Warum hören wir Musik? Um nicht zu einsam zu sein. Die Musik kommt in der Nacht und sagt: Du bist nicht allein. Aber warum ist einer allein? Weil er ein kleiner Held ist, anders als die anderen. Die Musik muß also darüberhinaus sagen: Du bist anders als die anderen, gerade deswegen bist du allein, aber weil du anders bist, kannst du, nur du, mich verstehen; denn ich bin der einzige der auf die gleiche Art anders ist wie du selbst. Und nur wir zwei sind Verbündete, in dieser Nacht.
Die Aufgaben der Pop-Musik in Sachen Betreuung kleinbürgerlicher Egos übertreffen bei weitem die eines Girlfriend. Ständig ist sie dem Paradox ausgesetzt, überall in der Welt Einsamkeiten zu bekämpfen, während gleichtzeitig der so behandelte Patient nichts davon merken darf, daß es anderen genauso geht wie ihm, daß andere auf die gleiche Weise in anderen Schlafzimmern von der gleichen massenproduzierten Platte kuriert werden.
Prefab Sprout sind so fein und fragil, daß sie nur feineren Geistern gefallen können und die sich meist dann auch die mit den ganz besonders kleinbürgerlichen Sorgen und den meistens Verwirrung zeitigenden Erfahrungen der höheren Bildung begegneten. Demgegenüber steht in der Pop-Musik unserer Tage eine Kids-R-United-Bewegung, die nicht von Kids, sondern von erwachsenen Amerikanern getragen wird und deren Held, Springsteen, sagt, daß alle in seinem Publikum seien wie er. Sonst würde er aufhören. Ein Proletariat, einig in der Tautologie, daß der Mensch ein Mensch ist, dem aber keiner mehr sagt und daß auch nicht mehr von sich aus sagt, daß das allein genüge, um was zu Fressen, bitte sehr, zu brauchen, Stiefel im Gesicht nicht gern zu haben oder über sich keine Herrn und unter sich keine Sklaven mehr sehen zu wollen.
„Wir sind im Prinzip alle gleich und brauchen das Gleiche, aber andererseits sind wir alle allein, wenn wir sterben. Zwar müssen wir alle sterben, aber das wird dir in der Stunde deines Todes nur ein schwacher Trost sein.“ Paddy McAloon dixit. Keine Frage, daß der Mann weiß wovon er redet. Wer täglich die Füße von Wendy Smith um sich hat – oder sollte ich sagen: Füßchen? – und sich dann auch noch manchmal vorstellt, daß auch diese zarten, unwillkürlich wippenden, den großen Zeh selbstvergessen am zweitgrößten reibenden, bleichen nordenglischen Füßchen, eines Tages den Weg allen Fleisches gehen sollen, und auch noch alleine, ohne daß Paddy, dessen Freundin Wendy, die Bassistin von Prefab Sprout, ist, sie streicheln kann – das ist schon eine recht schöne, knackige Idee von Memento Mori.
„Ich schreibe meine Songs mehr oder weniger in der Isolation, wenn sie dann auf einer Platte erscheinen, habe ich keine Kontrolle mehr über das, was sie soziologisch anrichten. Ich meine, geben wir’s ruhig zu, unsere Musik gefällt Studenten.“
Proletarischer Rock’n’Roll ist sicher auf seiner statischsten, tautologischsten und einverstandensten Ebene angekommen, die Perpetuierung kleinbürgerlicher Selbstbesinnung durch intelligente Pop-Musik hat dagegen in Prefab Sprout ihren bisherigen Höhepunkt gefunden, will sagen einen Punkt erreicht, wo man nichts mehr dagegen sagen kann. Gibt es etwas anderes, das aufregend wäre?
Nein. Der dritte Weg zwischen Springsteen und Sprout, den gut stumpf-brilliante Charts-Musik des Jahrgangs League/Haircut zu begehen sich anschickte ist verbaut. Der heroische Kampf mit den Schatten der Vergangenheit, den der amerikanische Underground ficht, ist beeindruckend, aber kurz davor genrehaft in die Kneipenmusik der Zukunft umzuschlagen. Laßt uns also wieder Kleinbürger sein! Was ist doch noch gleich geworden aus dem einst so sorgsam gepflegten Ego, seit es bei irgendwelchen diskursiven Pogo-Schlachten verlorengegangen ist, wie ein paar rostige Schlüssel?
„Ich mag Van Dyke Parks. Ich mag die Songwriter der 70er Jahre. Viele Leute vergleichen uns mit Steely Dan, auch wenn das die Amerikaner wiederum überhaupt nicht nachvollziehen können. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. Die 70er waren ein sehr gemütliches Jahrzehnt, unsere Musik ist alles andere als gemütlich, sie ist sehr viel seltsamer als Ry Cooder oder Joni Mitchell, auch wenn wir es begrüßen, daß Leute die früher sowas hörten, heute uns hören und möglicherweise durch uns einen Kontakt zur Gegenwart gewinnen. Aber unsere Musik ist heute, in völlig anderen Zeiten, relevant. Andererseits habe ich auch nichts mit dem New York/L.A.-Zynismus eines Donald Fagen zu tun. Ich komme aus einem nicht sehr sophisticated Teil unseres Landes.“
Konnte sich unsere Generation eigentlich etwas schöneres wünschen, als mitten in den 80ern einer aus unseren Reihen – Paddy ist Jahrgang 57 – vortritt und eine Neudefinition des sensiblen, kleinbürgerlichen Bohemien vornimmt, eine atmosphärisch-interlektuelle Einordnung, die heute ungefähr so neu ist wie seinerzeit die, die Talking Heads uns 1977 angeboten haben. Womit haben wir das verdient?
„You surley are / A truly gifted kid / But you’re only as good as / The last good thing you did / Where have you been since then? / Did the schedule get you down? / Hear you got a new girlfriend / How’s the wife taking it?“ Kleinbürgerlicher Realismus ist allemal mehr wert als alle Versuche die Grenzen dieses Bewußtseins zu sprengen. Paddy McAloon, der Autor fragiler Melodielinien, der es nach eigenen Angaben immer noch zu sehr liebt, in literarischen oder gänzlich unverständlichen Referenzen zu schwelgen, ist kein Freund der in der Rockpoesie handelsüblichen surrealistischen Luftblasen: „Ich bin vorsichtig mit dem Wort Poesie. Es gibt ein paar Bilder in meiner Sprache, aber das worüber ich am meisten nachdenke, wenn ich Songs schreibe, ist die Frage, wie sich ein Wort zur Musik anhört. Deswegen liegen auch keine Textblätter bei ‚Steve McQueen‘. Worte zur Musik sind keine Gedichte. Das Meiste an meinen Texten sind Fakten.“
So sind Prefab Sprout: idiosynkratisch und verschroben, wie die nie gezeugte Tochter Nick Drakes und Joni Mitchells oder Laura Nyros und John Cales, und doch Freunde des Diesseitigen und Faktischen. Und das ist genau der Punkt, wo der Vergleich mit den frühen Talking Heads, die Paddy nicht mag („Ich weiß, daß sie gute Songs geschrieben haben, aber dieses Wissen hilft mir nicht im Geringsten, nicht eine Michael Jackson-Platte aufzulegen, wenn ich die Wahl zwischen beiden hätte.“) und den er nicht gelten läßt, zutrifft: Wo der Kleinbürger exakt wird und sich offensiv seinem spezifischen Gemüt, seinen Befindlichkeiten ganz akkurat nähert, statt zu versuchen, sie abzuschütteln wie Paddys anarchoide Abarten und Varianten innerhalb der Songwriter-Zunft, überwindet er die Beschränkungen dieses Gemüts. Wie Flaubert.
Woher dieses Geheimnis? Woher dieses Wissen? Gelingt es doch nur einmal in zehntausend schöpferischen Mittelschichtskindern eines herzustellen, das das Faktische, statt des Imaginären mit seinen persönlichen Abseitigkeiten konfrontiert. Liegt es daran, daß das Faktische in Paddys Umwelt von vornherein eine ganz eigene Qualität hat, die es den Welten nahebringt, die sich der normale Songschreiber erst erträumen muß. Wie Wendys Füße.
Welcher Petrarca hätte nicht gerne ein Sonett über sie geschrieben, welcher wehmütige Romancier mit vom Opium-Genuß halbgeschlossenen Lidern hätte nicht gern über die Dialektik von Niedlichkeit und Gift am Beispiel von Wendys Füßen und überhaupt ihres ganzen Wesens deliriert. Wie sie erst eine halbe Stunde schweigt, flüsternd telefoniert und überhaupt nur winzig ist, um dann mit den eher hausbacken-britischen Damen vom Management zu schwatzen und zu klatschen und sich auf die Schenkel zu klopfen wie die Bierkutscher. Wie sie rührt und Gift verspritzt, dieses postmoderne Girlfriend! Guy hätte gerne eine Kurzgeschichte daraus gemacht. Und ich tu’s auch.
Aber es ist nicht nur Wendy. Wendy, die Bassistin, die Freundin, dies ätherische Wesen, das Paddy Vorbild für seine Zeile über das Verlangen, das eine Figur wie eine Sylphe (Luftgeist) sei, das ständig seine Meinung ändert, gewesen sein könnte, nein, es ist vor allem Martin, sein Bruder. Mit dem Paddy in den frühen 70ern die Idee einer Band hatte. Zwei isolierte Personen – das ist das Geheimnis! Die Idiosynkrasien des Einzelnen – wollen sie nicht ihrem inneren Wesen nach immer am liebsten Idiotien werden? Aber zwei! Zwei idiosynkratische Brüder, die ein Jahrzehnt und länger Zeit haben, gemeinsam wunderlich zu werden und dadurch eben nicht wunderlich werden, sondern die seltene Gelegenheit haben, einem Publikum sagen zu können: Hier habt ihre unser vollkommen geschlossenes Parallel-Universum, zu dem wir euch freundlicherweise ein paar Türen – schwer zu finden, zugegeben, aber auch Theseus hatte Mühe, lohnt Kunst ohne Mühe? – ein paar Türen, doch, doch, offen gelassen haben. Eine in sich stimmige Repräsentation der Welt, die nicht nur Freude macht, indem man ihren inneren Gesetzen und Regeln nachzugehen, deren bizarre Verschlungenheiten aufzuspüren aufgefordert ist, ja eingeladen ist, sondern auch noch analog zu dieser Welt aufgebaut ist, also diese Welt erklären, in Stimmungen einwickeln hilft.
Bruder und Bruder: Grimm, Humboldt, Fogerty, Winter und Colour Box, die Kremers-Zwillinge, Rummenigge als Beispiel, wo es – Ausnahmen von der Regel nicht funktioniert, und neuerdings sogar in der Politik sehr beliebt: Vogel, von Weizsäcker … you name them! „Das Fundament unserer Band ist unsere gemeinsame Kindheit. Viele Songs sind uralt. Der Name ‚Prefab-Sprout‘ stammt aus einer Zeit, als mir Namen wie ‚Grateful Dead‘ immer so rätselhaft vorkamen und ich dachte: das muß was bedeuten. Ich wollte für unsere Spiel-Band auch solche Rätsel produzieren. „Faron Young“ stammt z.B. aus den mittleren 70em, damals haben wir in den Clubs von Newcastle gespielt und waren arrogant. Wenn man eine junge Band ohne Plattenvertrag ist, hat man das Recht, arrogant zu sein. Ich war extrem arrogant. Ich habe mich geweigert vor Leuten zu spielen, die trinken. Nicht weil ich was gegen Trinken hätte, sondern weil wir niemandem als Vorwand für billiges Amüsement dienen wollten. Bei unseren Songs sollten sich die Leute nicht amüsieren.“
Abgesehen davon, daß es schön ist zu hören, daß heutzutage jemand nicht tanzbar und unterhaltsam sein will, wie wunderbar ist doch die Vorstellung dieser sich gegenseitig hochschaukelnden Arroganz, dieser ehern-verschworenen Großfreundschaft, die Familienbande stiften kann und die eine extrem ungesund-giftige Überlegenheit produziert, die schließlich umschlägt, in die gepflegt-verschrobene Mitteilsamkeit, zu der sich Paddys Songschreiber-Ego jetzt durchgerungen hat. Es ist wirklich ein Unterschied, ob einer spricht, der in der Welt verloren auf surrealistischen Wolken treibt, um hin und wieder umso trivialer in die materielle Welt abzustürzen und meist seine Zeitgenossen auch noch mit den immer gleichen Erkenntnissen, die diese Abstürze in der Regel begleiten, behelligt, oder ob einer auf einem Berg Sinai von überwundener Kinder-Arroganz steht. Der kann dann nämlich noch so fragil und leise sein – was ja sonst in eine gefährlich öffentlich-rechtlich-sozialdemokratische Sprechweise ausarten kann – es macht nichts, hinten im Kehikopf gurrt immer noch die Kinderarroganz, diese vielleicht wichtigste Eigenschaft, die Popmusik hervorzubringen imstande ist.
Was ich weiß über Paddy, habe ich herausgefunden, als ich ihn unlängst sprach, seine kleinen, gar nicht mal sensationellen Wortschwälle, wohlwollend über mich ergehen ließ. Aber bewegt hat mich, diesen gefühlskalten, angeblich in den Trockenheiten intellektueller Orthodoxien verfangenen Menschen, „Steve McQueen“, diese zweite, gegenüber „Swoon“ vom letzten Jahr reifere, rundere, konventionell-schönere, aber auch etwas weniger verschrobene Platte, in allererster Instanz. Nicht daß ich meinen Gefühlen mehr traue als meinem Verstand, aber „Steve McQueen“ ist musikalisch so einmalig – zutreffend beschrieben allenfalls als eben desillusionierte, verfeinerte Variante des avanciertesten Songwritings der mittleren Siebziger und läßt sich eigentlich nicht mit anderer Musik vergleichen, wohl aber seine Wirkung mit anderen Wirkungen, und da sage ich gerne: Shangri-Las, John Lennon, „Hunky Dory“. Also der Effekt wo Prätention in Weisheit umschlägt, ohne sich zurückzunehmen.
Was doch immer so traurig ist. Oder?
Was ich also weiß, hat mir zusätzliche Argumente und Erklärungen für Paddys Talente und Prefab Sprout als interessante psychodynamische Einrichtung gegeben, aber ich war eigentlich vorbereitet, zu schade, daß es dafür keinen Grund gibt, euch eine andere Botschaft zu übermitteln: An der Musik von Prefab Sprout, wie auch an vergleichbar großartigen, künstlerischen Schöpfungen, gibt es eine Qualität, die ich sehr schätze. Sie sagt: Du mußt nicht gut finden, was du begehrst. Das ist nichts Neues. Was man begehrt, kann man nicht rechtfertigen, was man rechtfertigen kann, nicht begehren, eine alte dumme kognitive Dissonanz, die nur dumm brummt, wenn man sie sich einhämmert, aber wunderbar klingt, hell und blau, wenn das Objekt der Begierde selbst, nennen wir es Prefab Sprout, einem diese Möglichkeit gerade durch das offen läßt, was man an ihm, dem Objekt begehrt.
Hier wird es schwierig: Einerseits vom Berg der Arroganz, der überwundenen, herunterpredigen, andererseits in seiner Fragilität Freiheiten für den Hörer verschenken, Apodiktik und Zurücknahme, aber das ist die Dialektik von Wendys Füßen.
Paddy: „Irgendwas ist mit uns Songwritern los. Ich fühle mich normalerweie nicht der neuen Garde der Songwriter zugehörig, der Post-Costello-Generation, Roddy Frame und so, wie ich vorher schon sagte, wir sind viel seltsamer, strange und ungemütlich, aber eines verbindet neuerdings alle neuen Songwriter. Wir alle schreiben Songs über Songschreiben. Wir sind alle so bewußt geworden. Von Greens ‚Wood Beez‘ bis zu uns. Warum ist das wohl so?“
Wegen Thomas Mann? James Joyce? Wegen Wendys Füßen? Weil wir immer noch das verdammte 20. Jahrhundert schreiben, das sich in jeder Niederung und auf jedem Gipfel seiner Kultur darin gefällt, eilig ein neues META zu erfinden. Was weiß ich!
In diesen Zeiten bewußter Songwriter und allgemeiner Wiederentdeckung des verlorenen amerikanischen Kontinents, wäre es an der Zeit sich folgende Wahrheit mit allen Implikationen klar zu machen: Die einzige populäre Musikgattung, die nicht wegen der Musik, sondern wegen der Texte Tonträger-Einheiten verkauft, ist seit Menschengedenken Country & Western, Sprout haben ihre letzte Single, den besagten Oldie „Faron Young“ nach einem Country-Sänger benannt. Und sie klingt auch auf fakig-gedrechselte Art tatsächlich nach Beatnik-Bluegrass mit Zen-Bewußtsein.
„Aber ich liebe gerade die schwarze Musik. Wie banale Zeilen genügen große Gefühle zu vermitteln. Ich liebe Prince und Michael Jackson, ich begreife bis heute nicht, wie das funktioniert, daß so simple Sätze so Großes sagen können. Aber was hab ich damit zu tun, ich gehöre wohl eher zur C & W-Musik, denn ich bin ein Mann des Wortes. Andererseits ist Country-Musik immer sehr durchsichtig und oft sexistisch oder reaktionär. Der entscheidende Unterschied zwischen einem alten und einem neuen Songwriter ist die Art über Frauen zu sprechen. Alte Songwriter suchen da immer nach Beifall in der Bier trinkenden Meute.“
Es ist extrem französisch und blöd, sich für Teile von Frauen zu begeistern. Pars pro toto – in der Rhetorik eine ebenso dumme Figur wie in der Erotik. Vergleiche auch Eric Rohmer „Claire’s Knie“: der, der es begehrt, und zwar nur das Knie des ansonsten weinenden Mädchens wird im Verlauf des Films bestraft, bzw. seiner verdienten Mittelmäßigkeit zurückgegeben. Es dürfte eine weitere Qualität von Paddy McAloon sein, mehr von Wendy zu schätzen als ihre Füße.



