in der Sehnsucht nach einem ozeanischen Selbstverlust, im feucht-warmen Uterus der Szene oder noch konkreter in Encounter/Selbsterfahrungs/Religions/Sekten-Klüngeln, die expressis verbis die Aufgabe des Ego verlangen.

Der alien rebel dagegen zirkelt seine jeweils angenommene Identität ab, gibt ihr die Grenzen, die sein jeweiliges Aufgabenfeld verlangt. Ihn verlangt es nicht zu verströmen, sondern seine Energie als Bombenladung gezielt anzubringen, bevor er in einen anderen Anzug schlüpft, ein anderes System von Sinnzuweisungen als Kampfplatz erwählt und zu erschüttern trachtet.

Freilich müssen wir jetzt endlich über Wahnsinn reden. Das Problem der Identität. Wir haben recht eindrucksvoll gesehen, daß uns die sog. Wahnsinnigen den positiven Sinn der Zertrümmerung des lächerlichen Konzepts „Identität“ vorgeführt haben, und der Selbstauflösungsdrang im Styling wie im Lebensgefühl des Hippies wird ja theoretisch oft als eine Reaktion auf diese Erkenntnis überhöht. Doch wäre diese selbstgewählte, hoffnungslose Antithese auf die Dauer nichts weiter als trostlose Resignation. Der alien mit seinen rapide wechselnden, aber jeweils präzise umrissenen Identitäten, hat sowohl die Relativität der Identität begriffen, wie die Nutzlosigkeit ihrer Leugnung. Identität ist fun und ihre Krise die lebensspendende Kraft der Jugend.

Besitz

Die Jugend hatte sich den Pop geholt und wieder verloren und oft mußte sie ihn sich zurückerkämpfen. Phil Spector war der erste Jugendliche, dem Produktionsmittel des Pop gehörten, aber auch ohne den ökonomischen Besitz der Mittel kann die Jugend Pop kontrollieren, und ich meine nicht die Konsumenten, die es tatsächlich kaum können und eher Opfer der Medienlügen werden, sondern die jugendlichen Produzenten. Da diejenigen, die mit Pop Geld verdienen immer dann, wenn etwas wie Punk den Pop zurückerobert, den Boden der kalkulierbaren Berechnungen unter den Füßen verlieren, sind sie den Eigendynamiken der jugendlichen Äußerungen ausgeliefert. Sie müssen den schrägen Vögeln vertrauen, die ihnen die Tapes bringen. Zu Punk gehörte zwar der Griff nach den Produktionsmitteln und dieser wurde inzwischen weitgehend vom System abgewehrt, aber zu Punk gehörte noch eine viel wesentlichere Entwicklung, oder besser Wiederentdeckung: die Abschaffung der Virtuosität.

Die Geschichte der geilen Soli

Die Virtuosität ist die Bastion des Subjekts in der Musik. Der Virtuose entwickelt ein an seine Autorität geknüpftes Wissen. Pop tendiert von jeher dazu, dies zu negieren, an Stelle des Subjekts sofort lösliche Mythen zu setzen. Als Jazz Virtuosität zum Selbstzweck betrieb und dafür reichlich Lob und die endgültige Anerkennung der bürgerlichen Kultur kassierte, in der dies gang und gäbe ist, verlagerte sich Pop zum Rock’n’Roll und der Jazz denunzierte die genormte Virtuosität durch den Free Jazz, der sich für die Doofen erstmal so anhörte wie von Dilettanten.

Als der Beat zum Jazzrock wurde und vom Jazz nicht Implosivität und musikalische Offenheit übernahm (Exzellentes wie Tony Williams Lifetime oder Soft Machine ausgenommen), sondern dessen, meßbaren Leistungsvorstellungen gerechte, Virtuosität, wurde Punk notwendig. Nachdem Punk Virtuosität durch brachialen Dilettantismus abgeschafft hatte, wurde diese Haltung statisch kultiviert und wirkungslos, wieder schlichen sich Subjekt-bezogene Spielweisen ein (damit ist übrigens nicht Stil schlechthin gemeint, sondern eine bestimmte Art von Stil, die ihre Urheber verabsolutiert). Die nun folgende Dominanz von Computern und Synthesizern ist ein neuer Schritt gegen die manuelle Virtuosität.

Die Abschaffung des Subjekts ist in der Philosophie ein alter Hut, in der Pop Musik ist sie bereits unbemerkt in die Praxis eingegangen. Während in den meisten Sparten der abendländischen Kultur noch immer das Ritual um den einen Autor inszeniert wird, sind in der Welt der Vinyl-Schwemme die Positionen verteilt und für wechselnde Besetzungen freigemacht. Der Star, dessen Berühmtheit immer kürzer wird, gibt ein beredtes Beispiel: er ist längst nicht mehr der gefeierte Urheber, sondern nur noch Repräsentant einer Musik.

Pop-Geist

Viele, vor allem ältere, länger der Praxis ausgesetzte Musiker aus der Hippie-Generation haben die Sackgassen ihrer Altersgenossen weise umgangen. Die wahrhaft avantgardistischen Geister der Rockmusik waren nie den geistlosen Mythen des von unten kommenden Helden, der alles herausbrüllt, was er an Scheiße gefressen hat, aufgesessen. Sie haben von jeher um den fruchtbar-parasitären Eklektizismus der Pop-Kunst gewußt und liefern z.T. noch heute die cleversten Werke. John Cale und Lou Reed seit etwa fünfzehn Jahren, Bowie, der gleichzeitig als Macher wie als Star fungiert, wurde schon genannt. Red Crayola, die Gruppe Mayo Thompsons, die höchst-gesteigertes marxistisches Denken zu dynamitenen Miniaturen schnitzt und in entwaffnend-liedhafte Melodien einpaßt, sind mein Musterbeispiel für die vielgestalten Lernprozesse, die die Pop-Geschichte durchmacht. Auf der anderen Seite bedienen sich die Jungen heute in immer bewußterer Weise alter Stilelemente und schneiden sich in rasanter Weise als konkurrierende Bedeutungsträger aneinander. Beispiel: der wahrhaft poppige Jazz der Lounge Lizards.

Hang him on my wall!

Die Strategie des Ja-Sagens war eine entscheidende Errungenschaft der Post-Punk-Ära, obwohl man sie schon bei Velvet Underground findet. Nachdem der nörgelnde Protest-Song (dieser ist in der neuen Welle durch das redundante Gejammer über zuviel Neonlicht, Neubausiedlung, Computerüberwachung, kalte Großstädte, Weltuntergang und andere von „Stern“ und „tip“ aufbereitete Themen ersetzt worden), der tatsächlich noch glaubt, der Staat sei ein Vater, und sich über weggenommene Spielsachen oder ungerechte Strafen beklagt, von immer mehr Leuten als sozialdemokratische Parlamentsrede erkannt wurde, breitete sich eine neue Haltung aus, die durch Affirmation provozierte, meistens aber verwirrte: die Haltung des alien, der eine Welt vorfindet und positiv in der Sprache ihrer eigenen Rechtfertigung beschreibt. Hinter einem Song wie etwa „Don’t Worry About The Government“ von den Talking Heads sieht man das skandalöse Lächeln Andy Warhols, des größten Pop-Künstlers, der gegenwärtig ein Magazin betreibt, in dem Herrschende und ihre Symbolfiguren sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, bis sie sich am Ende der Seite vollkommen verflüchtigt haben, wie eine an der Sonne getrocknete Qualle. Gegenwärtig liefert kaum eine kommerzielle Publikation ein so exaktes Bild dieser Welt, wie „Andy Warhols Interviewe“.

Der Waffen sind viele (Manifest Nr. 2)

Andere Situationen erfordern andere Aufgaben. Das massive „Nein“ der Pop Group, das ganz ohne sozialdemokratische Verbesserungsvorschläge aus tiefsten Herzen undifferenziert-hilflos fragt „How Much Longer Do We Tolerate Mass Murder?“ oder anti-künstlerisch-thetisch brüllt: „Escapism is not freedom!“ hat genau so seinen Platz wie die zurückhaltend-affirmative Analyse der Talking Heads. Und eine ganz andere, aber ebenfalls in der Vielfalt von rabiaten Artikulation der letzten Jahre erst möglich gewordene Ausdrucksform ist der Tausend-Worte-Pro-Sekunde-Relativismus des Mark E. Smith, dem proletarischen Zarathustra von The Fall.

In der gegenwärtigen Epoche der Restauration können auch neben den neuen selbstverständlich alte Formen der Hippie-Kämpfe Aktualität zurückgewinnen. Neue Entwicklungen erfordern neue Koalitionen und seit überall der reaktionäre Backlash zuschlägt, stehen wir alle unter dem gemeinsamen Hit-Slogan von Heaven 17: „We don’t need this fascist groove thing“.

Und am überraschendsten für alle berufsmäßigen Analytiker des Zeitgeists und ebenso krampfhaft geleugnet, ist die Tatsache, daß die Kommandozentrale des Weltaufstandes oft genau da liegt, wo man eine kurzfristige Modebewegung oder einen Trick der Schallplattenindustrie widmet, etwa bei dem modischen Synthesizer-Trio Heaven 17. Eine Tanzkapelle der schicken britischen Fashion-Tänzer, die dem Reagan-Attentäter Hinckley musikalisch „better luck, next time!“ wünschte.

Jedoch

Daß alles immer da ist, wo es der Gegner, die herrschende Lüge, nicht vermutet, bleibt auch die wesentliche Botschaft für alle, die sich um Ausdruck bemühen. Den alien darf es demnach nie wirklich geben, es ist selbstverständlich nur ein Vorschlag, der zu Gunsten von etwas Besseren verworfen werden muß, und auch das Bessere wird nur solange wirksam sein, wie es keinen Namen akzeptiert. In diesem Text geht es mir eher darum, Pop zu denken, als Denken über Pop festzuschreiben. Pop ist schön und für alle da. Seine Botschaft heißt: „Nimm dir, was dir gehört und genieße es“. Seine Wahrheit ist die eines plötzlich bestätigten paranoiden Gedankens. Es ist die Wahrheit der plötzlichen Entdeckung der großen Ungeheuerlichkeit.

  1. „Und ich glaube, aus diesem Grund geht unsere Perspektive der molekularen Revolution weiter als die der Ökologisten, in dem Sinne, daß es nicht ausreicht, die Umweltverschmutzung der natürlichen Umgebung für ein Resultat der Industriegesellschaft zu halten: betrachten wir die subjektive Ebene, so erkennen wir, daß die Umweltverschmutzung auch im Geistigen existiert, daß ihr nichts entgeht, daß es keinen Ausweg gibt, weder in die transzendentale Meditation noch in die Makrobiotik. Alle sind verseucht, nicht nur auf der Ebene des Körpers, sondern auch auf der Semiotisierung. Und hier stellt sich das Problem einer Art permanenten Revolution, einer molekularen Revolution, die sich mit all den anderen – sozialen, ökonomischen, ökologischen – Revolutionen verbindet und artikuliert. Sie geht wieder vom Wunsch aus, gestaltet ihn quasi künstlich neu. Was ich hinsichtlich der Gebrauchswerte gesagt habe, muß man heute auch hinsichtlich der Wunschwerte wiederholen: es gibt keine Frauen, keine Kinder, keine natürlichen Beziehungen – alles ist in diesem maschinellen semiotischen System gefangen. Man muß also Partei ergreifen. Die molekulare Revolution besteht darin, zu sagen: ‚Gut, wir werden uns in einer völlig künstlichen Art ein Modell vom Mann, von der Frau und von Beziehungen errichten.‘“
    Felix Guattari ↩︎
  2. „Was immer du sagst, sag es nicht zweimal / Findest du deine Gedanken bei einem andern: verleugne ihn / Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ / Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat / Wie soll der zu fassen sein! / Verwisch die Spuren!“ ↩︎