Platte des Monats: Utopie und Verblödung

Sonic Youth sind aus New York und auf den ersten Blick durch die besonderen kulturellen Verhältnisse der Stadt zu erklären: die klassischen East-Village-Bohemiens mit den halblangen Haaren, den Sonnenbrillen, den zeitlosen, und den ähnlich zeitlosen Streifenhemden courtesy by Paris 58. Kim Gordon hat Kunst- und Filmkritiken für das renommierte Artforum geschrieben, Lee Ranaldo tritt mit Endlos-Schlaufen und anderen Experimentalmusikkonzepten nebenbei auch solo auf, nur der blonde Thurston Moore scheint sowas wie ein normaler, unerzogener, amerikanischer Rock’n’Roller zu sein, die Schlagzeuger wechseln ständig, aber die Geschichte ist doch wesentlich komplizierter: Ganz früher haben sie bei dem Komponisten Glenn Branca gelernt und gespielt, ein Bild des Kölner Künstlers Gerhard Richter sehen wir auf dem Cover, es stellt eine Kerze dar, die Platte ist eine Erleuchtung, auf der Rückseite ist eine andere Kerze von Richter, denn es ist ein Doppelalbum.

Als ich 1982 noch für Sounds die erste Sonic-Youth-Platte vorstellte, wertete ich sie als einen nicht ungelungenen Versuch, der in New York ansonsten vorherrschenden Rap-Szene durch eine eigene Rezeption des britischen New-Wave-Gitarrenstils, besonders der Liverpooler Sorte, noch etwas Originelles entgegenzusetzen, das nicht in die sattsam bekannten weißen Underground-Klischees fällt. Es war eine Aneignung der als depressiv verschrienen und, nicht ganz zu Unrecht, als Stimmung förderlich und Gedanken feindlich geltenden Musik von Bands wie Echo & the Bunnymen, aber auch Joy Division, die als im übrigen wesentlich langlebigere und wohl auch kommerziell erfolgreichere Antwort auf den britischen Punk-Rock die Musik der frühen 80er des Vereinigten Königreichs prägte (und aus der auch in einem gebrochen epigonalen Verhältnis die heutigen Super-Stadion-Abräumer U2 hervorgegangen sind). Diese Musik wurde im Lande, aber auch hier, als genuin englischneblig empfunden, dabei vergaß man, daß die Uridee – nämlich die Rhythmusgitarre in den Vordergrund zu stellen und höchstens durch eine weitere zu ergänzen, die dasselbe spielte oder in einem harmonischen Verhältnis zu dieser sich befand, der Verzicht also auf die Leadgitarre und dazu eine harmonische Armut mit allenfalls querschlägerartig dazwischenschießenden gitarrentypischen Obertönen und Flageolett-Effekten, einen weiten Raum für eine rhythmische Verzahnung aufmachend, einen Groove, der weder schwarz funky, noch der plumpe Groove des Rock’n’Roll war – aus Amerika gekommen war, namentlich aus New York, von jener sattsam legendären Band Velvet Underground, die zwar immer ihre einflußreiche Bedeutung für Nachgeborene wahren konnte, aber doch 1980 nicht mehr so direkt nachgemacht werden konnte, und also auch nicht so präsent war wie dann in kulturell weniger bewegten Tagen wie 84, 85 in England.

Diesen Groove holten Sonic Youth sich zurück nach New York, in die Mitte der unter dem Namen No New York in den späten 70ern bekannt gewordenen Minimal-Rock-Schule. No New York betrieb die scheinbar logische Fortsetzung einiger Punk-Theoreme, ohne sich klargemacht zu haben, daß das, was man an Theorie vom Punk-Rock ablesen konnte, eben nicht sein Wesen war. Dazu war das Grundmaterial, das Punk-Rock bearbeitete, in sich schon zu widersprüchlich und rückstrahlend, um so weiter behandelt werden zu können, einfach verdoppeln und verdreifachen (die Reduktion, die Lautstärke, die schlimmen Worte, den Lederanteil an der Kleidung etc.) – und dennoch waren die Resultate dieser Bewegung nicht uninteressant, wie so vieles im Fleisch der Kunst, das in seiner Theorie auf falschen Prämissen aufbaut, aber von ihrer Methode her eher zu kurzlebig, so daß sie die Sonic-Impfung brauchten, die das reduzierte, bewußt herzlose Geschrammel mit codierten Gefühlen auflud, die man gar nicht so genau kannte (weil sie, wie gesagt, typisch englisch waren und der Code ein verbauter amerikanischer), so daß sich wieder eine kleine und auch vielleicht damals theoretisch falsche (die Pop-Musik hat in den achtziger Jahren ihr theoretisches Zeitalter durchlaufen, das ebenso nötig war, wie jetzt sein Ende nötig wird und sich abzeichnet. Im Sinne dieses theoretischen Zeitalters war es falsch, im Sinne des Aufbaus dessen, was danach kommt, war es richtig), aber eben dennoch wenigstens in kleinen Dosen nötige Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit im Zustand des ewig oppositionellen Art-Rocks als Rückgrat etablieren konnte.

Diese Kraft hat nicht nur Sonic Youth selber gut getan, sie hat geholfen, im Laufe der 80er Jahre in Amerika einen Geist zu etablieren, von dem jede Menge neue Ex-Punk-Bands und nicht nur die offensichtlichen Imitatoren von Sonic Youth profitieren. Wichtiger aber noch als das mag sein, daß sie ihre Mission als Underground-Band nie auf den Underground beschränkten, die Orientierungspunkte von Sonic Youth waren immer die Beatles und Madonna. Die Anzahl der Madonna-Huldigungen und Madonna-Widmungen durch Sonic Youth war schon im ersten Erfolgsjahr der gleichaltrigen, aus der gleichen No-New-York-Art-Szene hervorgegangenen Sängerin enorm, und all die kritischen Underground-Kolumnisten, die darin eine köstliche Ironie ausmachen wollten, mußten wieder enttäuscht ihre Mikrophone einpacken. Sonic Youth sind Madonna-Fans, sie sind eine Pop-Band, und nur weil Pop für sie und heutzutage nur in einer Art erweiterter Underground-Szene stattfinden kann, muß man die Overground-Pop-Kultur nicht nur nicht ausschließen oder verachten, sondern darf dies nicht und hätte nichts von der Lektion des theoretischen Pop verstanden, am wenigsten dann, wenn sie das erreicht, was man auch selber immer nur wollte, das Aufzeichnen und Verewigen der kleinen, krächzenden Gedanken.

Niemandem ist es besser als Madonna gelungen in diesem Jahrzehnt, sich selbst, mit allen Unzulänglichkeiten auch im Sound, im Sinne also der ganzen Trash-Ethik und -Ästhetik des Rock-Underground zu verwirklichen. Schließlich mußte die Band Ciccone Youth gegründet werden, benannt nach dem Nachnamen von Madonna, und das waren Sonic Youth mit Musikern von Black Flag und Minutemen, den beiden anderen wichtigsten Gruppen der USA in den 80er Jahren. Ciccone Youth nahmen für eine Single eine Version von „Into The Groove“ auf (die Hip-Hop-Version auf der B-Seite macht im übrigen klar, daß SY nicht den latenten Rassismus der üblichen weißen Underground-Avantgarde teilen, sondern auch in dieser Musik nicht nur bewandert sind, sondern – auch in anderen eigenen Produktionen – auf im Hip-Hop entwickelte Produktionstechniken zurückgreifen).

Auf einem angekündigten Doppelalbum als Ciccone Youth wollten sie sich ursprünglich ihrem anderen Pop-Forschungsgebiet widmen, den Beatles und das Weiße Album Stück für Stück nachspielen. Dies erübrigte sich aber nicht nur, weil das slowenische titoistische Pop-Forscher-Kollektiv Laibach bereits das gesamte Album Let It Be nachspielte, sondern weil sich das, was Sonic Youth tun, niemals in der einen Dimension so eines postmodernen Konzept-Spielchens erschöpfen kann, daher wurde jetzt das noch nicht erschienene White(y) Album auch noch für andere Ideen freigemacht, wie z. B. eine Aufnahme, die Kim Gordon und ihre Freundin gemacht haben, während sie sich über besonders coole Platten unterhalten, die dann im Hintergrund laufen, u. a. von der alten deutschen Underground-Gruppe Neu („Two Cool Chicks Listening To Neu“). Ein anderer Bestandteil der Ciccone-Youth-Platte sind Aufnahmen, die in Kaufhäusern in kleinen Singalong-Kabinen gemacht wurden, wo man für wenige Dollar einen Automaten die eigene Stimme zu einem aktuellen Hit aufnehmen und in der erweiterten Version sogar vor einem ausgesuchten Tapetenhintergrund sich selbst im eigenen Do-It-Yourself-Clip zum Hit darstellen lassen kann.

Dies alles aber erzähle ich nur, um ein Bild von einer Gruppe abzurunden, die die wichtigste dieser Dekade sein könnte, die sich durch eine Vielzahl von Aktivitäten, Äußerungen, Stellungnahmen in den verschiedensten Medien (CD, Video, Maxi, LP jeweils ausschließlich und nicht wie sonst üblich jedes Produkt in jedem Format) als geschmacks- und stilbildend erwiesen hat, die eine Menge junger Bands entdeckt und gefördert hat, die heute zurecht Erfolge haben wie Dinosaur Jr. oder Das Damen, gäbe es nicht ein Problem, nämlich, daß es von ihnen bisher kein Meisterwerk gab: Ob ausgesprochen oder unausgesprochen diskutieren ja diverse wichtige Leute in der Musik das Problem des Meisterwerks, die letzten Arbeiten von Laibach und der Weiße-Album-Versuch von Sonic alias Ciccone Youth gehören ja auch in diese Reihe. Dies ist natürlich ein Problem für Leute, deren musikalischer Start aus einer Zeit des Dekonstruktivismus, des Kults des Fragmentarischen, einer Underground-Ethik der herumliegenden kleinen Hinweise, gerichtet gegen die Supergruppen mit den teuren Superalben, datiert, die aber andrerseits als Musikfans natürlich von den Beatles kommen, von der Zeit, als man über Meisterwerke und definitive Platten Geschichte schrieb und via diskutierbare Erfolge, Platten die jeder kennt, Tatsachen schuf. Als Pop-Fan will man Verbindlichkeiten.

An diesem Punkt haben Sonic Youth genau das gemacht, was sie tun mußten, im doppelten Sinne ein Meisterwerk, zum einen, weil sie sich diesen Gestus, nach dem sie oft genug mit ihm gespielt, über ihn nachgedacht, ihn versuchsweise angenommen haben, um ihn wieder zu verwerfen etc., jetzt auf eine Weise leisten können und müssen, die weder ironisch, kritisch sein muß, noch die eigene Vergangenheit zu verraten braucht, denn dies ist ja ein Underground-Meisterwerk, das all das enthält, für das Sonic Youth in the first place angetreten sind: Zerrissenheit und Intensität einerseits und grelle Wirksamkeit, Härte und Nachdrücklichkeit durch die monotone leadgitarrenfreie Soundmauer andrerseits. Zum anderen ist dies ein Meisterwerk im allgemeinen Sinne, die erste problemlose, adäquate Realisierung der Sonic-Youth-Entwürfe auf einem Produkt, einem Doppelalbum, vom fast schon britischen Popsong am Anfang, den sich SY zum 30-jährigen Geburtstag beziehungsweise dessen Überschreitung durch die meisten Mitglieder geschenkt haben, „Teen Age Riot“, bis zu der eine LP-Seite füllenden „Kissability Trilogy“ mit ihrer Verbeugung vor – ausgerechnet – ZZ Top. So paradox wie die Idee eines Underground-Meisterwerks in Anführungszeichen auf der Ebene der Independent-Label, auf denen fast alles Nennenswerte seit fünf Jahren stattfindet, mit ihrem Ethos der Kleinheit, des Minoritären, bislang geklungen hat (obwohl es ja durchaus schon einige gab: Hüsker Düs Zen Arcade, SWAs XCIII, This Nation’s Saving Grace von The Fall etc.), so paradox ist das Thema der Sonic Youth Doppel-LP, die Beschreibung eines Realitätsverlustes, einer eskapistischen Kultur, in einer Art teilnahmslosen Entsetzen, sprachlich, musikalisch umgesetzt in eine Musik, die ihrerseits zu einem Realitätsverlust einer anderen Art einlädt, einen Eskapismus positiv besetzt, verherrlicht. Doch auch das ist nicht nur paradox, es ist in dieser Klarheit die definitive Lösung eines Urproblems der Pop-Musik, die nämlich einerseits immer am allerschnellsten und genauesten die bad news aus der realen Welt transportieren muß, andererseits immer das Sicherheben über die bad news fordert, das Über-die-Verhältnisse-Hinwegtanzen, -träumen, -grooven. Davon handelt Daydream Nation, indem es immer die bad news fast teilnahmslos von den drei Nichtsängern der Gruppe runternöhlen läßt, die darin bestehen, daß die Leute bad news gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, während andererseits die Musik nur dazu auffordert, auf alle Fälle ein besseres, reicheres Leben zu führen. Dabei ist es nie des Amtes der Pop-Musik gewesen, zu sagen, wie das geht, und sie darf nie nicht zu Drogen auffordern, Pop-Musik muß das immer tun, weil sonst überhaupt niemand mehr ein besseres Leben sich vorstellen und wünschen und zumindest beim Tanzen, Musikhören und Drogeneinnehmen ahnen kann.

Daß die Popmusik damit selber zum Zustandekommen von Daydream-Nation beiträgt, ist von ihr immer entweder ignoriert worden oder hat zur Kastration oder Selbstkastration geführt. Im Falle Sonic Youth ist weder das eine noch das andere der Fall, das Paradox wird aufgelöst und in seine Bestandteile zerlegt, die guten Eigenschaften der Popmusik gefeiert und ausgebaut, die schlechten zur Kenntnis genommen und dennoch nicht bejammert oder kastrativ in ein freudloses Zurkenntnisnehmen transformiert oder das Ganze verworfen, weil ihr Schlechtsein nicht die Schuld der Popmusik ist, sondern der Welt, in der sie lebt, denn die trägt die Verantwortung dafür, daß man Drogen nehmen muß, um sich wohl zu fühlen, die Musik sagt nur: Feel alright! Die Dialektik von Utopie und Verblödung, von gutem Traum und Dämmerzustand wird in der Musik ausgetragen, in der Gegenüberstellung von den sich widersprechenden und dennoch gegenseitig bedingenden Elementen, nicht nur als krasse Gegensätze, wie das auch schon andere gekonnt haben, sondern als eine neue, vorher nur in Andeutungen existierende, vervollkommnete musikalische Sprache, die beides enthält, insofern als sie Dionysos die Möglichkeit gibt, auch das Problem des Alkoholismus zu bedenken, ohne aufhören zu müssen mit Saufen.