Neu im Kino: Godard, Varda, Scorsese

Der Regisseur der Offenheit, des permanenten Reflektierens der Arbeitsbedingungen, der unermüdlich zwanghaft experimentelle Ergründer des Liebe-Arbeit-Kino-Lieblingsthema-Komplexes, der Fundamentalist – man lehnt sich zurück und genießt ihn, wie einen Meisterregisseur, wie einen Ford, Hawks oder Kurosawa, wie man einen bekannten Großmeister auf dem Höhepunkt seiner Reifejahre anschaut, immer darauf achtend, daß der Kosmos, den sein Name konstituiert, auch vollständig ist, daß sein künstlerischer Entwurf, dem wir durch all die Jahre die Stange gehalten haben, nicht umgeworfen worden ist: Maestro Godard. Die Blondinen, die Gangster, die Aperçus. Es gibt Männer, die einen sauberen Schwanz haben, weil sie sich die Hände waschen, bevor sie pinkeln, und es gibt Männer, die haben einen schmutzigen Schwanz, weil sie sich die Hände nach dem Pinkeln waschen. Sagt Alain Cuny, das Denkmal. Zu Claude Brasseur, einem anderen sentimentalen Denkmal des französischen Kinos, dem Erfinder der richtigen Miene zum bekannten, französischen Pfeiflaut Pfüh!, der soviel sagt wie Achselzucken oder „So What!“ Über allem, nein besser: zwischen allen, der durch die Szenerie geisternde Jean-Pierre Léaud, in den ich als Frau den ganzen Tag verliebt wäre: immer bübisch besserwisserisch, obwohl er eigentlich gar nichts weiß, nur das, daß es besser ist zu wissen, als sich rätselnd den Verzweiflungen zu überlassen. So wird er zum Gegenspieler Godards in diesem Film. Godard, der zur Kunst erhoben hat, nicht zu wissen, zu forschen, sich darauf zu verlassen, daß die von ihm veranstalteten Zufälle sich von selber zu Aperçus ordnen. Jemand hat gesagt, Léaud trete auf als Vertreter von Godards verstorbenem Erzfeind Truffaut, der sich Léaud schließlich einmal ausgedacht hatte. Ja, das kann sein, und manchmal ist es, als würden sich die beiden Männer unter der Sonne einer überirdischen Altmänner-Lakonie in diesem Film versöhnen, auch wenn Truffauts Lieblingsgegenstände, die Bücher, hier achtlos durchgeblättert, durch die Gegend geworfen und nicht gelesen werden. Schließlich ist es die Tragik von Johnny Halliday in diesem Film, daß er seit Jahrzehnten einfach nicht dazu kommt, „Lord Jim“ zu lesen. Aber die Bücher als emphatischer Gegenstand – wer wollte das verlangen? Heute, wo sich die Idiotenregisseure und Idiotenfilmkritiker nach Zitaten postmoderngeil ihre Münder schlecken, behauptet Godard, in diesem Film sei kein Wort von ihm. Es hagelt Zitate wie Bücher, nicht um die Kulturgüter zu schmähen, als die sich die miesen, kleinen, kostbaren Dechiffrierzitate so gerne ausgeben, sondern weil Godard uns sagen will, daß er alles, incl. sich selbst und seine Dauerthemen ad infinitum zitierend ausschöpfen kann, solange er dabei verschwenderisch ist, wird immer alles gut. Godard ist gut.

Die Geschichte der Mona (Sandra Bonnaire) liest sich, zusammengefaßt, wie das Lexikon alternativer Allgemeinplätze und Vulgärsehnsüchte, tatsächlich ertappe ich nach „Vogelfrei“ von Agnes Varda ein Pärchen dabei, wie sie über Pro und Kontra des Lebensentwurfes einer Streunerin ihre durchaus richtigen kleinen Gedanken austauschen: Was ist Freiheit? Doch diese Frage stellt der Film nicht. Viel bescheidener fragt er: Was wäre wenn? Und beantwortet dies anhand einer Versuchsanordnung ebenso lakonisch wie hart mit: Tod. Tod nach drastisch sichtbarem Niedergang (kaputte Schuhe, Dreck, Gestank, Alkohol, Promiskuität) der Hauptfigur. Aber er zeigt auch den bizarren Stromunfall im Bad der arrivierten Professorin, der jeden ereilen kann. Durchs Überleben ist noch nichts gewonnen. Memento vitae!

Agnes Varda ist eine mitfühlende Rationalistin, mein Lieblingsfilm von ihr, „Le Bonheur“, zwanzig Jahre alt, untersucht die Mathematik, oder besser die Geometrie der Lüge „Glück“. „Vogelfrei“ untersucht nicht die Mathematik der Freiheit, aber vielleicht der Einsamkeit. Produktive Einsamkeit, die zum Tode führt, aber vorher noch unschätzbaren Radiogenuß bereithält. Dagegen stehen nicht nur die Spießer, sondern auch die Professorin, die die Platanen vor Platanenkrebs retten will. Wird sie es schaffen, bevor der nächste Stromschlag sie heimsucht? Memento mori!

„If you close the door, the night could last forever, all the people are dancin’ and they’re havin’ such fun. I wish it could happen to me, but if you close the door, I’ll never have to see the day again. Dark party-bars, shiny cadillac-cars and the people in subways and trains, looking grey in the rain as they wish to sustain, but people look well in the dark … someday somewhere someone will look into my eyes and say: ‚Hello you’re my very special one‘ … but if you close the door I’ll never have to see the day again.“ Diese verzweifelt schöne friedliche Gemütlichkeit, die Mo Tucker verbreitet, wenn sie Lou Reeds „After Hours“ singt, ist das Gegenteil der Stimmung des gleichnamigen Scorsese-Films. Es ist eher die Stimmung, die herrscht, wenn Streunerin Mona mit einem kiffenden Doors-Fan in einem alten Schloß unterschlüpft und sie noch als schlafendes Paar in ihrem fragilen Glück von drei Tagen ein Bild abgeben, das auf Monate die Träume eines ordnungsgemäß liierten Dienstmädchens ausfüllt. Nein, in „After Hours“ herrscht auch nicht die Kälte der menschenverachtenden Gegenwart, der modernden Großstadt, es herrscht eine umgekehrte Gemütlichkeit, denn der Film illustriert einen netten altmodischen Alptraum, einen, dem man das gute alte Prädikat „kafkaesk“ geben kann. Ein Yuppie verstrickt sich in einer Nacht in Downtown-Manhattan in eine nicht endenwollende Folge ultimativer Peinlichkeiten und unverständlicher Seltsamkeiten. Es ist die alte Idee, vom LSD, das man dem Spießer einflößt, auf daß dieser sich wie Stan Laurel am Kopf kratzt und nichts versteht. Es ist Bob Dylans Standard-Charakter Mr. Jones: „But something is happening here and you don’t know what it is. Do you, Mr. Jones?“ Neu ist nur, daß die schrägen Nachtvögel den Yuppie auf Abwegen gerade dadurch irritieren und in immer unentwirrbarere Alp-Netze verstricken, daß sie sich viel spießiger, begrenzter benehmen, sich paranoid in Bürgerwehren organisieren und eigentlich viel eher xenophoben Middle Wests-Kleinstädtern gleichen als verrufen-dekadenten weltoffenen New Yorkern. Scorsese hat sehr schön den Umschlag vom Spinösen, Transvestitischen, Selbstorganisierten, Alternativen ins Faschistoide inszeniert, als bizarren Klamauk, als das komische Ende von Taxi Driver. Was sich Travis Bickle nie hätte träumen lassen, daß Sports einer Bürgerwehr vorsteht. Früher waren die Freaks aufgeklärt und lebensklug, heute hetzen sie in umgekehrter Easy-Rider-Manier den vernünftigen Normalo, den sie eines Diebstahls verdächtigen. Nicht der Durchschnittsmensch ist pervers.

Am Ende wird der Yuppie als Segal-Figur irrtümlich eingegipst und fällt auf dem Weg zum Kunstmarkt aus Cheech und Chongs Lieferwagen. Denn sieht es so nicht aus heute in Manhattan? Ein Drittel der Bevölkerung macht Skulpturen, ein weiteres Drittel klaut Skulpturen und das dritte läuft als Skulptur herum.