Platte des Monats: Breiter als das Leben

Henry Kaiser: Those Who Know History Are Doomed To Repeat It (SST/EFA)

Die die Geschichte kennen, sind verdammt, sie zu wiederholen. Die Lage der Pop-Musik, der Kultur ganz allgemein, oder Kaisers Problem (als Musiker, Improvisierer)? Denn Henry Kaiser, Gitarrist, kommt aus einer musikalischen Tradition, der es immer besonders darum zu tun war, nicht zu wiederholen, weder eine Form, Struktur, noch eine Methode, geschweige denn identifizierbare Tonfolgen. Diese Bewegung/Schule der improvisierten Musik, die, obwohl aus dem Free Jazz hervorgegangen und in den 70er Jahren auf ihrem Höhepunkt dessen konkurrenzlose Weiterentwicklung, kämpft seit über einem Jahrzehnt einen Zwei-Fronten-Kampf, sowohl gegen den, überwundene Formen wieder als klassische festschreibenden neo-konservativen Jazz der ausgehenden 70er, frühen 80er Jahre, wie gegen die, die Improvisation als Adhoc-Komposition noch immer nicht für voll nehmende E-Musik, die sich darüberhinaus immer weiter unter Überschriften wie Minimal zum Verschmelzen mit der Meditations- und Dröhn-Musik, die unter dem Namen New Age bekannt ist, bereit zeigt. Zur allgemeinen und besonderen Problematik der improvisierten Musik sei das von ihrem Altmeister Derek Bailey verfaßte Standardwerk im wolke-Verlag empfohlen.

Kaiser ist indes nicht der einzige, der in dieser Situation entdeckt, daß die Improvisation für ihn nichts anderes war als der Endpunkt einer musikalischen Entwicklung, die mit der Pop-Musik der späten 60er/frühen 70er begonnen haben muß, nicht wie es die Ideologie der Improvisierenden manchmal nahelegt, eine absolute Musik. Damals war die Pop-Musik besonders entschlossen, alle sie beengenden Grenzen niederzureißen. Wer teilnahm an diesem Projekt, wer an die Notwendigkeit glaubte, daß die Befreiung den Weg über lange, improvisierte Mittelteile und Variationen, die nicht unter einer LP-Seite lang sein durften, nehmen mußte, verließ bald gänzlich die Pop-Form oder verschmolz sie, ohne um ihr Einverständnis zu fragen, mit Jazz und mußte schließlich zwangsläufig den Free Jazz entdecken, die Musik mit auf Anhieb der geringsten Zahl an Barrikaden.

Bis er erkennen mußte, daß es auch im Free Jazz Klischees und Regeln gibt, was den Preis, den man als Musiker für die Existenz als Free Jazzer bezahlt, nämlich bittere Armut, dann doch zu hoch treibt. Seit Jahren hat schließlich nur einer, nämlich Cecil Taylor, eine Technik entwickeln können, Töne hervorzubringen, die an nichts erinnern, die keine Referenz haben und auch keinen Code bilden werden, also wirklich intensiv sind und nicht referentiell. Fast alle, die in dieser Richtung lange gearbeitet hatten, klangen irgendwann wie Cecil Taylor. Oder wie Derek Bailey meinetwegen. Aber schon über ihn, der Ähnliches erreicht haben soll, weiß ein Weggenosse Kaisers, Eugene Chadbourne, zu erzählen: „Wenn Du mit ihm spielst, mußt Du um jeden Preis alles umgehen, was in irgendeiner Weise einem anderen bekannten Zusammenhang zuzuordnen ist, er will den Stil eliminieren, dabei spielt er selbst einen leicht identifizierbaren Anti-Stil, du gerätst so in einen Zustand, der gerade das Gegenteil von dem ist, von wo aus du normalerweise improvisierst. Du kannst mit dem Chaos gar nichts anfangen, wenn Du Dich nicht auch für einen guten Song erwärmen kannst.“

Chadbourne löste für sich das Problem u. a., indem er den Spieß umdrehte, den haltlosen Gaga-Zitat-Kaspermusiker erfand, bzw. aus des jungen Zappalutigen Händen riß. Entsprechend gesteigert, versteht sich: keine zwei Töne, keine drei Sinnzusammenhänge ohne mindestens die gesamte Geschichte der Pop-Musik der 60er Jahre zu zitieren, gerne auch noch des politischen Liedes und des Wiener Walzers, verweisen bis sich die Zeichensysteme biegen, der Referenzenvampir, Covern, was das Zeug hält, kein Moment, keine Pause, die nicht auf etwas zeigt. Das ergibt vor allem die lustigste Musik around, aber Kaiser wählte einen anderen Weg, indem er, statt die Widersprüche des Status Quo ins Groteske zu steigern, das Problem zu seinen Ursprüngen zurückverfolgte.

Warum hatte denn die Pop-Musik überhaupt aufgehört weiter Barrieren niederreißen zu wollen? War es ihr gedämmert, daß dies noch nie ihres Amtes war, bzw. ein Großteil der Barrikaden längst verfallen in den Hinterzimmern der Wiener Schule oder Kölner Studios für neue Musik herumlagen? Zehn Jahre lang (von 73 bis 83) reflektierte sie mit Gewinn ihr geschichtliches Gewordensein, verhedderte sich in Subkulturhistorie, schuf Zitiergattungen, die ihrerseits wieder Zitiermaterial für die nächste Generation wurden, bis sie einerseits, u. a. auch durch technologische Entwicklungen (Sampling), das Überarbeiten, Aufnehmen fertig eingespielter Musik in moderne Disco-Gattungen zum Mainstream erhoben hat (Hip-Hop, House) – die Entsprechung in der Bildenden Kunst nennt sich „appropriation art“ –, andrerseits der Wert des Zitierten sich durch diese Inflation endgültig verflüchtigt hat, so daß vollkommene Beliebigkeit überall dort eingetreten ist, wo nicht, wie meistens im Hip-Hop, zitiert wurde, weil eine fertige gesampelte Klangfarbe als Fertiges, als nicht persönlich Hervorgebrachtes einen gewissen Wert und vor allem antipeinliche Anti-Ausdrucks-Coolness besitzt, sondern um durch unmögliche oder sonstwie in der Kombination Wirkungen zu erzielen.

So ist die Bewegung immer näher zur Referenz, immer tiefer ins Herz der Referenz, ins Herz der Bedeutung, der Weg, den die Pop-Musik gegangen ist, am entsprechenden End-Punkt angekommen, wie die improvisierte Musik, die sich immer weiter von der Bedeutung zur referenzlosen Intensität bewegen wollte, jede am jeweiligen Nadir. Die improvisierte Musik bzw. ihre meisten Vertreter baden in einem See von gerade noch lesbaren, noch bedeutenden zitierten Zeichen, die Pop-Musiker produzieren die sinnlose, bedeutungsfreie pure Intensität. Diese Situation versteht Kaiser als einer der wenigen richtig, weil er den Punkt des Aufbruchs aufsucht und verantwortlich macht – die Musik der frühen 70er, die viel experimenteller waren als die dafür so oft gerühmten 60er – und versucht den Pop-Wert, das Sprachliche an diesen Formen der Entsprachlichung, der Deterritorialisierung, wie man vor ein paar Jahren noch gesagt hätte, ausfindig zu machen. 

Eine Vorgehensweise, die schon alleine deswegen genial ist, weil sie zunächst mal zurückgewinnt, für die Rock/Pop-Musik, was diese im Zeitalter ihrer erhöhten Reflexivität sich selbst schon fast verboten hat: Intentionalität. Streng antisubjektivistisch entstand in den 80er Jahren die Trash-Lesart, die immer das zu schätzen, hervorzuheben wußte, was und weil es sein Autor nicht beabsichtigt hätte. Kaiser spielt auf seiner neuen Platte Monumente der aufbrechenden Musik der späten 60er, frühen 70er, und er läßt sie gewähren, läßt ihnen ihre Intentionen, so lächerlich sie uns zum Teil heute erscheinen mögen, ohne Trash-Witze darüber zu machen, und setzt sie in Beziehung zu ihrem späteren Weg. Er spielt diese Stücke 1:1, wenn nicht larger than life, würdigt sie in ihrer Intentionalität, würdigt Intentionalität überhaupt und betreibt damit einen bitter nötigen Pop-internen Anti-Revisionismus. Wir zumindest haben das gewollt, was Grateful Dead auf „Dark Star“ begonnen haben, also müssen wir unsere späteren Hervorbringungen erstmal darauf bezogen prüfen (oder erklären, daß wir in the first place im Unrecht waren). Das bedeutet die tieferliegenden Pop-Gesetze des Intensiven aufzudecken, zu betonen und die potentiellen Zündstoffe des Songs, die der Improvisation zugeschriebenen Eigenschaften am einfachen Lied herauszuarbeiten.

Kaiser tut auf der A-Seite von Those Who Know… das letztere, indem er Songs wie „Ode To Billie Joe“ oder „The Man Who Shot Liberty Valance“ in kleine unverbundene Explosionen einpackt, die sozusagen als Überschrift und Fazit unterstreichen, was er dem Song (speziell dem Country-Song, darin einig mit den alten Aufbrechern der Improvisation generell) zutraut, und auf der B-Seite ersteres durch eine ganz besondere Bearbeitung von „Dark Star“.

„Dark Star“, zuerst in einer Kurzfassung für den Soundtrack von Antonionis Zabriskie Point aufgenommen, und dann in seiner gültigen Drittel-Stunden-Fassung auf der zur Jahrzehntwende erschienen Live-Doppel-LP Live/Dead, gilt als das Meisterwerk einer wie auch immer hippieideologisch verbrämt, sich frei verstehenden Pop-Musik. Kaiser beginnt mit Respekt vor dem Original, behandelt das Er-Improvisierte wie einen heiligen Text, wie eine Partitur, sogar der spezielle Sound von Jerry Garcias Lead-Gitarre ist ihm heilig; einzige Veränderung: Der Orgel-Part wird von einer Violine übernommen. Nach circa zehn Minuten kommt er wie vorgeschrieben zu dem bekannten zarten Vokal-Thema und verläßt es auf der vorgeschriebenen Ausfall-Straße, um dann allerdings erstmal frei und nun variierend in einem, nicht extra zitatmäßig gekennzeichneten, aber dennoch 70er-Fusion-Improvisationsstil mit dem ganzen Ensemble zu einem anderen, späteren Thema der Dead – auch aus einer Improvisationsnummer, aber schon zu Zeiten ihrer Rückbesinnung auf den klassischen amerikanischen Country-Song entstanden – aufzubrechen. Kaiser führt diese Brücke aber nicht ganz beliebig durch. Er hat aus dem endlos in die Länge gezogenen, für den unbefangenen Hörer ziellos mäandernden Melodielinien von „Dark Star“ durch gedachte Straffung, wie man das heutzutage oft automatisch bei für LSD-Meditationen gedachter Musik tut (und tun muß oder auch nicht), einen Melodiegehalt wie eine Grundfarbe aus den harmonischen Ansätzen des Stücks herausdestilliert, die er dieser rockigen, eigentlich unangenehmen Spät-70er-Rockjazzbridge unterlegt, und die sich über dem Thema von „(That’s It For) The Other One“, dem Ziel der kleinen Reise, in artige konstruktivistische Formen legt.

Der Punkt bei dieser aus besagten philosophischen Gründen einmaligen und wichtigen Platte ist aber eben, daß sie nicht nur das alles und noch viel mehr ist, was ich hier im Schweiße meines Angesichts an Ordnung in die Pop-Geschichte reinzubringen versuche – sie ist auch das, mehr als jede andere –, sie ist vor allem auch eine verdammte Hipster-Platte, die nur Hipster verstehen. Ich meine Folgendes. Wer würde sich bei einer göttlichst die Welt aus den Angeln improvisierenden Platte wie der Original-„Dark Star“ für die Modalitäten des Ausblendens gegen Ende der übervollen Plattenseite interessieren? Niemand außer dem Pop-Kenner, dem der höhere Zweck und Sinn von Musik immer schon egal war, verdammter Fetischist, der er ist, und ein solcher wohnt, und das ist der große Gewinn an diesem Mann, auch in Kaiser: Er stellt dieses Ausblenden exakt nach, um dann im Gegensatz zum Original, wo man ganz am Ende von „Dark Star“ bereits die ersten Töne der nächsten Seite des Doppelalbums hört, nämlich „St. Stephen“, die zwei Eröffnungstöne von besagtem „(That’s It For) The Other One“ anzuklingeln. Ich weiß nicht, ob das für jemanden, der nicht mit „Dark Star“ und „The Other One“ durch die psychedelische Erfahrung gegangen ist und auch sonst sehr viele Lebensentscheidungen diesen beiden Stücken verdankt, so zu verstehen ist, aber das ist wirklich genial. Im Sinne von far out.