„Wenn man eine Erklärung findet – und man kann das immer – gibt es immer noch eine andere hinter der ersten“ (Eric Rohmer). Genau. Das macht ja den Ost-West-Konflikt so spannend.
Die Sommersaison in der Normandie geht zuende. Satt-lila blühen die Hortensien. Gleißendes Sonnenlicht überstrahlt die reflektierenden Pfützen im Wattenmeer. Durch Zufall begegnen die Cousinen Marion (die Blonde, die Ältere, die mit dem perfekten Körper, der in seiner Perfektion Henri schon wieder reizlos erscheint) und Pauline (die Jugendliche, die Stille) am Strand den Freunden Pierre (der Typ, der alles falsch macht, der vor lauter polternder Aufrichtigkeit jede Strategie des Werbens vergißt) und Henri (der Erfahrene, der Genießer). Noch am selben Abend kommt es zu einem Gespräch über die Liebe. Die vier tragen ihre Standpunkte vor wie streitende Parteien vor Gericht ihre Sicht einer strittigen Affaire. Es sind Einlassungen, und Rohmer untersucht im folgenden ihre Berechtigung.
Marion, die geschwätzig nach der 100%igen Liebe verlangt, hat sich in den Ethnologen Henri verliebt. Ein Mann, der stolz auf seine Ungebundenheit ist, ein Anhänger der „Alles-was-isch-’abe-ist-in-einer-Plastiktüte“-Ideologie, ein Mann, der zwischen Frauen und Kontinenten pendelt. Er trägt einen kleinen goldenen Ohrring und macht den Moralisten Pierre rasend. Pierre wartet seit fünfzehn Jahren an diesem Strand auf diese Marion mit dem perfekten Körper, einfach, weil er meint, sie müßte ihn irgendwann lieben. Derweil heiratete und verliebte sich Marion in diesen und jenen, nur nicht in Pierre, der sich nach wie vor damit begnügen muß, ihr beim Windsurfunterricht verschämt um die Hüfte fassen zu dürfen.
Ganz schön blöd, oder? Aber es gibt solche Menschen. Wir alle kennen mindestens einen, oder? Pauline, der die Spiele der Erwachsenen zuwider sind, die sie vor allem bei Henri vorzufinden meint, der Marion nicht liebt und sich auch noch um die Süßigkeitenverkäuferin am Strand kümmern muß, findet einen gleichaltrigen Sylvain. Einmal muß sie aus technischen Gründen bei Henri übernachten, der am nächsten Morgen, statt sie auftragsgemäß zu wecken, ihre Beine küßt. Mit einem Tritt weist sie ihn zurück und er antwortet mit der einfachen Wahrheit: Mann, „Nun isch bin ein Mann, du bist eine Frau. Du hast schöne Beine…“
Nach einigen Tagen bedeckt sich der Himmel, Verabredungen mißlingen. Wolken von Häßlichkeiten ziehen auf. Henri verdrückt sich zu einer Segeltour. Marion zieht seufzend mit Pauline nach Paris zurück. Pierre wird weitere fünfzehn Jahre in der Normandie auf Marion warten und schlechte Laune verbreiten. Die Hortensien sind verblüht.
Der Film hat die Einlassungen der Personen zur Sache überprüft, er hat die tragfähigen von den verblendeten Lebensplänen geschieden. Und er hat die Schwächen der großen Rede, des Raisonnement, gezeigt. Daß das Wetter, die Kleidung, jede Bewegung, jeder Satz entscheidend sind: Die Argumente der Kleinigkeiten gegen die großsprecherische Anmaßung.
„Pauline am Strand“ steht unter dem Motto „Wer zuviel spricht, verliert sich selbst“ aus dem „Pereeval Le Galois“ von Chretien de Troyes. Er ist nach „Die Frau des Fliegers“ und „Le Beau Marriage“ der dritte Film einer Reihe, der Rohmer den Titel „Komödien und Sprichwörter“ gegeben hat. Doch bei Rohmer verliert immer, wer zuviel spricht. Gewinner sind die lakonischen, die reden wie die Filme selbst: In Paradigmen, Aussagesätzen ohne Rhetorik, ohne sich aufzuplustern. In diesem Falle gewinnt Pauline, die mehr weiß, als sie sagt. Die ist genauso unglücklich wie ihr Verehrer, der gar nichts weiß und am lautesten tönt.
Diese Filme haben keine Psychologie, kein Dahinter, sie zeigen das Leben ihrer Protagonisten unter präzise durchdachten Versuchsanordnungen wie bei einem chemischen Experiment: überschaubare Topographie, begrenzte Anzahl handelnder Personen. Keine suchende, glotzende Kamera, im Mittelpunkt der Dialog. Weil dies alles so paradigmatisch ist, fühlt man sich wie in einem Lehrstück, der hohe Abstraktionsgrad macht alle zu Betroffenen, die spezifischen Lebenspläne und das dazugehörige spezifische Scheitern oder Gelingen ist das Scheitern oder Gelingen in den Leben unserer besten Freunde. Nach dem Film findet man sich vor dem Kino, in Rohmer-Sätzen darüber debattierend, wer denn nun recht gehabt hat.

