„Ich kokse nicht, ich habe Zentralheizung“ Rainer Werner Fassbinder, zu Journalisten nach dem „Klappe-Prozeß“.
„Und wenn wir es wirklich schaffen wollen, schneller zu sein als dieser Staat und die US-Kriegsstrategen, dann müssen wir darum kämpfen, alle Begrenzungen zu überwinden, eine solidarische Einheit in der Verschiedenheit der Kämpfe herzustellen, die darin jeden ernst nimmt.“ Margit Schiller in einem Leserbrief an die „taz“, 17. 10. 81
„Give me a reason for living!“ Gang Of Four
„My body is the best it’s ever been in my entire life“ Diana Ross
„Having fun is my reason for living“ Gang Of Four
Andy Warhol: How did you like Lady Di’s wedding dress?
Diana Ross: It was beautiful.
Andy Warhol: I really think she’s done so much for virginity. I hope the pope sent her a big wedding present. She’s really bringing it all back.
Diana Ross: She has such a clean look.
Andy Warhol: Where did the prince go on his honeymoon?
Diana Ross: Where did he go?
Andy Warhol: Indiana.
Diana Ross: I don’t get it.
Andy Warhol: In Diana.
Diana Ross: Terrible, bad joke.
(Andy Warhol/Diana Ross in der Oktober-Ausgabe von „Interview“, 1981)
Milliarden Menschen. Milliarden Schicksale, Kämpfe, Verzweiflungen, Tode, Versagen, Enttäuschungen. Auf Flugreisen und im Nachtleben lernt man die Menschen hassen. Auf Bahnreisen und in Fassbinder-Filmen lernt man sie lieben. Das Liebe. Das Bemühte, gut gemeinte, das immer scheitert (seien es die Babys auf den frühen Bildern Jörg Immendorffs oder Brigitte Miras Leid in Fassbinders „Angst essen Seele auf“ oder „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“). Die tief empfundenen Motown-Lieder der Diana Ross, prachtvoll inszeniert von einer weiß-gekleideten Big Band (die nur bei den kantigen Chic-Nummern „Upside Down“ und „I’m Coming“ versagte), tauchten uns lang und tief in die kindliche Welt in der es nur „Liebe“, „Mami“, „Papi“, „Gemein“, „Bös“, „Heulen“, Lachen“ gibt. Die Fanfare „Stop! In The Name Of Love“ läßt zusammmenzucken, wie ein Elektroschock: totale Rührung. Brigitte Mira sagt: „Ich bin so einsam“, und die Salonkommunisten nehmen sie aus wie unsereiner es im wirklichen Leben wohl auch getan hätte. Und Diana Ross muß singen „Stop!“. Denn ihr Gesicht verrät Sue-Ellen-Ewing-Neurosen. Obwohl sie reich, hübsch und erfolgreich ist führt sie glaubhaft die Gefahr der Liebe vor. Soul und Fassbinder nehmen die Nöte der Schwachen ernst. Und bei „Reach Out And Touch / Somebodys Hand / And Make This World A Better Place“ läßt sie die Beleuchtung anstellen und fliegt durch die Massen, schüttelt Hände, verteilt Küßchen, läßt alte Mamis mitsingen und bittet uns die Hände unserer Nachbarn zu greifen, um diese Welt ein besserer Ort werden zu lassen. Alle machen mit. Des rechten Nachbarn Hand zu ergreifen macht keine Schwierigkeiten, aber soll ich mich auch mit dem ekligen, fünfzigjährigen Kapitalisten zur Linken befreunden und seine kranke Pfote, die aus einem komplett lächerlichen senffarbenen Anzug ragt ergreifen?
Natürlich sorgen die Käufer der superteuren Tickets in Wirklichkeit dafür, daß die Welt so schlecht bleibt wie sie ist. Aber ich blieb eine halbe Stunde nach dem Konzert ein besserer Mensch und tat niemandem weh. Fassbinder-Filme wirken da meist noch länger. Dennoch: Tränen sind nicht genug! Humanismus ist ein Euphemismus für Polizeistaat und Verbrüderung, die Mausefalle, in die Linke, Hippies und Alternative vor zehn Jahren stapften. Diana Ross leuchtet aber über solche Lügen hinweg. Seelenkitzel und Bewußtseinsvollspülung, Intensitäten, die sich der Namensgebung entziehen. Soul erhebt sich mitten im allerkonventionellsten Rahmen wie ein Hubschrauber oder die fliegenden Menschen in de Sicas „Wunder von Mailand“ über alle Rahmen und Konventionen. Fassbinders intellektuellere Pop-Rührung liefert zusätzlich den klassischen, gerechten Zorn auf die Herrschenden. Wer sich erinnert, wie schwer es war Fassbinder gegen Intellektuelle zu verteidigen, die ihm meistens mit ihrer Kleines-Fernsehspiel-„Probleme-vielschichtig-darstellen!“-Mentalität Undifferenziertheit und Ubertreibung vorwarfen (also das Wichtigste an Pop), wird sich über all die tränenselige Trauer wundern, die ihm plötzlich zu Teil wird.
Die Unfähigkeit der Intellektuellen zwischen falschen und echten Größen zu unterscheiden, wird dieser Tage immer unerträglicher: Joseph Beuys, Bertolt Brecht, John Lennon, Rainer Werner Fassbinder, Andy Warhol, David Bowie, Jean-Luc-Godard bleiben groß. Auch wenn solche Kritiker, die bislang allen Autoritäten (auch der Mehrheit der dummen und falschen Größen) ergeben waren, nach einem vermeintlichen Erkenntnissprung meinen, sich von allem, was ihnen etabliert erscheint, lossagen zu müssen. Andy Warhols wenig geliebter, gleichwohl genialer Documenta-Beitrag (Pisse auf Bronze, „Oxydations“) beweist seine unverbrauchte Treffsicherheit, die Fähigkeit ohne das auf der Documenta so verbreitete, hilflose Geraune, ein Kunstwerk auf den Punkt zu bringen, egal mit welchen Mitteln.
Über dem Platz zwischen Cafe und Fredericianum wehte ein von Daniel Buren konstruiertes Fähnchen-System, darunter wandelten ratlos, aber durchweg angeregt, viele der milliarden traurigen Menschen. Auf der Suche nach trügerischen Richtungen und Richtigkeiten. Es war die Parole ausgegeben worden, man solle sich versenken, betrachten, auf sich einwirken lassen. Man tat gut daran, das nicht zu tun. Sinnvoll war es zu denken und Entscheidungen zu fällen, auch auf die Gefahr hin daß sie falsch oder mangels Informationen entstanden sein könnten. Es ist nicht schlecht, wenn im Museum geredet wird.
Die Documenta war trotz einer Mehrzahl überladener Aufdringlichkeiten und schwachen Darstellungen von Bewußtseinsnot genau das bunte Unterhaltungsprogramm durch die vielen extremen, verschiedenen Vorstellungen, die die Welt bewegen, im Lichte der verglichen zu anderen Lebensäußerungen der Menschen immer radikaleren Kunst (zum Musikprogramm siehe Seite 8).
Nachts entstanden seltsame Situationen, wenn die Top-Künstler der Welt und Kasseler Arbeiter beim Wochenendvergnügen für die kontrastreiche Atmosphäre in der Disco „Pul“ sorgten. Hit der Saison: „I Love A Man In Uniform“.
Nachdem man in Kassel ein paar Tage seinen voyeuristischen Spaß an diesem Besuch in einer zerrissenen Gekehrtenrepublik hatte; an so viel richtig und so viel falsch, wird es in Hamburg noch mal existentiell. Bei brütender Schwüle gastieren im Versuchsfeld Birthday Party, Lydia Lunch und Die Haut. Nach souveränem Kunstgucken, Saufen und Fressen in Kassel, fordern Birthday Party von Dir, bei 50 Grad Celsius, 90 % Luftfeuchtigkeit und verbacksten Mitmenschen den hektischen und brutalsten Lärm zu nutzen. Eine Verausgabung, die von Ausgleichssport so weit entfernt ist wie die Neutronenbombe vom Zündnadelgewehr. Nick Cave, hinter der Bühne scheinbar ein verpennter Langhaariger, springt von Beginn an unter „Pow, Pow“-Schreien ins Publikum, läßt Mikroständer stürzen und macht das dürftige, aber wegen ihrer Erscheinung dennoch faszinierende Fünfzehn-Minuten-Lydia-Lunch-Gejaule, das sie, von Birthday Party lärmig unterstützt, unmittelbar davor, darbot, vollkommen vergessen. Die Hälfte der Birthday Party-Musiker sind eindeutig Jazzer, die die Unverbindlichkeit des Handwerks überwinden wollten, um mit der Angriffslust einiger Verrückter (Nick Cave, der Sänger oder der C & W-Bassist, der im radikalisierten Säufer-Outlaw-Texas-Outfit hinter der Bühne mit zwei Sechziger Jahre-Groupies und einer Whiskey-Flasche in den Sesseln hängt) eine neue Radikalität zu erreichen.
In verschwitzter Kleidung ging es in dieser aufregenden Nacht anschließend ins Thedebad, einer öffentlichen Badeanstalt in Hamburg-Altona (⩯ Kreuzberg), wo unser aller „Alles Wird Gut“ seine Badeparty veranstaltete. Posiert wird jetzt nicht mehr mit, sondern ohne Kleidung. Je weniger, desto posier. Andere führten die Kunst mit 6 Quadratmillimetergroßen Lappen Stil zu zeigen, vor. Prächtige Rokkoko-Menschen mischten sich als Kontrast unter all die Nackten und Halbnackten und ansässige Alternative versuchten die Badeparty zu verhindern weil sie glaubten die Schickis wollten ihr Bad und ihre Gegend usurpieren. Sie vergaßen mal wieder, daß Sozialisten nicht immer so aussehen, wie sie meinen. Das alternative Menschenbild ist ja das Rigideste und Normativste nach dem der persischen Schiiten.
Birthday Party standen für etwas, das alle fühlen: die Menschen werden wilder, radikaler, aggressiver, vergnügungssichtiger und unberechenbar. Das meiste Potential richtet sich jedoch nach Innen, wird Fieber und Krankheit, nicht Energie wie bei Birthday Party. Räusche und Alpträume wildern in den Hirnen ratloser aber entschlossner Körper. Die Klugen werden besonders klug, die Schönen besonders schön und die Dummen total unerträglich und übel. Die Kontraste zwischen den schweren, schwülen Birthday Party-Attacken und dem kühlen, rational-hedonistischen Badevergnügen, zwischen dem wilden oder stillen Positionsgewirr der Documenta und Diana Ross’ ontologischem Seelenkitsch sind bezeichnend für die letzten Wochen der Hochsaison, untermalt von dem gigantischen Spektakel der Fußball-WM. Die diverse Kleingeister nutzen, um ihre irrigen, normativen Vorstellungen von „schönen Fußball“ auszumalen, mit Lobgesängen auf den brasilianischen Barock-Fußball langweilen und der deutschen Mannschaft ihr geniales Gewurschtel und die damit erzielten Erfolge übernehmen. Als dann die Deutschen sich erstmals dem Stildiktat des „guten Fußball“ beugen, gehen sie unter. Italien wird Weltmeister, das gegen den sonst so erfolgreich eingesetzten deutschen Schweinefußball keine Chance gehabt hätte.
Reden und Schreiben über Sex und Fußball ist dann auch das Unerträglichste, was man oft zu hören bekommt. Jeder meint, er sei Experte was eine ideale Situation ist – aber jeder sagt Dasselbe und vervielfältigt so die Lügen über Sex. Die um Originalität Bemühten dagegen schreiben jedem noch so peinlichen Männerkörper Attribute wie „Rosenblütenhaut“ zu und ermöglichen Sätze wie „In ihr kocht Lava“. Zum Teufel mit dem Gefasel von Sinnlichkeit! Mit Diana Ross, Birthday Party und Andreas Dorau wünsche ich allen Lieben einen schönen Spätsommer!

