Martin Heidegger, Holger Poscick, Throbbing Gristle, Pyrolator, Max Rip Off, John Cage, Crass, Sabine Schwabroh, Cabaret Voltaire, Mania D, Mittagspause, Kraft durch Freude, usw, usw. Die kreisförmige Liste auf der ersten Seite dieses Jahrbuchs von Künstler/Fanzine-Macher und Ex(?)-Musiker Jürgen Kramer aus Gelsenkirchen deutet eine beeindruckende Vielfalt an. Oder Beliebigkeit?
„Für einige Teile dieser Ausgabe ist es vorteilhaft, eine Lupe zu benutzen“, fordert der Herausgeber im Impressum und drückt damit den hohen Anspruch aus, den er den Rezipienten abverlangt. In durch verschiedenfarbiges Papier kenntlich gemachten Sektionen werden verschiedene visuelle und inhaltliche Konzepte verwirklicht. Da gibts ein paar Seiten Zeugnisse alter indianischer Kulturen, dann Äußerungen Heideggers, Sartres, Camus’, und unter vielem anderem ein fortlaufendes dokumentierendes Tagebuch, wo in verschiedenen Sprachen und manchmal kokett-nachlässiger Schreibweise neue Platten, Kunstwerke, Zeitschriften – kurz alles, was Kramer an aktuellen kulturellen Ereignissen wahrgenommen hat –, aufgelistet wird, oft mit Bezugsquellen. Und nur hin und wieder wird gewertet. Dazwischen lange Zitate, z. B. ein interessantes Throbbing Gristle-Interview und andere unbekannte oder schwer zugängliche Materialien aus der weltweiten – und nun kann man bei der erwähnten Vielfältigkeit nur einen Begriff wählen – Avantgarde in jedem Medium.
Bei den durchgeführten visuellen Konzepten fällt es mir schwer, ein Konzept, eine Haltung zu entdecken. Da scheinen mir private Obsessionen oft direkt neben modischen, aber flachen Designs zustehen. Oft ist auch nicht zu erkennen, ob die Brechungen, die in der Wahrnehmung eines Objekts entstehen, wenn es in bestimmten Zusammenhängen reproduziert wird, in diesem Buch beabsichtigt eingesetzt werden, oder eben einem Zufall überlassen werden.
Aus anderen Produkten und Äußerungen Kramers ist sein aggressiver Pessimismus bekannt, seine in diesem Jahrbuch immer wieder auftauchenden Vorlieben u.a. für Throbbing Gristle und T.G.-Verwandtes grenzen seine Haltung ein und machen vieles eindeutiger. Trotzdem finde ich es manchmal unangenehm, wie Leute, die ihre Emanzipation von einem rigiden Marxismus geschafft haben, plötzlich bei Heidegger und tiefgründigem Raunen landen. Inwieweit diese Gefahr bei Kramer und bei diesem Buch gegeben ist, ist schwer zu veranschlagen.
Interessant und lohnend ist „Sans Titre“ in jedem Fall. Möglicherweise sogar unterhaltsam, wenn man sich auf den faszinierenden Kontrast von Klarheit und Verzettelungen, Vagheit und Präzision einlassen mag und eine Lupe zur Hand hat.
Erhältlich bei: Jürgen Kramer, Postfach 1142, 4650 Gelsenkirchen, 176 Seiten, DM 14,80

