Boogie Down Productions: Ghetto Music: The Blueprint Of HipHop
Das erste Kapitel der Boogie Down Productions hieß Criminal Minded und zeigte die Beteiligten auf dem Cover als bis an die Zähne bewaffnete Gangster. Das Gangster-Image, das noch bis vor kurzem das Erscheinungsbild von Hip-Hop für die außenstehende Grobwahrnehmung prägte, hat keiner so bewußt ausgestaltet wie KRS-One, Chef und Stimme der Gruppe, und sein damals noch entscheidender Partner Scott La Rock, der im August 1987 bei einer Bronx-Schießerei als Unbeteiligter ums Leben kam. Waren für den durchschnittlichen Rapper diese Accessoires in der Regel nicht mehr als eine der vielen Moden, die völlig legitim Soforthilfe gegen Macht- und Bedeutungslosigkeit in den Ghettos und Elendsvierteln dieser Welt zu garantieren pflegen, wurde es für BDP und KRS zum Konzept, zum wichtigen Begriff „Criminal Minded“, der einerseits zu denen (auch musikalisch härter und direkter) sprechen sollte, die tatsächlich nur noch jenseits des Gesetzes überleben können (und für die die Alternative zum Gesetzesbruch Selbstaufgabe hieße), der andererseits auch aus deren Not/Zwangslage den Namen für ein besonderes Bewußtsein, eine besondere Qualität und Stärke zu gewinnen versuchte. Criminal minded hieß emphatisch genau beides: verhaltensgestört und klassenbewußt, und wie das eine aus dem anderen hervorgeht. Da sich das europäische Hirn immer nicht vorstellen kann, wie eine Gangster-Haltung und eine, von KRS-One mitinitiierte „Stop The Violence“-Bewegung sich eben gerade nicht widersprechen, ist es umso wichtiger, daß KRS-One mit der Reihenfolge seiner Platten klarstellt, daß und wie das korrekte Bewußtsein aus dem kriminellen entsteht.
Das zweite Kapitel hieß, nach dem Tode von Scott La Rock, den KRS-One, selber in Drogendingen vorbestraft, als seinen Bewährungshelfer kennengelernt hatte, By All Means Necessary (vgl. hierzu Lothar Gorris: „Tod eines Bewährungshelfers“ in: Spex 7/88) und zitierte auf dem Cover ein berühmtes Malcolm-X-Plakat aus den 60er Jahren. Verkürzt gesagt handelt auch dieses Kapitel von einem dialektischen Problem des Widerstands, diesmal von Radikalität und Gewalt. Wieso Peace gerade nach der Bereitschaft zu revolutionärer Gewalt verlange (die er so nicht nennt, sondern: „mit allen nötigen Mitteln“) und die Bereitschaft zu revolutionärer Gewalt andererseits die Gewaltlosigkeit in den Clubs und untereinander. Dies kam nicht als in einen populären, aber essentiell sinnlosen Groove eingepackte, diesem fremde, ihm etwas aufzwingende Botschaft – wie sonst so oft, wenn in der Rock/Pop-Geschichte einer „politisch“ werden will, üblich und Zeichen von deren Gekauftheit durch Macht und Staat – , sondern nicht nur von der Glaubwürdigkeit, die sich BDP im ersten Kapitel über die Kriminalität erworben haben, getragen, sondern auch mit einer Argumentation, die sich aus dem Wesen des Rap ergibt: dem Herumreiten auf der sinnlichen Ebene der Worte, ihrer Etymologie oder vermeintlichen Etymologie, der konventionellen Bedeutung skeptisch und fremd gegenüberstehend und damit beschäftigt, wie man eine neue erzielt, wenn man nur einen Buchstaben verschiebt etc.: die ganze, für Außenstehende fast heideggerisch anmutende Methode, wie sie die legendären Last Poets schon seit den späten Sechzigern bei ihren zu Conga-Begleitung gesprochenen Gedichten benutzten, das Tanzen und Tänzeln auf dem Signifikanten, das schließlich über Spiele mit dem Signifikanten zu einem neuen Inhalt kommt. Themen: Legalität/Illegalität, Rassismus, Stop The Violence.
Das nun vorliegende dritte Kapitel geht ähnlich vor, indem es die klassische Selbstreflexivität des normalen unambitionierten alten Hip-Hop aufgreift – bei der der Rapper meistens nur leicht variiert sich selbst und seinen DJ vorstellte, seine Herkunft aus welchem New Yorker Borough auch immer pries, seine sexuelle Attraktivität und den Stil Musik, den man gerade hört (vgl. LP-Titel wie He’s The DJ, I’m The Rapper) und im Prinzip nur davon sprach, was durch den Rap gerade in dieser Sekunde passierte – und diese Selbstreflexivität auf die von KRS-One eingeführte Begrifflichkeit der Ghetto-Music bezieht, indem er seinen neuen, erweiterten Hip-Hop-Begriff zu Musik erläutert, die ihn erst exekutiert.
KRS-One hat sich indes nicht jenseits der Bewegung entwickelt, die ja ihrerseits die Stadien und Kapitel des Boogie-Down-Romans durchlaufen hat. 1988 sah es so aus, als wären verschiedene mehr oder weniger militante Auslegungen der alten Black-Muslim-Ideologie und darum herum geisternde selbstgemachte Afrika-Bezüge am aussichtsreichsten darin, den politischen Horizont der neuen, schwarzen, städtischen Jugend-Kultur abzustecken. Ohne das Extra-Problem zu erörtern, inwieweit die nach außen hin teilweise tauglichen Ideologien von Black Muslim nach innen nur bestimmte Widersprüche in der Community verschärfen (Frauen- und Schwulenfeindlichkeit, ein gerade bei Professor Griff, dem ehemaligen „Propagandaminister“ von Public Enemy, der musikalisch innovativsten Gruppe, ausgeprägter Anti-Semitismus, der neulich mit einer typischen Rap-Schlußfolgerung für Aufsehen und seine Entfernung aus der Gruppe sorgte, als er in einem Interview mit der Washington Post erklärte, es sei kein Wunder, daß Juden den internationalen Juwelenhandel beherrschten und damit die Brüder in Südafrika unterdrückten, schließlich käme das Wort „Jewellery“ von „Jew“) und ohne auf das Recht, mit dem man sich als an dem Kampf nicht unmittelbar Beteiligter zur Eignung bestimmter Kampfmethoden äußert, einzugehen, ist es interessant und wichtig festzustellen, daß KRS-One gerade einer der wenigen ist, der über Black Muslim eben genau die wahrscheinlich richtige und klare Vorstellung hat, daß diese Bewegung eine Funktion als nützlicher Schritt habe, den man unter dieser Einschränkung, daß er begrenzt und funktional bleibe, empfehlen müsse, ohne grundsätzlich daran zu glauben. Mittlerweile ist KRS-One nämlich auch beim Abschied von der zentralen Stellung des Rassismus als Dreh- und Angelpunkt allen schwarzen radikalen Denkens angekommen.
Der neue Begriff heißt Ghetto Music und er spricht davon, daß „es mehr und mehr ein arm/reich als ein schwarz/weiß-Problem geworden sei“, was natürlich allein deswegen problematisch ist, weil der konkrete Ansatzpunkt jeder schwarzen Politisierung natürlich der Rassismus bleiben muß, jeder weitere Schritt zur Abstraktion ist ein Schritt weg von der Mobilisierbarkeit. Auf der anderen Seite ist eine gar nicht seltene, interessante Form intellektuellen Rassismus’, jemandem wie KRS-One – wie manche weiße Kritiker das tun – das Recht zu verweigern, Differenzierungen und Weiterentwicklungen seiner Position zu betreiben, die die pittoreske Radikalität der Malcolm-X-Pose, die den Kids und den Kritikern so gut gefiel, überschreitet. KRS-One hat ja schon früher gezeigt, daß er ein dialektischer „Philosopher“ (wie er sich selbst nennt) ist: gerade diese Erkenntnis, daß es für den Fortschritt des Bewußtseins – dem es am Anfang genügte, um einen ersten Schritt zu tun, criminal minded zu sein – entscheidend ist, jede rassenbezogene Definition der eigenen Position zu überwinden, führt zum um so zwingenderen Zugriff der neuen, stattdessen eingeführten besseren Kategorie: Ghetto Music. Nur Leute mit einem Ghetto-Bewußtsein können sie verstehen.
Ghetto-Musik und Ghetto-Bewußtsein definiert einen Zusammenhang, der zutreffender ist als das zuvor von etwa Public Enemy und anderen ausgegebene Bild einer schwarzen Geschichte, von Elijah Muhammad bis John Coltrane, also von schwarzer Intellektuellenkultur der 60er bis zu ersten Anfängen der Black-Muslim-Bewegung, die erstens auf die heutige Situation bezogen auf ihre symbolische Funktion beschränkt bleiben müssen und zweitens zu ihrer Zeit aus ganz anderen Bedingungen entstanden sind. Ghetto-Musik beschreibt stattdessen einen Zusammenhang, zu dem alle möglichen, vergleichbaren kulturellen und politischen Bewegungen gehören, die einer höchst wirklichen Entwicklung der Lebensbedingungen in der ersten Welt zum Opfer gefallen sind und eine entsprechende Kultur entwickeln. „Ghetto Music“ ist die zeitgemäße Definition von Klassenbewußtsein.
Klassenbewußtsein ist immer mehr als Rassenbewußtsein. Letzteres immer auch um atavistische Positionen gruppiert: KRS-One hat die Radikalität, die Aggressivität und die Notwendigkeit einer gewissen Hermetik gegen weiße Medien und Establishment-Kulturverwertung, die den Gangstern und den Muslims eignet, also deren Bestes, in seinen Begriff aufgenommen, um deren Nachteile, Atavismen und Beschränktheiten zu überwinden. Dazu gehört auch, daß er seinen persönlichen Weg mehr als zuvor als Beispiel oder musikalische Färbung in den Mittelpunkt stellt.
Die Referenzen an Reggae und andere Epochen schwarzer (Ghetto-)Musik beziehen sich bezeichnenderweise nicht nur auf die ohnehin stattfindende Verschmelzung des Hip-Hop mit den Dancehall- und Computer-Grooves der zeitgenössischen Raggamuffins, sondern auch auf Roots Reggae und Ska, die auf die Herkunft KRS-One’s verweisen, dessen Vater Jamaikaner ist. Seine ausschweifenden Interviews, seine Ankündigung, ein Buch der schwarzen Philosophie zu verfassen, seine Pläne und Projekte vom Aufbau einer schwarzen Unterhaltungsindustrie haben ihm natürlich in letzter Zeit auch den Vorwurf von der Street-Seite eingetragen, „abzuheben“, sich mit dem Establishment einzulassen. Das Problem ist schwierig, weil die einerseits fällige gedanklich-begriffliche Erweiterung der Hip-Hop-Idee und ein hervorragendes politisch-taktisches, kulturstrategisches Denken bei KRS-One zusammenfallen mit ersten Schritten zu damit natürlich zusammenhängenden Leader-Posen. Die man ihm allerdings zutrauen kann, historisch-strategisch zu verstehen: Seine gegenwärtige Situation ist die eines Bob Dylan des Hip-Hop kurz nach dem Newport-Festival. Das geht von seinem ähnlich wie bei Dylan erstaunlich bis gefälscht klingenden mythologischen Lebenslauf (seit dem 13. Lebensjahr homeless auf den Straßen der Bronx gelebt; von Scott La Rock aufgelesen und zum Metaphysician geworden) bis zu seinem gesunden und freundlich-bestimmten Egoismus, der ihn nicht nur vor der verlogenen altruistischen Pose bewahrt, die unsere caring Rockstars auszeichnet, sondern für sich gedanklichen und weltlichen Luxus verlangen läßt. Ersterer wäre eben auch die abstraktere Vorstellung davon, welche Funktion und historische Rolle Hip-Hop künftig spielen könnte, ohne sich von den alltäglichen Notwendigkeiten der Straße nur leiten zu lassen: denn das habe er lange genug getan und die entsprechenden Lektionen gelernt und weitergegeben.
Während er heute zwar noch nicht auf dem Rücksitz eines Cadillac sitzt und siamesische Katzen streichelt, erzählt er Spex-Autor Ralf Niemczyk schon kluge bis weise Fabeln (die wie Dylans Spätsechziger-Sentenzen die Chance haben, zu den kanonischen Sprüchen einer Generation zu werden) wie die von dem Kuchen und dem Messer: Die Black-Muslim- und/oder Hip-Hop-Aktivisten wie Public Enemy oder der Journalist Harry Allen interessierten sich nur für das Messer, für seine Gestaltung und seine Schärfe, es ginge ihm aber als Aktivist darum, den Kuchen (Frieden, Emanzipationen etc.) nicht aus den Augen zu verlieren. Den Kids dürfe man hingegen niemals den Kuchen zeigen, sondern immer nur klar machen, wie man das Messer benutzt (nicht wie schön es ist, sondern wie man es benutzt, um an den Kuchen zu kommen). Diese Metaphorik ist typisch für den Hip-Hop-Künstler, der einerseits in der Lage ist, das bitter nötige und bitter nötig hermetische Symbolsystem seiner Kultur zu respektieren, dessen Regeln einzuhalten, weil er ihren Sinn kennt und am eigenen Leibe erfahren hat, andererseits aber in der Lage ist, auf dieser symbolischen Ebene etwas zu bewegen, nicht nur an der reinen Erfüllung, Verschärfung und Durchsetzung interessiert ist, sondern in Phasen, Operationen und Strategien denkt. Natürlich können nicht alle Kids, die ihm criminal minded gefolgt sind, heute ihm noch ohne weiteres folgen, aber fast noch wichtiger ist, daß er Hip-Hop eine Perspektive gibt, die über das Wechseln der Mode von Goldketten zu Afrika-Anhängern (so wichtig und nicht zu unterschätzen auch dieser Schritt ist) hinausgeht, indem seine Platten und sein Weg zeigen, daß gerade der kriminelle Impuls und das daraus entstehende Bewußtsein als der entscheidende erste Schritt zu überhaupt etwas aus der Lethargie, dem Fatalen Herausführenden zu schätzen und zu begrüßen sind. Dazu muß er, der Erfinder von Criminal Mind, nicht irgendwer, diesen Schritt tun, der zeigt, wie aus dem individualanarchistischen ein politisches Bewußtsein entsteht.
Dem Hip-Hop hat immer ein Superstar gefehlt, der inhaltlich über seine Grenzen hinausdachte und andrerseits einem Weltpublikum bekannt ist. Das mag Vorteile haben, weil so die notwendige Verflachung, die der Blick der Weltsinnindustrie auf eine Superstars hervorbringende Szene zur Folge hat, ausbleibt. Auf der anderen Seite hat so ein Superstar, der aus einer minoritären Szene herausgewachsen ist, immer auch die Funktion der Geisel gehabt, die die Bewegung von der Kulturindustrie nimmt. Im Schatten von Bob Marley flossen plötzlich Gelder in jamaikanische Studios, entstand ein Weltpublikum für Reggae, das Platten möglich machte, die sonst nie entstanden wären, auch wenn Marley für seinen Weltruhm mit einem gewissen künstlerischen Niedergang zahlen mußte. Bei KRS-One ist ein solcher Niedergang nicht einmal abzusehen, wohl aber die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Weltsuperstarrolle zu übernehmen. Die neue Boogie Down Productions Platte ist die, die man denjenigen empfiehlt, die sonst keinen Hip-Hop hören können. Sie ist teilweise wunderschön wie idealistisch-religiöser Free Jazz oder Soul. Es könnte sein, daß die idealistische Falle schon zu weit geöffnet ist, daß er mit dieser Platte schon zuviel vom Kuchen gezeigt hat. Aber dann: Nur mit einem Ghetto-Bewußtsein kann man diese Platte verstehen.