Platte des Monats: Free Your Mind, Your Reichstag Will Follow

Einstürzende Neubauten: Haus der Lüge. Some Bizarre/Rough Trade 

Ein pissender Hengst. Oder ist dies hier schon zu dickflüssig, um noch als Urin durchgehen zu können? Die Konsistenz der bereits am Boden angekommenen Bestandteile der Ausscheidung erinnert eher an frisches Hirn. Neulich im Hinterland der belgischen Küste sahen wir aus dem Autofenster eine pissende Stute, ein herrlicher Anblick ! Es war auf dem Weg zum Ehrendenkmal der in den beiden Weltkriegen gefallenen flandrischen Soldaten, und lustigerweise erzählte uns die Informationsbroschüre, daß die Kugeln und Granaten der Deutschen nichts gewesen seien, verglichen mit der Arroganz der wallonischen Offiziere. Der Hengst, der auf dem Cover der neuen Neubauten-LP eine hirnartige Substanz ausscheidet, kennt den Inhalt der Platte und zieht die Konsequenzen. Das erinnert mich an das Cover der vor kurzem antiquarisch für meine letzten 26 DM erworbenen Funkadelic-LP Free Your Mind … Your Ass Will Follow, das eine Rückenansicht einer nackten Schwarzen vor künstlich himmelblauem Hintergrund zeigt, die befreit ihre Arme ausstreckt und ihren Arsch in der Tat sehr frei und funky in die Kamera hält, weil sie die Platte schon gehört hat, deren Inhalt nach dem Anspruch dieses Frühsiebziger-Funk die Befreiung des Geistes schon vollzogen hat. So etwa kennt das Pferd auch den Inhalt aller Neubautenplatten. Bleibt die Frage: warum ein Pferd? Aber schließlich ist so ein fast kupfergestochen anmutender Hengst das offensichtlichste Äquivalent zu all den feuchten Urworten, aus denen die Texte dieser Platte bestehen. Das Zerstören von deutscher Kultur als (auch rasend begehrter Exportartikel) die liebevollste Beschäftigung mit dem, was davon noch übrig ist, ist nach wie vor das einmalige und einmalig beherrschte Ding der Neubauten.

Wenn man davon ausgeht, daß nationale Eigenheiten zwar einerseits national sind und somit immer auch Dünkel und Machttechnik und mit ihr schon ermordete Menschen der eigenen und diverser fremder Nationalitäten mitenthalten, andererseits aber eben die am schwersten relativierbaren und hartnäckigsten Eigenheiten und damit heutzutage das, was am rasendsten vom internationalen Postmodernentum vernichtet und zerleiert wird, das also, was als Medium noch am ehesten geeignet ist, dagegen objektive und lesbare Spuren wirklicher Geschichte aufzubewahren, dann gibt es kein besseres Material für eine deutschsprachige Band als diejenigen deutschen Wörter, die sich nicht leicht durch englische ersetzen lassen, wie bei den meisten deutschen Bands, sondern die anderen, die feuchten Vokabeln, in die es reichlich reingeregnet hat, die nicht von aktuellen Funktionen und Bedeutungen bewohnt sind, die aber überall hier rumstehen, die sich keiner traut niederzureißen, noch zu renovieren.

Dies hier ist die Generation, die in den 80er Jahren zwischen 20 und 30 war, und die sich die ganze Zeit ihr Jahrzehnt so einrichtete, daß es aussah wie Geschichte zu Lebzeiten, Hauptdarsteller im eigenen Kostümfilm, ständig damit beschäftigt, die vermeintliche Geschichtlichkeit des eigenen Treibens ästhetisch durch Zeichen herauszustellen, die historischer Einschnitt spielten, aber natürlich nichts anderes waren als Symptome des Gegenteils, Abwesenheit von, Verlangen nach Geschichtlichkeit, Machbarkeit, Veränderbarkeit der Verhältnisse. So daß diejenigen, die je diese Geschichtlichkeit würden wahrnehmen können und sollen, als Spätere nur noch ein ununterscheidbares Gewimmel von viel zu deutlichen Abgrenzungen zwischen viel zu geringen Anlässen sehen können, lauter grell markierte Grenzen und Zäune um allerwinzigste Areale von Leben und Kampf und wirklicher Geschichte, daß sie wie eine Milchstraße nicht mehr einzeln wahrnehmbar sind (außer vom Mount Palomar aus). (Dennoch gehört diesem trüben Treiben meine Sympathie [It’s my party and I cry if I want to …], es hat endgültig die Autonomie von Subkulturen durch Unlesbarkeit gesichert und durchgesetzt. Waren Subkulturen vor fünfzehn Jahren verständlich für einen Spion, der ein Alphabet zu lernen bereit war, müßte derselbe Spion heute Sinologie studieren. Die Dialektik der Underground-Idylle ist wie die Dialektik des kleinbürgerlich-behüteten Aufwachsens: sie ist objektiv trübe und harmonisierend wirklicheitsausblendend, aber sie funktioniert immer häufiger und besser als letzte Brutstätte für neue Formen, die, anderswo gezüchtet und auf ihr Zielgebiet losgelassen, nicht mehr widerstandsfähig werden, mit kleinbürgerlichem Weltzuständigkeitsempfinden geimpft sich aber erstaunlich gut für alle möglichen oppositionellen Zwecke bewährt haben).

In demselben fraglichen Zeitraum war das Spiel der Neubauten der ganz neue Lärm und die ganz alte Sprache. Ein fast verantwortungsloses Spiel mit Archaismen steht einem Umgang mit Noise gegenüber, der nicht nur immer noch international seinesgleichen sucht, sondern vor allem, ohne seinen Noise-Charakter verloren zu haben, mittlerweile die paradoxe Qualität des zarten Lärms zu entfalten gelernt hat, falls sich einer sowas wie eine zurückgenommene, pastellene Katastrophe vorstellen kann, ein subtiles Weltbrand-Sorbet, das zwar immer noch wirklich zündet, aber dazu noch (gelegentlich eine Idee zu) köstlich mundet. Generell gilt: Die Neubauten sind für a) Musik und b) die 80er Jahre das, was Fassbinder für Kino und 70er war: Export-kompatibel, Aspekte-kompatibel, Feuilleton-kompatibel, DAAD-kompatibel, Goethe-Institut-kompatibel, Zadek- und Schiet- und Dreck-kompatibel und trotzdem wirklich gut und durch all das nicht zu relativieren. Sie erfüllten alle Indizien der großen Erbauungsscheiße und waren dennoch das Gegenteil, cool. Als alle richtigen Ideen der Menschheit sich nur noch in der Idylle regenerieren zu können schienen, zogen sie ins Hamburger Schauspielhaus und in eine kulinarisch-sinnlos auf geile Vokabeln durchflöhte deutsche Sprache. Während die andere und neueste und unbekannte deutschsprachige Musikhoffnung, die Kolossale Jugend aus Hamburg, wieder und mit Recht in der alten Dekomposition der deutschen Sprache eine deutsche Sprache der Rockmusik zu finden versucht und auf diesem eigentlich zu den Akten gelegten Feld auf ihrer LP Heile Heile Boches Beachtliches und Neues erreicht, haben die Neubauten fast ein Folk-Verhältnis zum deutschen Wort und seiner mittlerweile so ungewöhnlich deplaziert peinlichen und doch so richtig bewegenden Theatralik. Der Reduktion des Noise auf das Expressive und der Reduktion der gesungenen Großen Worte auf das Auffüllen emotionaler Leere in der üblichen Pop-Praxis wie im üblichen Verständnis, begegnen die Neubauten damit, daß bei ihnen ein großes Wort immer deutlich die Spuren spezifisch mißlungener Geschichte enthält, der deutschen, und seinen Peinlichkeitscharakter nicht als allgemeines Magengrimmen, sondern zielgerichtet auf die Ursache dieser Peinlichkeit hin entfaltet, sowie damit, daß sie den Noise verfeinern bis an die Grenzen eines modifizierten Art-Rocks an seinerseits der Grenze zum symphonischen Kitsch.

Daß sich die Neubauten als Popgruppe als Bewohner des Hauses der Lüge bezeichnen, kann man getrost als bewußte Anspielung auf Karl Kraus’ Adressenangabe „Haus der Sprache“ lesen (bei Blixa Bargeld sind solche Sachen kein Zufall). Lüge ist hier Pop als System, in dem es die gute Lüge als Möglichkeit gibt, aber auch Kultur allgemein, die man nur niederbrennen kann, und aus der es dann, wenn es brennt, nur einen Ausweg gibt: das Versumpfen im feuchten Keller. Dort hat Blixa sich nach einer Begehung der einzelnen Stockwerke ein durchaus behagliches Plätzchen in diesem Haus einzurichten gewußt, das „Untergeschoß“, was sowohl vor Koketterie stinkt, wie es korrekt und detailliert das Selbstverständnis von Underground in seiner ganzen Problematik beschreibt. Im ersten Geschoß, so heißt es, leben die Blinden, die glauben, was sie sehen, und die Tauben, die glauben, was sie hören, im zweiten Rauhfaser-tapezierten Geschoß stehen einzelne Mieter herum und suchen an den Wänden nach Rechtschreibfehlern, im dritten, nie fertiggestellten Geschoß liegen die Irrtümer und gehören der Firma, und im vierten wohnt der Architekt, der in seinem Plan aufgeht – übergehen wir den klerikalfaschistischen Foltersaal, so meine Lesart, im Erdgeschoß, auch den alten Mann und die toten Engel im Dachstuhl, dann kommen wir im Epilog zum Keller: dort lebt Blixa: „Der Keller ist feucht und angenehm. Hier lebe ich. Dies hier ist dunkel. Dies ist ein Schoß.“ Was existentiell Schoß ist, ist kulturpolitisch Idylle, gesellschaftlich Reservat, ist Underground und hat nur einen Sinn, wenn seine beschützten Kinder Brände legen und Neubauten zum Einsturz bringen. Angriff von zwei Seiten: Feuchtigkeit und Feuer, die Feinde des Festgefügten. Schoß-Geschoß-Geschoß – das ist natürlich hart an der Grenze, dem zu Unterwandernden aufzusitzen: Haus der Sprache, Abteilung etymologistische Assoziationspoesie und Heideggerismus. Aber anders geht es wohl sowieso nicht.

Haus – noch so ein Urwort. Zur Zeit lebt es in unerwarteter Weise auf. Alles ist Haus. Europa zum Beispiel. Den postmodernen Machern liegt das Haus als Metapher ebenso nahe, wie seinerzeit allen autonomistischen und alternativen Hippie-Revolutionären zuvor der Garten aus Wurzel-, Baum- und Wucher-Metaphorik. Haus ist selber schon Lüge. Anfang der 80er sprach man nur noch von Bauten, was korrekt den administrativen und/oder repressiven Charakter aller Architektur bezeichnete. Die konnte man zum Einsturz bringen. Dann sprachen alle vom Haus. Die Disco wurde zum House, zum Beispiel. Die Vogueing-Truppen nennen sich House of. House-Sound in the House. Und mancher erinnert sich an Jim Morrison als „spy in the house of love“ – vor knapp zwanzig Jahren. Gegen das Haus der Lüge und die Lüge vom (gemeinsamen) Haus ruft Blixa in einer spiritistischen Sitzung einen alten Mann an: van der Lubbe. Er wohnt im Keller der deutschen Geschichte und im Keller von Texten, die in Worten und Begriffen auf und abgehen wollen wie in Häusern. „Marinus, Marinus“ (ohne seinen dekorativen Vornamen hätte man sich seiner vermutlich nicht erinnert). „Nur die halbe Welt ist Telefon und Asbest / Der Rest ist brennbar“.

Nach wie vor bejahen die Neubauten den Verfall aus mehr als politischen Gründen. Aber das ist keine Philosophie, kein Ersatz für Politik, das ist das Bestehen auf der Energie und der Idee von Rock-Musik, von Musik überhaupt. Marinus war es nicht, sagt Blixa, es war König Feurio. König Feurio ist die Hoffnung gegen das Haus der Lüge. Reiner Luxus danach zu fragen, wer was für wen in welchem Interesse niederbrennt. Die Einstürzenden Neubauten stehen sowieso gegen eine Übermacht aus Millionen konstruktiven Deutschen und Milliarden postmodernen Machern und Häuserbauern. Das Niederbrennen der konstruktiven sich in Häusern einbunkernden, andere in Häusern einsperrenden deutschen Tendenz, die jedes Wort, das im Haus seiner Sprache wohnt, infiziert hat, kann nur über die deutschesten und hohltönendsten dieser Bewohner verlaufen. Denn dafür ist Blixa, sind die Neubauten immerhin noch genügend Pop, um zu wissen, daß das einzig Wahre im Haus der Lüge eben die Lüge ist. „Denke mich zuende“, fordert Blixa Bargeld in „Hirnlego“.

Lustig in diesem Zusammenhang, daß ein Leserbriefschreiber vor einiger Zeit einen Text von mir als gegorene Pferdepisse beschimpfte. Das ist genau richtig. Gegorene Pferdepisse ist hier das (Cover-)Bild für ausgepißtes Hirn aus alten Wörtern, die aber schließlich und dennoch genau die Balken und Estrichböden sind, wo man die Lunten anlegt. In ihnen ist kein Leben mehr, im Gegensatz zu den meisten fremden Wörtern, aber noch jede Menge Macht. Dieses Zündeln entspricht weder hoffnungsvollen Strategien der Subversion, an die alle Beteiligten vielleicht mal geglaubt haben, noch entsprechen sie den Methoden von etwa Kiefer oder Syberberg, mit denen man sie verwechseln könnte. Es ist eher ganz einfaches klassisches Rock’n’Roll-Zündeln, aber im Gegensatz zu dessen üblichem Vorgehen mitten in einem für Rock’n’Roll normalerweise versperrten, peinlichen, schweren und bösen Zusammenhang, in den deutsche Musik genauso hinein und hinab muß, wie amerikanische zu Robert Johnson. Free Your Mind, sagt George Clinton, Your Reichstag Will Follow.