Es geschah über Nacht, fast unmerklich.
Als ich anfing zu denken, gab es Kameraden, die noch den harmlosesten Genuß, sofern er nur im geringsten ein ästhetisch vermittelter war, daraufhin untersuchten, ob das von ihm begleitete Erlebnis, ein fortschrittliches oder ein eskapistisches, mithin reaktionäres war. Obwohl ich, wie jeder andere, unter diesem Terror litt, beeindruckte mich ihre unnachgiebige Wahrheitssuche, und ich nahm mit auf den Lebensweg, daß nichts gleichzeitig wahr und falsch sein kann.
Die Kunstkritik, und gerade, die von keiner theoretischen Vorbelastung getrübte, wie sie in den Subkultur-eigenen Organen mehrheitlich gepflegt wird, bemüht in der Regel naive, aber deswegen nicht minder nützliche Kriterien wie originell, langweilig, unterhaltsam, epigonal, neu, einschläfernd, aufrührerisch, emotional, kühl, konzeptuell, aber eben auch oft fortschrittlich und reaktionär. Oft sind die Schreiber, gerade in einem Magazin wie diesem, in der Lage, über die naiven Kriterien hinauszugelangen. Sie entdecken das Fortschrittliche im vermeintlich Reaktionärem, das Originelle im Langweiligen, das Aufregende in der Monotonie und sie wissen inzwischen sogar, daß derlei einfache Umkehrungen dem Stand der Dinge auch nicht mehr gerecht werden.
Doch in der Leserschaft hat sich neuerdings und über Nacht ein anderes Denken eingeschlichen, ein Denken, das um die Dichotomie „peinlich/unpeinlich“ kreist. Die Kurve der Häufigkeit der Vokabel „peinlich“ in Leserbriefen gleicht der die Vermehrung der Weltbevölkerung vorausberechnenden Kurve der Untersuchungen des Club Of Rome, sie folgt dem Gesetz des exponentiellen Wachstums.
Was hat es mit dem „peinlich“ auf sich und wie hängt es mit der gleichzeitigen Verarmung an anderen Begriffen zusammen? Wem nützt die Fragestellung, ob ein Kunstwerk bzw. seine berufsmäßige Verarbeitung in Form von Features und Rezensionen peinlich, und zwar in erster Linie peinlich oder unpeinlich sei.
In jenen Zeiten, versunkenen Zeiten, da einzig die politische Funktion eines Kunstwerkes von entscheidender Bedeutung war, ging es darum, für jeden halbwegs intelligenten und damit auch renitenten, konfrontationslüsternen Kopf, die Argumentation der Orthodoxen an ihrem schwächsten Punkt auszuhebeln; das war die Form/Inhalt-Rhetorik. Form galt als Übersetzung eines Inhaltes. Es wurde angenommen, daß jeder Künstler, am Beginn der Produktion seines Werkes, restlos wußte, was sein Inhalt sei, und er anschließend lediglich eine Form benutzte, um diesen inhalt optimal verständlich und eindrücklich zu machen. Aufgabe des Kritikers war es nun diesen Beginn der Produktion anhand des fertigen Produktes aufzuspüren und dann je nach Lage der Dinge zu rühmen oder zu denunzieren, ein Wort zur Form gab es allenfalls als feuilletonistisches Bonmot bei den Autoren, die ihre Erziehung nicht vergessen konnten.
Dem entgegengesetzt standen wir, die wir der Kunstproduktion Eigendynamik zugestanden und zweitens die Inhaltlichkeiten der Kunst gerade in der Form suchen wollten (und sie dort auch viel reichhaltiger vorfanden) als im Sujet oder in der Absicht.
Die Images der Pop-Helden waren lange Zeit von ihren Inhalten bestimmt. Das galt für Yes wie für die Sex Pistols: die Queen für ein Stück Scheiße zu halten oder Roger Dean für einen Visionär und J.R.R. Tolkien für einen Schriftsteller. Beide Haltungen sind sprachlich referierbare, somit Inhalte, gleichzeitig aber der Kern der Images und damit der mythenbildende Bezugspunkt der erwähnten Popmusiker. Zwischen Punk und Siebziger-Rock spielte sich, auf einem nicht einmal politisch reflektierten Niveau, die uralte Auseinandersetzung zwischen eskapistischer und realistischer Kunst ab. Eine ziemlich grobe Sache.
Die Entdeckung von Pop als Antipode von Rock änderte diese Lage. Alle Welt sprach nun von Image-Strategien einerseits und von der Eigendynamik des künstlerischen Prozesses andererseits (wenn auch nicht in diesen Worten). Image und Mythos von Pop, bis dahin als lästige, kommerzielle, böse, der eigentlichen Musik äußerliche Phänomene, waren plötzlich Bestandteil des Pop-Kunstwerkes, bewußt eingesetzt und Bestandteil des zu Kritisierenden.
Zur selben Zeit traten junge Maler in Erscheinung, die ihre Arbeit als eine Gesamtheit strategischer Maßnahmen begriffen. Das Politische, bis dahin, grob und zu allem Überfluß auch noch unromantisch, als „Inhalt“ in einen formelhaften mechanistischen Prozeß verbannt, hatte sich gerade durch die Einbeziehung der verteufelten Form emanzipiert und war plötzlich mit dem gesamten Werk identisch. Pop war nicht mehr politisch, sondern Politik.
Dabei war eine anarchistische und eine marxistisch/leninistische Richtung entstanden. Die anarchistische setzte auf die der relativ viel Spielraum freilassenden, einfachen Form von Pop-Songs innewohnende Dynamik, die Unberechenbarkeiten, Wildheiten, Überschreitungen und paroxystische Schreie des Wunsches, also das fundamentale Aufbegehren des Humanum ermöglichte. Die marxistisch/leninistische dachte sich einen musikalischen verplompten Güterwagen, der z.B. ABC heißen konnte und heiße Fracht direkt in das Zentrum des Medienfaschismus befördern würde. Beide brachten einige hervorragende Resultate, die Anarchisten z. B. den Gun Club, die Marxisten etwa ABC. Beide sind gescheitert, und zwar aufgrund ihrer euphorischen Naivität. Aber beide öffneten für eine Weile den Horizont.
Nun kommt eine Generation, die nicht mit der alten Auseinandersetzung aufgewachsen ist, sondern nur noch den Test der ohnehin schwer verständlichen neuen mitbekommen hat. Geblieben ist ihnen das Aufleben der alten Form/Inhalt-Dialektik als die Erkenntnis, daß es nicht reicht, nur etwas zu sagen: man muß noch dazu irgendwie aussehen, irgendwie reden, irgendwie auf Videos herumhoppeln. Die Gesamtheit dieser Tätigkeiten nennen sie „Stil“.
Dieser „Stil“ ist aber nicht, wie er mal gedacht war, ein Mittel zum Zweck, nein, er ist sich selbst genug. Es ist ein offener IC-Speisewagen, der nicht nach Moskau fährt, sondern zwischen Hamburg und München im Einstundentakt hin- und herkurvt. Manchmal verspätet er sich.
Diese Verletzung der neugewonnenen Umgangsformen, die Verspätungen und Unwägbarkeiten, sind es, die im Begriff der „Peinlichkeit“ auf den Punkt gebracht worden sind. Nachdem das Strategische zur Umgangsform degenerierte, vermittelte es eine neue Sicherheit, ein Leben in Popland war möglich, das statt der Schönheit, der wahren Schönheit eines Mittels zur Auseinandersetzung, die billige Schönheit eines funktionierenden Miteinander, die geradezu widerwärtige Schönheit eines Pluralismus bei totalem Verzicht auf jedes Rechthaben offerierte. Wird diese gestört, wird die „Peinlichkeit“ beschworen, so wie jene vielgerühmte Gemeinsamkeit der Demokraten.
Aber das Allermieseste ist die Art und Weise, in der sich einzelne Vertreter zu einer kleinen, dreckigen Souveranität durchringen, wenn sie – einzige Transzendenz, die sie noch haben – etwas „so peinlich“ finden, „daß es schon wieder gut ist“.
Ich beschwere mich nicht über das Glatte oder das Oberflächliche. Ich beschwere mich auch nicht über die Schönheit eines wohl funktionierenden Kunstwerkes – wenn es denn ein Kunstwerk überhaupt ist. Es ist nicht nötig zurückzugehen, zu einer Zeit als die Zwecke, die man verfolgte, noch expressis verbis auf jede Hülle geschrieben standen und somit wunderbare Opfer abgaben für alle Arten von pluralistischen Vereinnahmungsstrategien, und ich möchte um Gottes willen nicht, daß die jungen Leute wieder anfangen, Meinungen mit sich herumzuschleppen. Meinungen sind immer noch das Letzte. Wobei es gerade auffällt, dais es den „Peinlich!“-Schreiern eben an „Meinungen“ nicht mangelt. Sie alle meinen sich ja oft geradezu einen Ast ab und fühlen sich alle berufen, ihre kleinen individuellen Mäuler aufzureißen.
Popmusik, aber nicht nur die, sondern eigentlich alle Künste, ja der ganze Überbau, ist eine unglaublich lächerliche Angelegenheit; sie nach ihren eigenen Gesetzen ernstzunehmen, ihre Regeln, ästhetische Umgangsformen zuzugestehen, die nicht verletzt werden dürfen, bedeutet aber die Potenzen, die irrsinnige ideologische und ästhetische Effizienz dieses Mediums abzuschreiben. Wer die tiefgehende Peinlichkeit, ja die Schönheit mancher Miesheiten aus der Popwelt heraushalten will, bereitet das vor, was im Jazz längst gelungen ist: die Umwandlung eines direkten, unverblümt-intelligenten Mediums in bürgerliche Erbauungsscheiße.
In einem Interview, das in dem Buch „Ursprung und Vision“ – der Titel sagt eine Menge über den Versuch archetypelnde, metaphysische Scheiße zu regenerieren – abgedruckt ist, fragt der Kunstjournalist Grasskamp den Maler Albert Oehlen: „Sie haben aber auch mit Spiegeln gearbeitet, insofern haben Sie diese Assoziation (gemeint ist ein gewisser Raumeindruck d. Verf.) ja auch selbst verursacht.“ Oehlen daraufhin: „Als ich die Spiegel in die Bilder einmontierte, war mir klar, daß das was ungeheuer Elendes hat. Wenn man das als avantgardistischen Schritt betrachtet, wie es jetzt in den Zeitungen steht, weil der Betrachter sich ins Bild versetzen kann, ist das zum Heulen. Aber gerade das hat mich daran auch wieder gereizt, etwas dermaßen Plattes zu machen.“ Grasskamp: „Als Erniedrigung des Bildes?“ Oehlen: „Als Erniedrigung meiner selbst.“
Denn heutzutage gibt es nichts Peinlicheres als unpeinliche Kunst. Wer glaubt, heute als freier Sinnstifter und Erbauungsproduzent davonkommen können, ohne sich zum Affen zu machen, lügt. Gute Leute erkennt man daran, daß sie dies erkennen und damit arbeiten. Das gilt für jemanden wie Martin Fry, ebenso wie für John Cale oder Prince (den ich aus anderen Gründen aber nicht mag).
Ich erinnere mich an ein Interview, das Gerald Hündgen in diesem Blatt mit „Konkret“-Herausgeber Hermann Gremliza führte. Gerald fragte dabei Gremliza, er habe beim Lesen von Johannes Groß’ „Tagebuch“ den Eindruck gewonnen, die Bourgeoisie habe nichts anderes mehr zu verteidigen als ihre Tischmanieren, worauf Gremliza gegenfragte: „Hat sie denn etwas anderes zu verteidigen?“ An diesem Punkt ist heute die Popmusik angelangt und die heute, die im Namen des Unpeinlichen argumentieren, haben ihren Anteil am Niedergang, an dem Punkt, wo sie nur noch Umgangsformen verteidigen will. Ästhetische Höflichkeiten.
