Pere Ubu/Red Crayola – Vergessene Künste, industrielle Religion und ein Gespräch mit Mayo Thompson

„Ruhig, ruhig! Ihr müßt euch gedulden. Eine Minute etwa, ja vielleicht eine Minute“, beschwört David Thomas das begeisterte Hamburger Publikum inmitten der zweiten Zugabe „Dies ist eine traurige Geschichte, eine wirklich traurige Geschichte“.

So beginnt „Rhapsody in Pink“, der zweite Song auf der ersten Seite der vierten Pere-Ubu-LP, THE ART OF WALKING. David hatte einen Tag unter Wasser verbracht, intim und mahnend erzählt der Koloß seine Geschichte: „…and then the fishes laughed at me, the fishes laughed at me“ Mayo Thompson wiederholt eine weiche, aber dissonante bedrohliche Gitarrenphase, Allen Ravenstine’s Synthesizer zischelt fremdartig vor sich hin. Plötzlich dreht sich der, konzentriert übers Mikro gedrehte David Thomas, die Arme auseinanderreißend, aufspringend zur Seite. „They laughed at me like this: Haw-haw-haw“ – Die Schreie donnern durch die Reihen…

David Thomas weigert sich Interviews zu geben, unter anderem, weil er nicht in den Mittelpunkt der Band gestellt werden will. Er läßt sich auch nicht fotografieren. Er ist ein Zeuge Jehovah’s oder wie Allen Ravenstine korrigiert: „Er versucht, einer zu sein“. David Thomas ist veantwortlich für die Texte und die Namensgebung von Pere Ubu und über die Maßen fett. Er trägt die Haare sehr kurz und hat einen kleinen Unterlippenbart, was seinem schmollendes-Kind-Gesichtsausdruck eine diabolische Komponente hinzufügt. Er mag nicht, wenn man sich auf sein Bett setzt.

Auf der Bühne ist David Thomas großartig, das lebendige Zentrum von Pere Ubu, das Pere Ubu an Pere Ubu. David Thomas ist jener groteske Charakter, Pere Ubu. Eine Erfindung des verschrobenen Franzosen Alfred Jarry, der Ende des vorigen Jahrhunderts sein eigentümliches, „Pataphysik“ benanntes, Gedankengebilde entwarf, das ihm den Ruf eintrug, Urahn der Surrealisten zu sein. Sein Einfluß auf leicht versponnene, intellektuelle Rockmusiker beschränkt sich nicht auf Pere Ubu. Interessierte seien an Soft Machine’s „Pataphysical lntroduction“ verwiesen.

Unruhe im Publikum. David macht ein paar äußerst skurrile Bewegungen um seine Achse, die bei seiner Leibesfülle allerdings nur schwer zu lokalisieren ist. Dann beugt er sich leicht über das Mikro und fixiert irgendein Gesicht im Publikum: „You are the audience, we are the band, you paid to see us, so watch!“

Oder: „Noch ein paar Monate und ich ziehe mich aus diesem Business zurück … drei Monate … ja und ich bin über den Berg, ich habe diese kleine Farm…“ – „Laber nicht soviel“ – „Red mal Deutsch!“ (Mayo Thompson nimmt David Thomas beiseite und erklärt es ihm): „Ah … Auf Wiedersehen! Je suis un idiot. Ich bin Goodbye“

Pere Ubus gegenwärtiges Repertoire umfaßt die gesamte Geschichte der Band außer der fossilen Frühgeschichte, also von THE MODERN DANCE bis zu THE ART OF WALKING. Aus der ersten Ubu-Phase, die zu so unvergeßlichen Single-Meisterwerken wie „30 Seconds Over Tokyo“ oder „Final Solution“ geführt hat, sind heute nur noch zwei Mitglieder übriggeblieben: David Thomas (damals nannte er sich noch Crocus Behemoth) und Schlagzeuger Scott Krauss. Tim Wright spielt jetzt bei DNA. Peter Laughner starb den Drogentod und Tom Herman verließ die Band in der konfusen Phase nach der dritten LP NEW PICNIC TIME und dem Bruch mit Chrysalis.

Mit Ubus früher Zeit begann damals in Cleveland ein Undergound-Mythos zu wuchern. Eine Musik aus kulturell verwahrlosten, geschichts- und gesichtslosen Provinz- Industriestädten kroch in den Jahren 75-77 aus ihren Löchern hervor: Neben Pere Ubu waren es die Dead Boys, Bizarros und natürlich Devo, die von diesen grauen Fabrikstädten wie Akron oder Cleveland aus, die Herzen der Musikliebhaber aufwühlten. Pere Ubu blieb aber in Cleveland, während Devo nach LA zogen…

Herbst ’77 war die bis heute (außer Tom Herman, Gitarre) noch bestehende Besetzung: Allen Ravenstine an den Keyboards; Tony Maimone am Baß, sowie als Gelegenheitsgitarrist und – wie die Fama behauptet – wichtigster musikalischer Kopf; Scott Krauss am Schlagzeug und David Thomas als Sänger und Operator diverser Metallteile, deren berühmtester ein kleiner Hammer ist. Man ging ins Studio und nahm die nicht hoch genug einzuschätzende LP THE MODERN DANCE auf. Die erschien auf dem unabhängigen Blank Records-Label und wurde von Phonogram vertrieben. Der Beginn der Platte war typisch; ein ohrenbetäubendes Zischen aus dem einen, ein Chuck-Berry-Riff aus dem anderen Lautsprecher, dann Baß, Drums – ein dynamisches Rock-Stück bricht und donnert los, aber Ravenstine produziert weiter sein Pfeifen und Zischen und David T. jodelt: „I want t’ make a deal with you and get it signed by the heads of the state (…) it’s my non-alignment (Blockfreiheit) pact. At night I can see the stars on fire, and I can see the world in flames; and it’s all because of you and a thousand other names. You’d better sign my non-alignment-pact!

Das Cover mit dem tanzenden Proletkult-Arbeiter (unter den hochgekrempelten Jeans schauen die Ballettschuhe hervor) vor Industrie-Landschaft und schwarz/weiß-Fabrikschlot-Skyline-Foto auf der Rückseite, gab definitive Signale eines Lebensgefühls. Dabei ist die Ubu-Musik alles andere als maschinell. Sie ist die Musik von Menschen in einer neuen Ambiente, aber ansonsten ehrlicher Rock’n’Roll. So ehrlich wie die Musik von Beefheart, mit dem Ubu damals vor allem wegen DTs Gesangsfreistil und seinen freien Sax- und Klarinetten-Einlagen oft verglichen wurden.

Die Musik von MODERN DANCE wechselte zwischen einem auf mysteriöse Weise stimmigen Rock’n’Roll und äußerst mutigem Geräusch-Einsatz. Das sechs-minütige „Sentimental Journey“ war eine pure Geräusch- und Geklapper-Collage: Gläser zerbrechen, Türen schlagen zu. „Chinese Radiation“ dagegen gab eine wirklich sentimentale Hommage an die Volksrepublik ab: „He’ll be the Red Guard, and she’ll be the new world. He’ll wear his gray cap and she’ wave her red book. He’ll tell her: ‚It reminds me of the future: one way‘“.

Die rockigen Stücke hatten einen inneren Aufbau, der einen umhaut und die Tränen in die Augen spritzen läßt (so schön!), aber man begreift seine Prinzipien nicht, weiß nie: komponiert, arrangiert oder improvisiert?

Kluge, plastische Architektur, Zugänge von allen Seiten, Irrwege überallhin. Ubu ging auf Tour, der moderne Tanz wurde ein Begriff. England schwärmte, Deutschland schwärmte. DUB HOUSING erschien, ein weiterer Höhepunkt der Musikgeschichte. Gerade diese Platte läßt es seltsam erscheinen, warum Ubu immer als depressive, düstere Band interpretiert wird. Ein Song wie „Caligari’s Mirror“ strotzt vor Humor und Lebensfreude, oder?: „What shall we do with the drunken sailor? Who do you see in Caligari’s mirror“, wimmert der dicke Mann und dann gröhlt die ganze Band einen unheimlich schmissigen Seemannschoral: „Hey, hey, boozy sailors…“ Auch ’81 live unschlagbar. Das einzige düstere Lied, der Titelsong, beschreibt einen stimmungsvollen, wunderschönen Ausflug in ein Horror-(Abbruch)-Haus. Aber musikalisch so reich, daß man davon eher manisch als depressiv wird. „Thriller!“ ist die obligatorische Geräusch-Oper, aber der Rest der Platte läßt sich eher als Soundtrack für ein Leben in einem dauernden, modernen Kriminalfilm beschreiben.

NEW PICNIC TIME (1979) war ein etwas problematisches Album. Songs, Aufbau und Stimme immer noch großartig, aber das Ganze drohte zu zerfließen. Der Platte fehlt der Zusammenhang. Die Rock-Sachen wie „Have Shoes Will Walk“, „49 Guitars And One Girl“, „Small Was Fast“ oder „Make Hay“ waren guter Ubu-Standard und die experimentellen Sachen wie „The Voice Of The Sand“ oder „A Small Dark Cloud“ das Beste, was Ubu je in dieser Hinsicht gemacht hat, aber als Album war es zu lieblos zusammengestellt und produziert. Für den Besitzer der ersten beiden Platten gab es keinen klaren Grund sich NEW PICNIC TIME alllzu häufig aufzulegen und wenn, dann nur einzelne Nummern.

Einer der schönsten und liebenswertesten Beiträge des Albums war Jehovah’s Kingdom Comes!“. David Thomas erster und bislang einziger Song über seine neue Religiosität, die damals in aller Welt mit Entsetzen aufgenommen wurde: „Has Crocus Gone Wacko?“, zitierte der „New York Rocker“ einen anonymen Fan aus Cleveland. Bislang hat Crocus seine Religion nie wieder in Texten verarbeitet. Und der Rest der Band steht der Sache eher distanziert gegenüber, Thomas selber meint, da er nicht der Leader sei, sondern nur eins von fünf Mitgliedern, müsse dieses Engagement keine Wirkung auf die Ubu-Musik haben. An anderer Stelle sagte er: „Ich habe eh immer nur über drei Themen Songs gemacht. Strand, Gehen, (Walking) und das dritte hab ich vergessen. Das hat nie einer gemerkt“. Und das werde er auch in Zukunft tun.

Tom Herman ging. Mit ihm sein schräg-genialer Gitarrenstil. Er nahm eine Solo-LP namens FRONTIER JUSTICE auf, die nur noch auf ein Label wartet. Hereinspaziert kam kein anderer als der legendäre Mayo Thompson. Dies bringt unsere Geschichte auf einen anderen Pfad, der zunächst auch in die Vergangenheit führt um dann rasend-dynamisch die Zukunft anzupeilen: Die Geschichte der Red Crayola und all derer, die mit ihr gesegelt sind. Aber ein Artikel, der in verschiedene Richtungen führt und aus verschiedenen kommt, Kreuzungen und Knoten beschreibt, ist bei Ubu nur konsequent. Ihre Musik ist genauso.

Der legendäre Mayo hatte in den legendären Spätsechzigern eine legendäre Psychedelic-Band namens Red Krayola. (Später mußte das „K“ von Krayola in ein „C“ geändert werden, weil die Krayola-Wachsmalkreiden-Firma einschritt). Diese Red Krayola machte zwei ebenso legendäre Platten, GOD BLESS THE RED KRAYOLA AND ALL WHO SAIL WITH IT und THE PARABLE OF ARABLE LAND. Auf beiden findet man intelligent-psychedelisches Gedudel. Später löste sich die Gruppe auf und Mayo T. machte noch das Solo-Album CORKY’S DEBT TO HIS FATHER (1970), auf dem auch der Song „Horses“ enthalten ist, den er mit auf die neue Pere-Ubu-Platte ART OF WALKING brachte. In den Jahren 73-76 arbeitete er ab und zu mit einer Band namens Art + Language. Alles Wissenswerte über diese frühe Krayola steht in „Rock Session 4“.

1977 siedelte Mayo Thompson nach England über und gründete mit dem neuen Schlagzeuger Jesse Chamberlain ein neues Duo namens Red Crayola. Zusammen mit seiner Frau Christine und den Musikern von Pere Ubu machte er die LP SOLDIER TALK, und in anderer Besetzung die Singles „Microchips- and fish“, als Duo mit Chamberlain entstand „Yik Yak“ / „Wives In Orbit“ und mit Lora Logic, Gina Birch und Epic Soundtracks die letzte Single „Born In Flames“ / „The Sword Of God“.

In seinem geräumigen Hotelzimmer mit Blick auf den Hauptbahnhof und den Zentral-Omnibus-Bahnhof wollte er mir Rede und Antwort stehen in allen Ubu- und Crayola-betreffenden Fragen, während der stille Maler und Synthimann Allen Ravenstine im Hintergrund mit bewundernswerter Sorgfalt frische Wäsche zusammenlegte.

Was hast du eigentlich in der Zeit zwischen 70 und 77 gemacht?

Gearbeitet. Ich war Fernseh-Techniker, Programmdirektor einer Rundfunk-Station. Ich hab im Filmgeschäft gearbeitet.

Was hat dich dazu gebracht, wieder Musik zu machen?

Ich weiß nicht. Teils, weil sich viel geändert hat. Als ich 77 nach England kam, passierten interessante Dinge und es erschien mir zum ersten Mal wieder interessant, in der Öffentlichkeit Musik zu machen, weil einige der Sachen, die ich in den 60ern gemacht habe, wiederveröffentlicht wurden. Ich dachte, kein Mensch wisse, wer oder was Red Crayola ist.

Und dann waren diese Platten plötzlich Sammlerstücke. Da erschien es mir wichtig, zu intervenieren. Die Geschichte der Red Crayola wird und wurde immer in Zusammenhang gebracht mit Avantgarde und anderen Avantgarde-Konzepten. Ich wollte da entgegenwirken.

Viele Leute waren erstaunt, als du für Rough Trade das erste Album von Stiff Little Fingers produziertest.

Ja, das war doch eine gute Platte, oder?

Sicher, die einzige gute, die sie gemacht haben. Seitdem fehlt ihrer Musik etwas.

Die soziale Grundlage.

Du machst ja eine Menge Produktionen für Rough Trade, du scheinst einen weitgefächerten Geschmack zu haben.

Ich habe überhaupt keinen Geschmack.

Was sind dann die Kriterien, eine Platte zu produzieren?

Wenn es sinnvoll ist, eine Platte zu produzieren, tu ich es. Wenn es einen Sinn ergibt. Oft habe ich viele gute Gründe eine Platte nicht zu produzieren.

Was heißt „sinnvoll“?

Wenn bestimmte Reflektionen, Bezüge mit der Musik verbunden sind, die es interessant machen, sie auf Platte zu bringen. Wenn ich eine Musik unterstützen kann, wenn ich Hilfreiches beitragen kann, dann tu ich es. Ich mach es nicht einfach, weil ich es kann. Ich habe zum Beispiel die Xdreamysts aus Irland produzieren sollen. Als ich sie gehört habe, hatte ich keine Lust mehr dazu.

Und du sagst, das hat mit Geschmack nichts zu tun?

Nein.

Aber gehört nicht auch Geschmack zu deinen Kompositionen? Ist nicht Geschmack ein Grundelement von Musik?

Redest du über Geschmack als eine Sache der Ästhetik? An Ästhetik bin ich nicht interessiert. Ich mache keine Entscheidungen, weil irgendetwas verrückt klingt.

Ich wollte dich auch nicht in die L’art-pour-l’art-Ecke drängen.

Ich denke nicht soviel über Musik nach, sondern eher über Songs. Ich betrachte mich als einen Songschreiber. Songs haben Worte und die Worte wollen meistens etwas sagen. Für mich ist die Musik immer den Worten untergeordnet. Sie muß den Ausdruck dessen unterstüzen, was gesagt werden soll. Ich glaube nicht, daß das notwendig ästhetische Fragen sind. Du kannst darüber Hypothesen aufstellen. Aber ich neige dazu, die meisten Dinge auf technische Funktionen zu reduzieren. Ich finde, Musik kann sehr bewegend sein. Aber ich habe nicht die Absicht, besondere Sounds oder Stile zu konstruieren. Gibt das einen Sinn?

Ja, schon, aber ich wundere mich, daß du Musik als den Worten untergeordnet einschätzt…

Deswegen ist SOLDIER TALK kein besonders erfolgreiches Album. Weil die Texte nicht so gut sind.

Ich finde eher, daß sie nicht so präsent sind. Auf der Platte passiert musikalisch so viel, daß man sich nicht so um die Texte kümmert, während auf der letzten Red-Crayola-Single einfach mehr Platz für Texte ist.

Ja, da hat sich viel verändert! Bei „Born In Flames“ und „Sword Of God“ sind die Texte viel klarer.

Aber da ist auch viel Melodik, schöne Melodien…

Vielen Dank. Ich bin an Melodien mehr interessiert als an…

Arrangement?

Arrangements gut zu machen ist auch mein Ziel, aber ich möchte mehr Gradlinigkeit und dafür sind bei „Born In Flames“ sowohl Text, als auch Melodie ein gutes Beispiel. Wenn eine Melodie schen Dinge sind für mich vielleicht interessante Probleme, aber bei der Entstehung eines Songs immer untergeordnet unter die Idee und den Ausdruck.

Was hast du zur letzten Pere-Ubu-LP, THE ART OF WALKING beigetragen, außer deinem Song „Horses“?

Ich hab überall mitgeschrieben und -gespielt, außer bei „Crush This Horn“ (eine leidenschaftliche Krach-Nummer, die direkt an das bestechend-harmonische und wehmütig-schöne „Horses“ anknüpft.)

„Horses“ ist ja ein sehr hübsches Lied, ich finde, es würde besser auf eine neue Red-Crayola-Single passen.

Ich habe es vor über zehn Jahren geschrieben. Sicher, meine Arbeit bei Pere Ubu ist eine andere, als die bei Red Crayola, Äpfel und Orangen. „Horses“ gehört nicht zu Pere Ubu, aber passen? Alles paßt, was du zusammenbringst. Aber die Struktur der Musik und die Texte sind von Ubu ganz verschieden. Bei Ubu wird auf sehr verschiedenartige, komplexe Weise komponiert. Meistens, indem zwei Dinge zusammengebracht werden und dann werden anschließend die Details hinzugefügt. Während ich mit einer Melodie mit Kehrreim anfange. Ich schreibe Songs, die von einem Anfang zu einem Ende führen, eine Linie beschreiben. Dann baue ich Arrangements und Rhytmus drumherum, um die Melodie lebendig zu machen. Ubus Idee von Struktur ist anders, David Thomas’ Idee ist anders. Aber ich finde auch das interessant.

Bei Ubu gibt es seit Beginn zwei Richtungen, eine die mehr zu atonalen, sogenannten experimentellen Stücken führt und eine rockige.

Ja. Das eine wird allgemein „Kunstwerk“ genannt, das andere „Rock“. Die Band schwingt zwischen beiden Seiten hin und her. Was wir jetzt tun, ist, daß wir die Kunstwerke etwas zurückstellen werden.

Sind diese beiden Richtungen personifiziert durch bestimmte Bandmitglieder?

Nein!

Was trägt David Thomas zu den Kompositionen bei, nur alle Texte?

Die Texte ja, aber er hat auch sonst Ideen. „Rhapsody In Pink“ , z.B.. Tony und ich waren im Studio und haben einfach nur so vor uns hingespielt und er kam rein und schrie: „Das ist fantastisch. Daraus machen wir einen Song“. Oder er verändert fertige Sachen, fügt Details hinzu.

Aber er benutzt keine Instrumente?

Doch, eigentlich muß er. Denn er hat gerade eine Solo-Single gemacht, bei der er die Melodie geschrieben hat, und sie dann dem Gitarristen erklärt hat. Das war Alan Greenblatt, der auch mal bei Pere Ubu gespielt hat. David hat aber z.B. auch „Final Solution“ geschrieben, Melodie und Text. Aber z.Z. verändert sich viel. Seit THE ART OF WALKING haben wir uns besser kenengelernt, die unterschiedlichen Arbeitsweisen ausgecheckt.

Was ist nun dran an David’s Religiosität?

Er ist ein Zeuge Jehovah’s.

Stört das nicht die Zusammenarbeit?

Nein, es stört mich nicht. Es gibt Konflikte deswegen, aber Konflikte sind überall. Das macht das Leben interessant.

Aber es gibt doch einen Punkt, wo man eine Philosophie oder Weltanschauung nicht mehr akzeptiert.

Der Moment könnte kommen, wo ich sage, daß ich mit David nicht mehr zusamenarbeiten kann. Ich sage nicht, er wird kommen, er könnte kommen. (unten, vor Pere Ubus Hotel findet eine riesige Schüler-Demo statt. Wir schauen uns das an. Mayo T. und Allen R. lassen sich die Vorgänge erklären und fragen, wieviele von denen wohl heute abend zum Konzert kommen würden.)

Trotz vieler Mitgliederwechsel gibt es eine seltsame Kontinuität in Pere Ubus Arbeit.

Ja. Ihre Methode impliziert das. Außerdem gibt es Davids Stimme, die immer dieselbe ist und seine Art zu singen, die vielleicht auch eine bestimmte Musik nach sich zieht.

Aber gerade auch im instrumentalen Bereich, diese Luftigkeit… Ich habe gerade die von Rough Trade wiederveröffentlichte „Final Solution“ / „My Dark Ages“ -Single gehört und danach die ganz neue „Not Happy“ . Dazwischen liegen fünf Jahre, aber trotzdem…

Ich weiß, was du meinst, ich hab die selbe Empfindung, aber ich kann das auch nicht näher erklären.

Du bist Mitarbeiter bei Rough Trade, Red-Crayola-Macher und Vollmitglied bei Pere Ubu. Ist es nicht schlecht für die Band, daß du nicht immer verfügbar bist?

Im Gegenteil: Sechs Monate im Jahr Zusammensein ist mehr als genug. Ständiges Aufeinanderhocken macht die Kreativität einer Band kaputt.

Es gibt ein neues Red-Crayola-Album, ließ ich mir sagen. Wer wird dabei sein?

Ein neuer Bassist, dann Allen Ravenstine, Epic Soundtracks, der früher bei den Swell Maps war, Lora Logic und Gina Birch von den Raincoats.

Ich habe gehört, die Platte handle von Revolutionen?

Nein, das ist falsch. Sie handelt eher von, naja, Lernen. Das sind Geschichten über Menschen, die lernen oder gelernt haben. Ein Song handelt von Lenin, einer von Trotzki. Dann sind auch ironischere Sachen dabei. Ein Lied, das man für puren sozialistischen Realismus halten könnte. Aber ich habe auch einen Text von Horkheimer vertont. Er handelt von einem alten Mann, der träumt, daß er eine Million hat und er wacht auf und neben ihm sitzt ein Psychoanalytiker und der sagt, das Geld sei sein Vater (…) Aber ich habe auch ein Lied gemacht, das heißt „Born To Win“ und handelt von Ronald Reagan und der ganzen Geistesgeschichte (Mayo spricht dieses Wort auf deutsch aus) Kaliforniens. Wegen solcher Wörter will ich deutsch lernen. Geistesgeschichte. Man kann das auf englisch nicht sagen.

Wie wird die Platte heißen?

CANGAROO?. Weißt du, was „Cangaroo?“ in der Sprache der australischen Ureinwohner heißt? Es bedeutet: „Was hast du gesagt?“. Die britischen Entdecker haben irgendwann auf englisch einen Eingeborenen nach dem Namen dieses Tieres gefragt, das wir heute Känguruh nennen, Und die haben geantwortet: „Was hast du gesagt?“ – „Cangaroo?“ – Dieser Titel und seine Geschichte sind für meine Platte ideal.

Interviewende. Soundcheck. Konzert.

Ubus Musik zu beschreiben stößt an die Grenzen dieser Adjektiv-Sprache, die sich Rock-Kritiker, an englischen Vorbildern orientiert, so zugelegt haben. Man müßte sich eine Art mit Verben umzugehen angewöhnen, die das Moment der Bewegung in Musik besser ausdrückt. Mit Adjektiven kann man Menschen für Momente treffend charakterisieren. Wenn sie in Prozessen stecken, wie z.B. Musik, werden solche Zementierungen reaktionär. Wenn man „kompromißlos“ sagt, ist das auch ein Kompromiß.