Pandaemonium Shadow Show. Beuys, Becker, Hackethal und Andere

„Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet.“
(Joseph Beuys)

„Das klingt trivial, das ist trivial, aber es ist wahr.“
(Stephan Derrick)

Ich hatte eigentlich schon länger nichts mehr von KONKRET gehört. Ich weiß, daß Artikel, die ihre eigene Entstehungsgeschichte erzählen, das Ding vom vorletzten Jahr sind, aber was sein muß, muß sein. Ich hackte gerade einen SPEX-Artikel in den kleinen elektronischen Motherfucker von einer Schreibmaschine, schlürfte von dem abgestandenen Ersatz-Cognac aus unserer Redaktionsflasche, als KONKRET anrief und einen Artikel bestellte: über die neuen Deutschen. Gemeint waren die neuen erfolgreichen Deutschen, die Wende-Idole: Schimanski, Becker, Klitzing and the lot. Mein verdammter Fernseher war aber zu der Zeit verpfändet (Spielschulden sind Ehrenschulden) und daher kannte ich die Brüder und ihre eminent politische und propagandistische Bedeutung für das Regime Kohl nur aus der Zeitung, genauer: aus der „Bunten“. Die hatte nämlich in einem ihrer „Man-kann-wieder“-Artikel (ihre „Man-geht-wieder-in-die-Tanzstunde“-Artikel sind naturgemäß wie alles an dem Blatt ein Reflex des „Stern“, in diesem Falle dessen „Man-trägt-wieder-Mode“-Artikel, die die „Bunte“ Nummer für Nummer ins Gesamtgesellschaftlich-Zeitgeistmäßige hieft, worin sie wiederum Vorbild von „Tempo“ ist) genau die gleichen Typen zusammengestellt und damit den von mir zu schreibenden KONKRET-Text bereits geschrieben. Wenn die Bunte nämlich deutsche Tugenden herbeihalluziniert und auf ein paar armselige Figuren aus dem Fernsehen projiziert, dann bräuchte KONKRET das nur nachzudrucken und die Ironie, die kritische, würde sich das aufgeklärte Publikum schon dazuhalluzinieren. Ich bin sicher, daß eine Leserschaft, die sich nicht scheut, an „Radikalauern“ ihren Spaß zu haben, ihre Lektüre gerne besonders gründlich nach schlaumeierischer Ironie abgeklopft.

Ich hatte inzwischen beim Bingo einen Topf Geld gewonnen und machte mich daran, die Kiste aus dem Pfandleihhaus auszulösen. Da geschah es, daß KONKRET zum zweiten Mal anrief. Ich hatte inzwischen einen ironischen Bunte-Illustrierte-Artikel fertig und natürlich gleich wieder zerrissen. Da starb Beuys und KONKRET sollte von mir einen Beuys-Nachruf angeboten bekommen. Denn so gern ich in KONKRET politische Artikel lese, so verhaßt ist mir die Seilschaft von Künstlern und Kunstkritikern, die Nummer für Nummer über die Verderbtheit und Verhurtheit der jungen Künstler abproben darf. Greise, die gut im Futter stehen (von Hrdlicka über Janssen bis Bruno Bruni) und außer Ahnungslosigkeit über Wollen und Wissen aller unter 50, einer einigermaßen weißen antifaschistischen Weste (in dem Sinne, daß Antifaschismus der kleinste gemeinsame Nenner ist, auf den sich alle wohlmeinenden Bürger einigen können) und einem durch die Bank grauenhaften Staatskunstgesamtwerk (Staatskunst im Sinne von Thomas Bernhard, auf den wir noch kommen werden), nichts zu bieten haben. Daher, dachte ich, soll dieses offene linke Diskussionsforum doch mal gesagt bekommen, daß und warum Bernhard, Beuys und Fassbinder die Größten sind oder waren, obwohl für einen verdächtelnden Verstand so viel dagegen spricht.

Doch inzwischen lief zuhause die Kiste wieder und ich hatte Gelegenheit, auch die anderen Fragen noch einmal zu überprüfen. So spielte Boris Becker im Januar im Masters-Turnier von New York gegen die Tennis-Weltelite und ich war in der Lage, die verbreitete Behauptung zu überprüfen, Becker sei Vorbild und Archetyp des neuen Jugendtypus, der überangepaßten, gewissenlosen, Matt-Bianco-, Talking-Heads- und Style-Council-hörenden, karrieristischen Yuppies. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß das Gegenteil wahr ist.

Becker ist ein Hund. Ein geifernder, lefzender Hund, mithin das, was genau die Generation vor ihm, die Punk-Generation immer gesungen hat: „I wanna be your dog“. Könnte Becker nicht Tennis spielen, würde er Lehrer ärgern und sich beulen, Rentner erschrecken und sich pathetische Fighter-Lebensentwürfe zurechtbasteln wie eben The Clash und Johnny Rotten, die Punks eben, deren zehnjähriges Berufsjubiläum, und damit historiegewordene Ungefährlichkeit, heutzutage die Lifestyle-Illustrierten feiern, die Bannerträger des Yuppietums.

Während Becker etwas vom Geist des Punk, wenn nicht sogar des frühen Elvis, denn wer anderes könnte das Vorbild des sich mit Glasscherben die Zähne putzenden Tiriac sein als der Colonel, Elvis’ Manager, in die Gegenwart rettet. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Boris ist kein deutscher Schäferhund, sondern Big Mama Thorntons „Hound Dog“. Er steht Iggy Pop und Sid Vicious näher als Schimanski, Paul Young und Franz Beckenbauer. Mag ihn die deutsche Öffentlichkeit noch so in ihr Herz schließen, sie weiß noch nicht, daß zukünftige Wimbledon-Gewinne für Frauen, Drogen und Massaker draufgehen werden. Um dies zu verstehen, muß man sich nur einmal die Mühe machen und ihn sich im Fernsehen anschauen, wenn er mit der Rasierklinge den Centre Court schleift.

Aber dann starb ja Beuys und die ganze Armada der KONKRET-Kunstexperten schüttete ihr Wissen, bezeichnenderweise in der „Zeit“ aus. Einer zum Beispiel ließ sich dahingehend ein, daß der Mann zwar zuviel Show gemacht hätte, aber ein paar frühe Zeichnungen… Jeder kennt diese Sorte Kunstfreunde, diese feinsinnigen Anhänger „früher Zeichnungen“, im Prinzip sind es dieselben, die die leisen Töne der Liedermacher dem Hard-Rock oder Punk-Rock, die Abgeschiedenheit der Toscana dem lärmenden Treiben auf der Buchmesse, die stille Eröffnung der Kellergalerie dem anschaulichen Remmidemmi bei Paul Maenz und eben frühe Zeichnungen dem Beuys-Hit „Wir wollen Sonne statt Reagan“ vorziehen.

Dabei hat es selten etwas Bravouröseres gegeben. Wie Beuys sich eben nicht ziert, nicht scheut, den Star raushängen zu lassen, kündet von einer Einsicht und Weisheit, die so vielleicht noch Andy Warhol aufbringt, aber sonst niemand mehr.

Schwierigkeiten macht den Nachrufern natürlich auch, daß sie über Beuys nicht wie über verwandte prominente Opfer ungeteilten Postmortem-Respekts nicht schreiben können. „Er setzte sich zwischen alle Stühle“. Weil er genau das nicht tat, weil er wußte, wie unsinnig es ist, sich auf den allerbequemsten, allerbreitesten Stuhl zu setzen, der da heißt ZWISCHENALLESTÜHLE. Beuys setzte sich stattdessen auf alle Stühle. Seine Kunst schluckte die ganze Welt, nicht nur alles, was der Fall ist, sondern auch alle Techniken, darüber etwas zu sagen: also von Wirtschaftstheorie bis Rockmusik scheute er kein Mittel, alle Diskurse mit positiven utopistischen Botschaften zu besetzen. Und hier liegt eben auch seine Bedeutung für die Generation der heute 30-40-Jährigen, von Dahn bis Oehlen, die KONKRET regelmäßig mißversteht: Beuys machte ihnen vor, daß ein guter Künstler nicht außerhalb seines Werkes sich kameradschaftlich mit allgemein anerkannten Weltanschauungsbrei genauso zu Wort melden darf wie jeder Soziologe, Journalist, Pädagoge oder Antifaschist, daß er sich aber andererseits nicht auf das Herstellen von ewig frühen Zeichnungen beschränken darf. Ein Künstler muß immer sich zu Wort melden und überall alles und mehr fordern, denn er ist was besonderes.

In diesem Sinne war auch nur der Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ zu verstehen, als humanistische Grundwertfeststellung: Jeder Mensch ist was Besonderes, jeder sollte das Außergewöhnliche, Unverständliche fordern. Aber eigentlich bedeutete er das Gegenteil, nicht daß jeder Mensch ein Künstler ist, sondern daß ein jeder richtige Künstler dies als ganzer Mensch ist und stören soll, wo immer ihm ein selbstgenügsames, folgenloses Gerede auffällt.

Auch dies etwas, was man am besten im Fernsehen überprüfen konnte. Dort konnte man noch einmal sehen, wie Beuys mit Bazon Brock über die Zukunft der Welt, ihrer Wirtschaft und diverser Dinge diskutierte, der von Kritiker Platschek monierte, für Beuys so typische „babylonische Redefluß“ streifte eine Fülle von Items, schlängelte sich durch seine utopistischen fixen Ideen. Und Brocks immer wieder erhobene Stimme der Vernunft vermochte weder ihn zu stoppen, noch mich zu beeindrucken. Obwohl Brock augenscheinlich im Recht war, zumindest nach den Kriterien der Vernunft, die doch auch für mich die vornehmsten sind. Nur, das hier war Kunst. Und Kunst ist mehr als ein ödes Rechthaben aufgrund einer öden Fachkenntnis.

Nicht daß Kunst sich notwendigerweise der Metaphysik bedienen müßte, könnte sie auch gar nicht, denn, sachgemäß behandelt, wird der metaphysische Diskurs unter den Händen eines Künstlers genauso zu etwas anderem wie alle anderen Materialien. Deswegen ist der Beuys, der nachts von Engeln Besuch bekam, auch sympathischer als die großen rationalistischen Bildhauer und Graphiker aus der KONKRET-Szene (obwohl mir sonst Rationalisten sympathischer sind als Spökenkieker – eigentlich unnötig, dies zu sagen, so wie der kosmische Vollidiot Stockhausen eben trotz allem der bessere Künstler ist als der pfiffig-schlaumeierische, ironische Provokateur Mauricio Kagel; auch wenn die bildende Kunst mit dieser Idiotenschiene nichts zu tun hat).

Der vollendete Beuys-Schüler aber ist naturgemäß Josef Hackethal, der pünktlich zu Beuys Tod den einzig möglichen, über den Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ hinausgehenden Satz in die Welt setzte: „Jeder Krebs ist heilbar“.

Und natürlich hatten die beiden Professoren, die ihm im „Spiegel“ nachwiesen, daß er unter die Kategorie der „autistisch-undisziplinierten“ Ärzte falle, recht, medizinisch-philosophisch gesehen, aber, was uns der Fall vor allem lehrt, ist doch, daß schöner noch, als einem wirklichen Künstler bei der Arbeit zuzusehen, das Erlebnis ist, einem verhinderten Künstler dabei zuzusehen, wie er zu einem richtigen Künstler wird, wie er dazu beiträgt, daß sich das sattsam bekannte Beuyssche Diktum bewahrheitet.

Denn einer kann noch so sehr der bedeutendste Künstler der Nachkriegszeit sein, man weiß doch immerhin, daß man von einem guten Künstler gute Kunst erwarten kann und wenn man sie dann kriegt, ist man’s zufrieden. Wenn aber Hackethal, den man bis dahin für einen blöden Medizin-Reformator gehalten hat, plötzlich ein elaboriertes, komplettes Wahnsystem ausspuckt, das sich mit Größen des Genres wie Senatspräsident Schreber messen kann, dann kommt echte Freude auf.

Währenddessen, garantiert nicht im Fernsehen, sondern in Wien, dem einzigen Ort des Westens, den der anglo-amerikanische Kulturimperialismus noch nicht erreicht hat (was einen manchmal, aber nicht immer, denken läßt, daß dem angloamerikanischen Kulturimperialismus doch das eine oder andere segensreiche Element anhaftet) sitzt Thomas Bernhard, der Besitzer der einzigen Alternative zur Beuys-Methode, die ein zeitgenössischer Künstler anwenden kann: Haß statt Liebe.

Wirklich alles hassen, statt wirklich alles lieben, anders geht es nicht, meine Freunde der Zwischenlösungen, des vernünftigen, moralisch-integren Mitredens. Kunst bedeutet Maximalforderungen stellen. Und das, das Formulieren einer Maximalforderung, ist in Zeiten der Minimalforderungen die politische Bedeutung der Kunst. Daß sie den Menschen erstmal wieder vertraut macht mit der bloßen Technik der Maximalforderung. Das Maximum, das sollte man doch auch in euren Kreisen einsehen, ist die Waffe, gegen all diejenigen, denen es genug ist, wenn es keinen Krieg gibt.

Natürlich gibt es, wie überall, wo es nur zwei Möglichkeiten gibt, noch einen dritten Weg zur Wahrheit: Fassbinder. Liebe und Haß. Aber, wie uns sein Beispiel lehrt, ist das zuviel für einen einzelnen Menschen.