Seit drei Tagen habe ich nun wieder den Lexington Avenue Local, der zwischen der Brooklyn Bridge in Manhattan und dem Pelham Bay Park in der Bronx verkehrt, gegen die U 2 eingetauscht, die zwischen Hagenbecks Tierpark und Wandsbek verkehrt.
Und das leichte, garantiert nicht berauschende amerikanische Bier gegen das schwere deutsche, das auf einem lastet wie der todessüchtige Oktober-Himmel und die leeren deutschen Straßen. Das Leben in Deutschland ist unausgefüllt, lädt zu Nachtmahren und Gespinsten, zu Projektionen und Paranoia ein, produziert Geist. In Amerika, besonders New York, wird beständig aufgenommen, für Geist ist kein Platz. Die Straßen sind voll (Menschen, Zeichen, Laute, Schreie, Schicksale), die Räusche sind leicht und selbstverständlich.
Für Geist ist kein Platz: Jeder ist zu 100 % in den Kreislauf von Produktion und Konsumption eingegliedert. Aber obwohl es keinen Geist gibt, findet man in Amerika weit mehr leichtfüßigen, souveränen Intellekt: bessere Buchhandlungen und kultiviertere intellektuelle Journale.
Die Rückkehr von PiL ist in New York das Ereignis der Saison, für mich nur eines unter vielen, solange ich dort war. Zurück in der BRD, mit dem professionellen Blick des Musikschreibers belastet, beginnt das wilde Konzert im Broadway-Tanzpalast „Roseland“ wieder zu wachsen.
Von deinen ersten Schritten auf amerikanischem Boden an lernst du die unermeßliche Bedeutung kennen, die dort Türsteher und Demarkationslinien haben. Überall sind Menschenströme, und überall sind Linien und Grenzen, die sie daran hindern, über die Ufer zu treten. Und überall sind Offizielle, die den Menschenstrom dirigieren. Gelbe Linien hindern dich im Museum, zu nahe an die Bilder zu treten, gelbe Linien zeigen an, wie nahe du an die Subway-Gleise treten darfst, Polizisten und Linien dirigieren dich zu deinem Bankschalter, duchschnittlich fünf bis zehn Leute sorgen für die Kanalisierung von Besucherströmen bei Konzerten (Rausschmeißer nicht mitgerechnet). Einer teilt den Strom in Besucher mit Karten, solche die sich noch eine Karte kaufen wollen und solche, die vorgeben, auf der Gästeliste zu stehen. Drei weitere Leute prüfen die Berechtigung des jeweiligen Ansinnens, fünf dirigieren einen in den richtigen Teil des Saals. Im Restaurant weist dich ein Maitre D’ an deinen Platz, und am allerwichtigsten sind die ungeschriebenen Grenzen zwischen erlaubten und verbotenen Stadtvierteln: die Avenue A etwa, die den noch halbwegs sicheren Teil des East Village von der Drogen/Mörder-Gegend trennt (obwohl Makler und Kapitalisten im Moment gerade die Gegend jenseits der Avenue A für Schickis und Künstler urbar machen und die Ärmsten der Armen, die da zur Zeit wohnen, buchstäblich in den Fluß drängen, mit Mietwucher und Sanierung) oder die 96. Straße, die die propere Upper East Side von (Spanish) Harlem trennt (und zwar so abrupt, daß es aussieht, als würde Schwabing an Istanbul grenzen). Es ist sehr spannend und genußvoll, an diesen Grenzen zu patroullieren oder sie zu überschreiten.
Public Image Ltd.
Seit Wochen sprachen die New Yorker Jugendlichen von nichts anderem. Und zwar alle: die vielen Lydia Lunch-Kopien, die in geringer Stückzahl eigens aus Europa importierten Pillenbibis, die John Luri/James White-Cool-Jazz- und Cocktail-Replicants, die ehrlichen Rock’n’Roller, die Jazz-Connaisseure, die völlig ahnungslosen, soeben angereisten „Where-Are-You-From-I’m-From-Texas“-Figuren. Alle. Die finnischen Kunst-Stipendiaten, die hier für europäische Malerei sorgen (zusammen mit einigen deutschen Wilden der dritten Liga, die ich bei einer Ausstellung im Goethe-Haus sah, die unserem Vaterland fast so wenig Ehre machte wie der neue Bundeskanzler: „Unlike most Germans who’ve been educated after World War II Mr. Kohl speaks very little English“, New York Times), die französischen Schicki-Import-Punker, allerdings kaum Schwarze. Das Gedrängel an der Demarkationslinie wurde dann auch noch von Massen von Punks beherrscht, die trotz der spektakulären Pleite vor einem Jahr im Ritz, als PiL nur Videos zeigten und für ein Pogrom sorgten, ihrem alten Helden weiterhin die Stange hielten und alle davon überzeugt waren, daß John ein zweites Mal nicht mit sowas davonkommen würde. Er versuchte das auch nicht.
Nachdem die satirische Band Art auf selten dämliche Weise ihr kritisches Bewußtsein vorführte, indem sie offensichtlich verhaßte Chart-Hits im Insterburg-Sound nachspielte und die Texte „lustig“ verfremdete, kam es zu einer langen Pause, in der aber das Gedränge um gute Sichtplätze schon gefährliche Dimensionen annahm. Der Manager des Tanzlokals stellte sich, von stämmigen Rausschmeißern umgeben, auf die Bühne und bat die Massen, einen Schritt zurückzutreten, ein Anliegen, das nur höhnisch belächelt wurde: Wenn die Massen in Amerika plötzlich keine Linien mehr vor sich haben, wenn kein Türsteher oder Polizei-Kordon ihnen die Richtung aufzwingt, kennen sie keine Grenzen mehr. Das Gerangel wurde zum Tumult, meine Wenigkeit dazwischen, und das Konzert begann, obwohl der Manager kurz zuvor mit Abbruch gedroht hatte. Ein gut gelaunter Johnny Lydon erklomm die Bühne, nachdem sich das Keith Levene/Peter Jones, Ex-Cowboys International-Bassist/Martin Atkins-Trio schon an kranken Blues-Verfremdungen warmgespielt hatte und zog zur frenetischen Freude der Massen das ganze Potpourri von Gesten, höhnischen, alkoholisierten britischen Späßen, Punk-Grimassen und PiL-Klassikern ab, vor allem die erste LP wurde fast durchgespielt: „Annalisa“, „Religion“ und vor allem gleich zu Beginn das beste PiL-Stück bis heute: „Public lmage“.
Um mich herum wurde es gleich sehr gefährlich: ein Drogen-Hippie verlor die Kontrolle und ließ seinen Körper, von Schweißozeanen bedeckt, unter rudernden Armbewegungen durch die Menge gleiten, ein alter Mann neben ihm fühlte sich angegriffen und schlug zurück, prügelt schließlich hysterisch auf alle ekstatischen Teenies in seinem Umfeld ein, mit beiden starken Bärenarmen und Boxerfäusten, bzw. Ellenbogen, denn er hielt noch sein kleines Frauchen umklammert, das die Auf- und Niederbewegungen seiner Schläge widerstandslos mitmachte. Vorne wurde gepogot und die Bühne gestürmt, pro Minute warfen die Bouncers, die Lydon meistens verdeckten, vier bis fünf Bühnenkletterer wieder ’runter, und Johnny grinste. Ein Hauch von 77 durchwehte den Saal. So müssen sich die Rocker gefühlt haben, die Anfang der Siebziger in HH beim Chuck Berry-Konzert von Nostalgie ergriffen auf die Bühne kletterten, den verunsicherten Chuck zur Brust nahmen und ihm ein herzhaftes „Sauber, Chuck!“ zubrüllten. Den endgültigen Sieg trug PiL – übrigens eine gute Band, rein musikalisch – davon, als sie den zum Hit programmierten Song „Mad Max“ vortrugen. Johns schneidendes Organ im Dienste modernisierter weißer Rock-Musik, ohne Avantgarde-Ambition, ohne in Amerika unpassende Niedlichkeit.
John Cale
Mein alter Held trat mit zwei absoluten Nullen in einem sonst der SoHo (hier gibt es nur Künstler und Kellner, die erfolglose Künstler sind)-Performance-Zirkel vorbehaltenen Laden auf: einem Saxophonisten, dessen Namen ich vergessen habe, und einem gewissen Bob Neuwirth, der angegammelte Greenwich-Village-Literar-Folklore zum Besten gab, wobei ihn John auch noch an Viola und Piano begleitete, doch dazwischen gab es auch Cale solo mit „Fear“, „Paris 1919“ und „Guts“ am Grand Piano und mit dem neuen „Chinese Envoy“ an der Gitarre. Er lächelte säuerlich, trug Dinner-Kleidung und steckte barfuß in Lackschuhen. Er erklärte mir später, die Idee des Konzertes sei es gewesen. Neuwirth zu improvisierter akustischer Konzertnusik rappen zu lassen, worin dieser eigentlich ganz groß sei. Auf der Bühne wäre Neuwirth dann zu schüchtern gewesen und hätte auf den Ablauf eines einstudierten Programms bestanden, was Cale wiederum lächerlich fand.
Ich treffe ihn in den ZE-Büroräumen. Er berichtet von seiner neuen Symphonie, die er demnächst aufnehmen wird Von dem neuen Bewußtsein in Europa („es geht den Leuten dort erstmals nicht um die Gegenwart, sondern um die Zukunft. Daß so ein Bewußtsein sich so weit verbreitet, daß es politisch wirksam wird, ist etwas Neues“), das ihn zu dem LP-Titel MUSIC FOR A NEW SOCIETY veranlaßte. Im Gegensatz zu unserem Paris-Gespräch vor eineinhalb Jahren ist er ruhiger, distanzierter, höflicher, amüsierter. Er hält das amerikanische, wachstumorientierte Denken für anachronistisch. Er sagt. daß er weiterhin zwischen Rock-Musik („die ich mit gutem Grund hasse!“ J.C.) und seinen kompositorischen Neigungen hin- und hergerissen sein werde und daß er und jeder andere, der je mit Velvet Underground zu tun gehabt hätte, es begrüßen würde, wenn Lou Reed für einige Zeit im Gefängnis verschwände („Ich weiß nicht genau, was er uns schuldet, aber es sind Unsummen. Die erste Velvet Underground ist längst eine Platin-LP.“). Seine letzte LP sei enorm billig gewesen und würde ihn zu keinerlei Verkaufserfolgen verpflichten, während HONI SOIT, die auf kommerziellen Erfolg hin kalkuliert gewesen wäre, sich als der totale Flop erwiesen hätte. Trotz eines Super-Hits, wie ich meine („Dead Or Alive“). Cale zieht Stücke wie „Wilson Joliet“ vor. „BrokenBird“ erinnert uns beide an „You Know More Than I Know“, und wir vertiefen uns schließlich in ein Insider-Gespräch zwischen Cale-Fans (Cale-Fan Nummer Eins: Diedrich Diederichsen, Cale-Fan Nummer Zwei: Cale).
Jonathan Richman
Ich sah circa 40 Gruppen bzw. Künstler in circa 25 Konzerten. Dies war das beste. Das Lone Star Café nennt sich auch „die Botschaft Texas“ in New York und bietet ein Heim für Acts wie Jorma Kaukonen oder die herumstreunenden Reste der New Riders Of The Purple Sage, aber auch für Kurtis Blow oder Defunkt. Das Publikum unterscheidet sich hier deutlich von dem New Yorker Publikum. Eigens angefertigte, originalgetreue Provinz-Amerikaner, sorgfältige Redneck-Replicants und viele picklige, sehnsüchtige 50er-Jahre-Schulmädchen sorgen für den exotischen Reiz, den dieses Lokal auf coole, weltweise New Yorker ausübt.
Jonathan Richman gibt es noch. Die Modern Lovers gibt es noch. Und beide waren wohl seit den Aufnahmen der Debüt-LP (deren offizielle Version ich übrigens der unlängst ausgegrabenen Pre-Version vorziehe, obwohl man auf den Song „I’m Straight“, der frühesten Abrechnung mit Kiffern und Hippies, natürlich nicht verzichten kann, und der ist nur auf der inoffiziellen Version enthalten) nicht mehr so gut wie in jener Nacht. John Cale: „Jonathan? Bei ihm weiß man nie. Er ist jetzt verheiratet oder so, und das war mal wieder das Letzte, was man von ihm erwarten konnt.“ Tatsächlich singt Jonathan in fast jedem Song (und er spielt fast nur neue) von seiner neuen Liebe. Wie am Anfang seiner Karriere singt er nicht fertige Songs, sondern hält kleine Reden zur Musik, erzählt Geschichten, zu denen sich seine charmanten Ansagen wie barocke Kapitelüberschriften verhalten. Jeder Song handelt von ihm selber, und seine beiden Sängerinnen sprechen ihn im Dialoggesang mit „Jonathan“ an und stellen interessierte Fragen. Dahinter die Modern Lovers: drei alte Männer am mit Besen getupften Schlagzeug, Baß und Orgel.
Alle waren von Jonathans Soul gerührt: die pickligen Mädchen, die New Yorker, die Replicants, die Cowboys – alle weinten. Songtext: „Jahre bevor ich geboren wurde / kam ein Astrologe zu meiner Mutter / und er sagte: Mrs. Richman / sie werden einen Jerk zur Welt bringen“. Ansage: „Seit ich mein Mädchen liebe, kommen meine Freunde zu mir und sagen: ‚Jonathan, jetzt, wo du ein Mädchen hast, magst du uns nicht mehr und gehst nicht mehr mit uns aus‘ und ich sage: ‚Aber Freunde, jetzt, wo ich mein Mädchen liebe, liebe ich die ganze Welt mehr als sonst, also auch euch‘“, soweit die Ansage, dann der Song, eine langsame Ballade: „Seit ich mein Mädchen liebe / kommen meine Freunde zu mir und sagen: ‚Jonathan, jetzt, wo du ein Mädchen hast‘“ usw. Es ging jedem unter die Haut.
Sun Ra
Spielt hier fast jede Woche. Die Bigband mit den Space-Häubchen intoniert einen Standard nach dem anderen, immer veredelt durch die Weisheit von Musikern, die sich jede Ecke des Kosmos erimprovisiert haben und im Alter nun auf konventionelle Disziplin achten und sich das Big-Band-Repertoir der 30er und 40er vornehmen. Dennoch immer noch jede Menge jugendliche Nachwuchskräfte im Arkestra. Erst nach zehn Minuten kommt Sun Ra selber auf die Bühne, vor ihm tanzende Mädchen, die jubilieren: „The Sun is coming“. Der Alte läßt sich an Piano und Hammond-Orgel nieder. Sein alter kosmischer Weggeführte seit mehr als dreißig Jahren, John Gilmore, grinst bei seinen Soli wie ein römischer Imperator, der seine allerperversesten Ausschweifungen auch nur noch gelangweilt und abwesend erlebt, und spielt das Schönste, das man sich vorstellen kann. Im Publikum sitzen zwei junge Schwarze mit je einem Haufen Percussion-Instrumenten vor sich auf kleinen Teppichen ausgebreitet. Ab und an ergreifen sie eines und bringen es zu Gehör.
danceteria
Hier verbringt man seine meiste Zeit in New York. Auf drei Stockwerken Parties, Konzerte, Film-Premieren, Videos mit Obskuritäten aus allen Epochen des TV und aktuellen, aber meist viel langweiligeren Band-Promo-Spots. An den warmen Tagen konnte man noch aufs Dach, wo man einen herrlichen Blick auf die nächtliche Skyline hat, genau im Norden vom Empire State Building, im Süden vom World Trade Center begrenzt. In der danceteria gab es eine nouveau roman party, bei der man Alain Robbe-Grillet, der wie ein Chansonnier der schlüpfrigen Sorte aussieht, im Sessel gelümmelt betrachten und die souveräne, greise Nathalie Sarraute zwischen Transvestiten und Cool-Jazz-New-Wavern ausmachen kann, Psychedelia-Parties, wo alle Welt mit Reptilien und Schlangen erscheint und sich auf einem bis dahin ungeöffneten Stockwerk eine Band anhört, die von „Five To One“ bis zu „Whole Lotta Love“ die letzte Jahrzehntwende in Erinnerung ruft, bevor sie einem Sitar-Spieler Platz macht, für den um absolute Ruhe und Höflichkeit gebeten wird, während man im Nebel ätzender Räucherstäbchen an der Bar nach Heineken verlangt. Hier spielt James White im dritten Stock am weißen Pianoforte Jazz-Standards im forcierten, chromatischen Monk-Stil, während von unten aus dem zweiten Stock der Disco-Bass ’rauf dumpft, James’ filigranes Improvisieren stört und John Lurie an der Bar sitzt und erklärt: „Ich bin gekommen, um ihn ein bißchen zu ärgern. Wir mögen uns nämlich nicht.“ Hier sah ich ESG, die vier rührenden Puerto-Ricanerinnen mit der Minimal-Percussion-Musik, denen inzwischen die Ideen ausgehen, die Swollen Monkeys mit ihrer Studentenulk-meets-Pigbag-Show, die hervorragende Bostoner Frauen-spielen-Seeds-Band Dangerous Birds, die Lounge Lizards, die zur Party für den neuen kurzen, strengen, abstrakten, fast-Beckett-Film von „Permanent Vacation“-Regisseur Jim Jarmush „Stranger Than Paradise“ aufspielten (zwei Hauptrollen für John Lurie also an diesem Abend) und mit ihrer neuen Besetzung (außer Evan ist keiner mehr dabei, statt Gitarre Posaune) auch ihr Konzept umwarfen. Sie bemühen sich jetzt ernsthaft um Jazz und sehen da natürlich viel schwächer aus: statt B-Movie-Songs und Ideenüberfluß lange Soli und Improvisationen. Hier sah ich jede Menge Kabarett und Kleinkunst, was schnell auf die Nerven geht, Berlin-20er-Revival (bäh!). Sehr sophisticated dagegen „No Entiendes!“, eine Kabarett-Serie von Haoui Montaug, einem der danceteria-Türsteher, der nebenbei noch das Lucky Strike mit „Alles Wird Gut“-artigen Zielen betreibt (Ausstellungen, Musik, Performance und Film bei Kaffee und Alkohol) und der als virtuoser Moderator Musik und Tanzdarbietungen präsentiert, die, sagen wir mal, zu 50 % originell sind. Und das alle drei Wochen. Als Moderator engagiert er sich für den liberalen, demokratischen Gouverneurskandidaten Mario Cuomo, der gegen New Yorks kapitalistenfreundlichen, schwulen Bürgermeister Ed Koch antrat (und dann auch überraschend die Vorwahlen gegen Koch gewann): „Ich habe nichts gegen Schwule, einige meiner besten Liebhaber waren schwul, aber aus gegebenem Anlaß muß ich doch einen schwulenfeindlichen Slogan ausgeben: ‚We need a Cuomo, not a homo!‘“ Oder er bringt dem Publikum einen spanischen Satz bei, wie etwa „El pueblo unido jamás será vencido“ – Wenn sich das Volk zusammenschließt, wird es nie besiegt werden (Ein Satz aus meinem Lieblingsbuch „Sprache der Unterdrückten“ von Compagnero Nostro aus dem Solo-un-capitalisto-mortoesto-un-capitalisto-beno-Verlag.) Ich habe mich mit ihm über die New Yorker Subkultur unterhalten, die Klasse, die er als die „Privilegierten Armen“ bezeichnet, weil sie ohne viel Geld auskommen müssen, in schlechten Gegenden leben, aber dennoch Zugang zu Information, Bildung und Bewußtsein haben. Diese Klasse ist zwar einerseits heute in New York, wie kaum irgendwo sonst in den USA, Nährboden für ein neues subversives Denken, andererseits nach wie vor von der Situation bestimmt, daß man nach New York geht (aus allen Teilen der Welt), um es zu schaffen. Diese Szene ist nach wie vor weiß dominiert und teilweise rassistisch (unglaublich, wenn ein netter, gebildeter Gesprächspartner, den man zufällig kennenlernt, en passant fallen läßt, daß für ihn Schwarze vor allem potentielle Vergewaltiger seiner Frau seien), was Haoui, einem der Initiatoren der britischen Rock Against Racism-Bewegung, besonders auf die Nerven fällt. Er hofft, gemeinsam mit der „Village Voice“ übrigens, auf eine neue marxistische Intelligenz, die sich in Amerika parallel zum neuen Konservatismus langsam herangebildet hat.
Gun Club, Peter Holsapple u.a.
Ins CBGBs ging ich ungern, aber oft, denn hier treten in dunkler, muffiger Bierstuben-Atmosphäre nach wie vor wichtige und vor allem neue Bands auf. Die New Yorker Gesundheitsbehörde setzte das CBGBs in einer Liste der 25 Etablissements, die die meisten Hygiene-Bestimmungen übertraten, auf Platz Eins. Hier sah ich neben den vielen anglophilen New Yorker Bunnymen-u.ä.-Epigonen Peter Holsapple von den dBs in einem Neil-Young-Revival-Solo-Auftritt, der fast so ans Herz ging wie die ungeschützte Selbstdarstellung Jonathan Richmans. Und hier trat der Gun Club auf: Sänger Jeffrey Lee Pierce, Vorsitzender des Debbie Harry-Fan Clubs, Los Angeles, trat in seiner von Debbie für ihn gestylten Frisur vor der fast kompletten Band Blondie, Richard Hell, der offensichtlich genesenen Pat Place von den Bush Tetras, vor Richard Hell, Lydia Lunch und noch mehr alter CBGBs-Prominenz auf. Leider kam er mit seinen etwas zu stereotypen glubschäugig-boshaften Entladungen nicht ganz an das Niveau der hervorragenden MIAMI-LP heran: das Songmaterial wurde zugunsten von Sprüngen ins Publikum vernachlässigt. Dennoch eine der absolut kommenden Bands. Bald mehr davon in diesem Heft.
Clubs
Immer angenehm: Das Pyramid an der Avenue A: wo sich Schickies, Hells Angels, Künstler, Transvestiten, Reiche und Arme und alle Rassen zu Kleinkunst bei Schummer-Beleuchtung und leichten, billigem Bier treffen. Nicht mehr 1000%ig zu empfehlen: Das Roxy an Freitagen. Hier sind in der sonst Rollschuhläufern vorbehaltenen Disco schwarze DJ-Kultur und die neuesten Electric Boogie-Ideen zu besichtigen, ohne den gefahrvollen Weg in die Bronx unternehmen zu müssen. Inzwischen sind zuviel Weiße im Laden, und das Niveau sinkt. Im Trammps veranstaltet der Stones-Entdecker, Yardbirds-Produzent und Arto-Lindsay-Fan Giorgio Gomelsky, Exil-Schweizer und Studio-Besitzer, Montags Massenkonzerte mit jungen Bands: viel DNA-Epigonen dritter Wahl und viel von dem, was Hans „SoHo-Angst-Jazz“ nennt, aber auch positive Überraschungen. Das Armageddon, mitten in der harten Schwulengegend gelegen, veranstaltet Avant-Rock an zwei Tagen in der Woche. Hier findest du 100%ig-jüdische, 100%ige Denker: echter, kochender Brägen, hohes Niveau. Die neue Super-Gruppe mit Arto Lindsay, John Zorn und Anton Fier („Crosby Stills & Nash des Lärms“, New York Rocker) habe ich knapp verpaßt, hatte aber nicht einmal ihren eingefleischtesten Fans gefallen. V-Effect, ein intellektueller Blurt-Verschnitt, waren aber sehr gut (besser als Blurt). Tagsüber: Lucky Strike. Nach vier: Berlin, AMPM, Blue Door, Continental, Fallout Shelter etc. Die Bowling Alley hat auch wieder eröffnet, obwohl am Morgen des Eröffnungstages der Besitzer von Räubern mit einer Bowling-Kugel erschlagen wurde.
Geld
Eigentlich gibt es nämlich kein Geld in Amerika. Nur Kreditkarten und endlos viele Verlosungen, Super-Gelegenheiten, Verbilligungen. Fernsehen und Schaufensterdekorationen vermitteln dir, daß Kaufen nicht Kaufen, sondern Gewinnen ist. Wie im Lotto. Die schmutzigen Scheine faßt du nicht an, mit deiner Karte ergatterst du deinen Gewinn, und Gewinnen ist das Wichtigste in Amerika, Winner das häufigste Wort. Wenn du kein Winner bist, bist du ein Loser, und das ist das Schlimmste.
Hits
Die zwei Haupthits waren „The Message“, von dem jede einzelne Textzeile ununterbrochen von der Wirklichkeit bestätigt wird und dessen Refrain die Leute in der Bronx auf T-Shirts tragen, und „Planet Rock“ von Afrika Bambaata, dem gegenwärtig populärsten DJ aus der Bronx. Bambaata war der Führer einer der vielen in den frühen Siebzigern die Stadt unsicher machenden Bronx-Gangs, er hat aber auch miterlebt und initiiert, wie die Straßengewalt nach und nach durch Kreativität abgelöst wurde. Graffiti, Breakdancing, andere Tänze, Rap, DJ-Kunst in der South Bronx, dem weltweit bekannten Modellpark urbaner Verwahrlosung, hat eine der größten kreativen Explosionen stattgefunden. „Planet Rock“ zollt der inzwischen erwachten Vorliebe der Kids für kleine elektronische Spielsachen Tribut. Kraftwerk ist hip und wird in das Stück eingebaut, sogar Trio kann man in der South Bronx hören. Meinen schönsten Tag in New York hatte ich, als wir an mehreren von John Aheam (ein in der Bronx wirkender, sehr erfolgreicher, aber auch sehr idealistischer Pop-Bildhauer, der die Menschen seiner Umgebung auf grellen Büsten porträtiert) gestalteten Hauswänden vorbei Samstag nachmittag durch die Bronx spazierten und den Kindern auf den Spielplätzen bei ihren lebensgefährlichen Kunststücken zusahen. Dennoch steht auch der Bronx-Kultur die weiße Ausbeutung bevor. Die weiße Neigung zu „cheap holidays in other peoples misery“, die gerade bei N.Y.-Touristen und auch New Yorkern sehr ausgeprägt ist. Ausbeutung ist nicht, wenn weiße Pop-Musik schwarze Elemente einsackt. Ausbeutung ist der dumme Oh-wie-süß-Blick.



