Pop ’84: Spektakuläre Neuordnung der sexuellen Identität

1984 – Der große Frust oder kein Jahr der Entscheidungen? Immerhin war Sex das große Thema in der Popmusik. Androgyne oder schwule Musiker wie Frankie Goes To Hollywood, Prince, Michael Jackson und Bronski Beat dominieren die Hitparaden. Heavy Metal erlebt ein Comeback, Rap ist tot

Es war keine Season Of The Witch, kein Age Of Aquarius, nicht einmal ein Eve Of Destruction, geschweige denn das Year Of The Decision. Möglicherweise war es das Year Of The Cat. Aber immer, wenn man konstatiert – und auch ich habe dies oft und gerne getan –: Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten, lügt man sich doch nur genußvoll in die Tasche. Um den Terror des Mittelmaßes wenigstens durch ein Gefühl der Verlorenheit, der Tragik und des Ausgeliefertseins zu romantisieren.

Die einzige von mir geschätzte „Tango“-Kollegin, Frl. Bühler, hat schon Zeilen aus der definitiven Platte und dem definitiven Song des Jahres 1984 zitiert. Ich will dies vervollständigen und vor meinen Jahresrückblick setzen: „Let me try to explain my generation / in a way that Fitzgerald did / we don’t pretend to know everything / or talk out loud / like our parents did / We’re not Beat / We’re not hip / We’re the brave generation / What a trip.“ Das sind Worte aus dem Lied „Brave Generation“ von der Gruppe Green On Red und stammt von ihrer in Deutschland am leichtesten verfügbaren LP „Gravity Talks“ (auf Rough Trade Deutschland). Musikalisch erinnern sie an die mittlere Phase Bob Dylans (zwischen „Subterranean Homesick Blues“ und „Blonde On Blonde“ vor allem an jene Platten, bei denen Al Koopeer arrangierte und an Piano/Orgel saß), aber man erspare mir, darüber etwas Theoretisches zu sagen, außer dieses: Green On Red, aber auch The Gun Club, The Dream Syndicate und die anderen wichtigen US-Gruppen kann man nicht verstehen, wenn man sie zusammenbringen will mit den britischen Neo-Rockits-, Neo-Weinerlich-, Neo-Ehrlich-, Neo-Direkt-, Neo-Echt-, Neo-Wir-benutzen-keine-Synthesizer-Bands wie The Alarm, The Smiths, U2, Big Country oder dem diesjährigen Modell von Aztec Camera.

Wir kommen vielleicht weiter, wenn wir meine Lieblingsfilme des Jahres 1984 betrachten: „The Big Chill“ („Der große Frust“), „Repo Man“ und der neue Rohmer. Also Filme mit Menschen, die ernst und selbstironisch die Trümmer einer brauseköpfigen Jugend zusammensammeln und neue Ordnungen suchen. Filme, in denen Menschen gezeigt werden, die anständiger sind, weil sie mal die Revolution wollten, ohne deswegen heute noch an die Revolution glauben zu können. Und Revolution muß nicht nur die politische Revolution sein. In Eric Rohmers Film geht es einfach darum, wie wohl eine junge Frau heutzutage ein anständiges Leben führen soll. Und irgendwie geht es einfach nicht. Aber das macht nichts. Und darüber muß man nicht einmal weinen. Wir sind eine tapfere Generation, und wir beklagen uns nicht einmal darüber, daß irgendwelche Naivitäten sich nicht durchsetzen lassen, denn „we’ve never been to Vietnam, but we’ve seen the eyes of their dead“ (Green On Red). Wir, die Zwischengeneration, die den aufgescheuchten Nihilismus der Punk-Generation ebensowenig nötig hatte, wie sie die religiösen oder politisch-religiösen Euphemismen der Hippie-Generation ernst nehmen konnte, wir, die wir uns durch die Talking Heads und ABC, Human League und John Cale, Coltrane und Beach Boys vertreten fühlten, wir haben das Stadium erreicht, wo wir Musik machen und hören, die davon handelt, Eltern zu werden. Und das klingt komischerweise psychedelisch.

Bei den Jüngeren, die ja immer den Ton angeben, hat sich eine klassische Beatles-versus-Stones-Situation entwickelt. Culture Club in England, Michael Jackson in den USA sind die Beatles, Frankie Goes To Hollywood und Prince sind die Stones, auffallende Gemeinsamkeit: Bei allen vier geht es um eine spektakuläre Neuordnung der sexuellen Identität des Pubertierenden. Wobei es völlig unwichtig ist, was die Message ist. Lediglich Unsicherheit und Beweglichkeit sind entscheidend. Die Diagnose, daß die Pop-Musik dabei sei, Sex aus ihrer Welt zu verbannen, eine Erkenntnis, die die geschätzten Kollegen von „Spex“ neulich per Titelgeschichte verbreiteten, und zwar anläßlich der „Ich ziehe eine gute Tasse Tee vor“-Bemerkung von Boy George, scheint mir völlig verfehlt. Es gibt bloß keine sexuellen Selbstverständlichkeiten mehr, nicht in dem Sinne, daß alles erlaubt ist, sondern in dem Sinne daß keiner weiß, ob es überhaupt noch relevant ist, daß irgend etwas nicht erlaubt sein könnte. Die dreifältige Message von Frankie, die da lautet: Nimm Sex nicht so ernst (Text), ficke traditionell und stumpf (Musik), Schwule haben mehr Spaß (Image), ist sicher die einfachste und die letzte, die noch an einer Verbot/Tabu/Konvention-Idee von Sexualität interessiert ist. Boy George verkörpert die Idee, daß nach allen Revolutionen, allen Kämpfen, allem schweißtreibenden Gerangel die Liebe zurückkehre, „aber an einen anderen Platz“, als „Transgression der Transgression“ (Barthes). Der alte Soul-Traum, die Supremes-Utopie, das „Lexicon Of Love“ das O’Dowd als einziger von ’82 mit herübergerettet hatte. Die anderen haben an Niveau verloren (Haircut 100, Heaven 17, Aztec Camera) oder sind trotz großartiger Leistungen (ABC, Orange Juice) an der flatterhaften Öffentlichkeit gescheitert.

Wesentlich diffuser gestaltet sich die Sex-Diskussion in Amerika. Michael Jacksons Soul-Vision ist nicht idealistisch und utopisch, nicht in einem der Theorie und der Geschichte aufgeschlossenen Klima entstanden, wie es im England Boy Georges herrscht. Er lebt in einem Kindergarten, dessen Hecken, Büsche und Bäche von AIDS verseucht sind. Er hat Spielberg und Disney bekanntlich nicht als großartige Inszenierungen aufgefaßt. Er glaubt jedes Wort. Er weiß es nicht anders. Und alles andere ist AIDS. Tragisch-irreal, und die höchste Form von Dekadenz, in der westlichsten, verworfensten Ecke der Welt. Dagegen ist die ganz normale urbane Verirrung bei Prince: Man – Woman. Desire. Promiskuität. Von allen vieren ist er der unsympathischste. Er gehört zur neuen Zeitlosigkeit, zu Filmen wie „Straßen in Flammen“, zu einer Sicht, die, schlimmer als der Seeger/Springsteen-Mythos der 70er, einer einzigen, nivellierenden, gemischtrassigen, motorradfahrenden „Rock’n’Roll-Fantasy“ das Wort redet. Und Bruce Springsteen ist ja pünktlich wieder auf der Bildfläche erschienen, nicht ohne ein „mutiges“ Anti-Reagan-Statement zu entbieten. „Das Jahr, als Mark Knopfler Aztec Camera produzierte“ (zu singen nach der Melodie von „The Night They Drove Old Dixie Down“).

Dennoch ist einem Prince – Prince, der dick auftragende, Prince, der Hendrix-Fan, Prince, die Kreuzung aus James Brown und Liberace – im Prinzip doch ganz sympathisch. Man kann nur die Stimme nicht mehr hören. Im Verschleiß-Vergleich unterliegt sie Michael Jacksons um Längen.

Auch James Brown kam bekanntlich zurück. Daß er der böse, schwarze Mann bleibt und damit gut, ist keine Frage. Ebensowenig ist ihm vorzuwerfen, daß er den behäbigen Mister-T-Darsteller und Ex-Rap-Innovator Afrika Bambaataa als Geraldine Ferraro auf das Ticket gesetzt hat. Aber man kann auch sein „Unity“- und „Peace“-Geblöke nicht länger ertragen, dann fast schon eher sein „mutiges“ Pro-Reagan-Statement. Die Schwarzen stellen zur Zeit den größten Teil der amerikanischen Armee. Die reale Lage würde eine schwarze Revolution möglich machen. Aber nie waren sie weiter davon entfernt. Auch Schwarze Musik ist 1984 schwersten Abnutzungserscheinungen ausgesetzt. Was nicht nur mit dem Breakdance-Media-Overkill zu tun hat. In ein paar Jahren wird man sich darüber ärgern, jetzt nicht besser aufgehört zu haben, und Sachen entdecken, die man überhört hat, wie ihrerzeit Graham Central Station.

„Die Zukunft heißt Wildwest“, schrieb Michael Ruff prophetisch in 1/83, der berühmten letzten Nummer. Und er schien recht zu behalten. Mit Beat Rodeo, Rank And File und Rubber Rodeo haben drei Vertreter der Richtung veritable Massenmedien auf sich aufmerksam gemacht, Verträge bei Majors und Tourneen entweder schon absolviert oder für die nahe Zukunft angekündigt. Als alter Anhänger des ersten Country-Revivals, sofern es die New Riders Of The Purple Sage, The Flying Burrito Brothers und die „Sweetheart Of The Rodeo“-Byrds betrifft, habe ich auch dieses neue zunächst begrüßt, egal ob mehr traditionsbewußt ernst wie bei Rank And File oder Pop-Country wie bei Rubber Rodeo. Interessanter sind die amerikanischen Bands, wie die erwähnten Green On Red, aber auf ganz andere Weise auch Shockabilly (Genies!) oder die unzähligen Velvet Underground/Country/Punk-Mischungen wie die S-Haters, die die nach den Violent Femmes und The Band den Marsch durch alle Genre-Institutionen der letzten 20 – 100 Jahre angetreten haben. Der real american underground. Unser Hauptverbündeter gegen den lieblosen, willenlosen Muddelpop, ob er nun von Alphaville, Depeche Mode, Eurythmics, Bronski Beat, Ray Parker jr. oder Falco kommt.

Inzwischen ist ja, wie der Erfolg der letzten beiden beweist, aus dem guten Zitieren nicht nur das schlechte Zitieren geworden, sondern eine Form von übelriechendem geistigem Diebstahl: Der elende Falco hat seine „Jungen Römer“ aus Bowies „Fascination“ und „Ashes To Ashes“ zusammengesetzt, Ray Parkers „Ghostbuster“-Thema ist genau 60 Prozent „Pop Muzik“ und 40 Prozent „Don’t Stop Till You Get Enough“, Michael Jacksons Meisterwerk.

Um den politisch sauberen Cocktail kämpft, rechtschaffen bemüht, musikalisch abwechslungsreich, aber verteufelt uncharismatisch Paul Wellers Style Council, während der Erfolg der Siegerin an der Cocktail-Front, Sade, für Londons arrivierte dunkelhäutige Teenager soviel bedeutet wie die Wahl Vanessa Williams’ für die schwarze Mittelklasse der USA. Immerhin haben in ihrem kommerziellen Schatten auch die famosen Ben Watt und Tracey Thorne mit ihrer Gruppe Everything But The Girl den WEA-Vertrag abstauben können.

Manche glauben auch, ich flirte zuweilen mit der Idee, Heavy Metal, jedenfalls in seiner lustigeren Form bei Hanoi Rocks, Twisted Sister oder Lords Of The New Church, sei die Lösung unserer Probleme. Hier kann man nur bedingt mit Ja antworten. Nach langer Abstinenz mundet so eine geile Grobheit sehr gut, kann aber nicht als abendfüllend geschweige denn zukunftsweisend betrachtet werden. Billy Idol, sattsam im Düsseldorfer Exil gehörter Heavy-Punk-Star, füllt kaum ein Vorabendprogramm, die Lords stehen natürlich darüber (vgl. letzte Nummer) in ihrem einsamen Magick-Wahn (der letzte Musiker, der es zu intensiv mit schwarzer Magie hatte, Graham Bond, bekam irgendwann nach einem Vergehen von seiner Sekte einen Fetisch in die Hand gedrückt und starb unter einer U-Bahn) sind sie für mich das, was Billy Idol für das Volk ist. Und Twisted Sister haben einen guten Fußball-Gesang hinterlassen.

In der Dunkel-Zone des britischen Underground. Dort, wo sich die Phantasien nicht angepaßter, gestylter Teenager ausleben. Da, wo erst Joy Division, später das Positive-Punk-Movement hockte, residiert heute souverän das 4-AD-Label. Der Kult ist aus Manchesters „Factory“ heimgeholt worden in die Metropole. Zum ersten Mal gefällt auch mir eine Musik aus dieser Nische, nämlich das 4-AD-All-Star-Album, das unter dem Namen „This Mortal Coil“ aufgenommen wurde. Das erste Dokument davon, daß jugendliche Beklommenheitsmusik ihre Pforten der Historizität geöffnet hat. Die Underground-Musiker versuchen sich hier nämlich fast ausschließlich an übrigens äußerst geschmackvoll ausgewählten Coverversionen. Etwas, was 1984 übrigens jeder tat.

Aber. Ist das meine Tasse Bier? Ich suche die Freunde unter den Musikern, die es schaffen, schon im Moment der Produktion Nostalgie auf den Augenblick, Nostalgie nach der Gegenwart zu erwecken. Und zum größten Teil waren das auch dieses Jahr wieder alte Freunde: John Cale mit seiner Heavy-Show, der glücklich verheiratete Mark E. Smith mit seiner nie ermüdenden Bauern-Velvet-Underground The Fall. Manchmal war es sogar Nick Cave, die gespaltene Persönlichkeit, die sich nicht zwischen Dr. Morrison und Mr. Cale entscheiden kann, aber auch für mich oft genug John Cales großer australischer Sohn ist. Aus demselben Land kommen meine liebsten Propheten des neuen Ernsts: die Go-Betweens. Sie sind so schier und pur ernst und gegenwartsnostalgisch, deswegen so neu und fremd wie zuletzt die frühen Talking Heads. Und mein Mann des Jahres ist Jonathan Richman, der wahre Freund, der dieses Jahr sogar nach Hamburg kam und den Hamburgern sagte, wie das doch so rundum schwere Leben, das auch sie zu führen haben, ein rundum feines sein kann.