Schlechte-Laune-Zen

Belgien gegen Rumänien. Ein Jahr Im Zeichen der EM-Qualifikation.

CAREY. Vor zehn Jahren hingen wir monatelang in Spanien ab. Der Wind kam aus Afrika, und nachts konnte man nicht schlafen, vermißte sein sauberes, weißes Bettlaken und kam trotzdem nicht aus dieser Touristenstadt weg. Komm aufstehen, ich bau einen Joint. Laß runtergehen in das Café und leere Rotweingläser zerdeppern. Hier ist eine Runde für die Freaks, und hier ist eine für die Soldaten. Die Amerikanerin sagt: Maybe I go to Amsterdam, maybe I go to Rome. Die Studentin aus Deutschland am Kiosk sagt zur Bild-Zeitung mit der Schleyer-Entführung: Der war aber auch wirklich ein Schwein. Find ich geil. Ihr Freund: Aber diese Methode, das nutzt doch nur den Rechten. Da sind wir dann zurück nach Deutschland. Das war der letzte Sommer vor Punk.

SEQUENCER. Gegen nichts wird in der Musik so viel Ideologie mobilisiert wie gegen Sequencer-Hardcore oder Hardcore-Disco, wie sie aus – vor allem – Belgien, aber auch Kanada, US-Provinz oder UK-Provinz kommt. Der Tod des Menschen. Verführt angeblich nicht zum Tanz, sondern zum Marsch. Müde Reprisen alter DAF-Diskussionen, die lustigen Stiefel marschieren über Polen. Diese europäische/provinzielle Antwort auf Hip-Hop hat mit ihrem scheinbar feindlichen Bruder doch eine Menge gemeinsam. Vor allem: das Personal hat immer weniger mit dem zu tun, was wir uns unter einem Künstler vorstellen, gerät, mehr oder weniger absichtlich, in einen vorausberechneten Strom von Rhythmen und Melodiekürzeln, die nun überhaupt nichts mehr zu tun haben mit der Darstellung oder Ausgestaltung von irgendetwas aus der subjektiven Welt des Künstlers, dem, was an ihm anders wäre als an anderen Menschen. Stattdessen ermöglichen Hardcore-Sequencer-Gruppen, den eigenen Körper in eine Fülle numerischer Differentialgleichungen zerfallen zu fühlen. Noch wissen die „Musiker“ dieser Richtung nicht, die ihnen von der Mathematik und den Maschinen ermöglichte Freizeit – wie ihre Hip-Hop-House-Kollegen – für zielgerichtete Investition in belgische Pendants zu Goldketten, komische Käppis und große Autos zu nutzen. Hier müßte sich das Erbe des großen Queue-Rockisten Keulemanns mit den Endlos-Figuren von Front 242 zu einem postindustriellen Schlechte-Laune-Zen verbinden.

VOR ZWANZIG JAHREN glaubte man, daß es uncool ist, ein Schwein zu sein, daß nur Penner und Versager keine KZs bauen und anschließend einen Staat, der sie wieder als Richter und Ministerpräsidenten einsetzt. Seit zehn Jahren wissen wir, daß ein Versager und Penner noch so viele KZs nicht zu bauen braucht, ohne daß es der Welt nützt, und daß es vielmehr uncool ist, wirkungslos zu bleiben, und vielmehr cool, erfolgreich und kein Schwein zu sein. Später setzte sich teilweise die Ansicht durch, daß es sogar cool ist, ein Schwein zu sein, wenn man nur kein Versager ist. Aber eigentlich wird diese Ansicht nur von Medien verbreitet, die für neue Generationen zu schreiben sich einbilden/vornehmen, nicht von denen, die von neuen Generationen betrieben werden. Ich treffe immer häufiger auf einen neuen moralischen Rigorismus. Walter Jens im Fernsehen: „Ich vermisse den alten Zuchtmeister, Herbert Wehner, in dessen Gegenwart keine Zote erlaubt war.“ Walter Jens kennt unsere Leser noch nicht.

LASS DIR NICHT ERZÄHLEN, von niemanden, wir lebten in finsteren Zeiten, das tun wir absolut nicht. Die Zeiten und die dazugehörigen kulturellen Kommentare sind seit gut zwanzig jahren gleich hell/finster. Die Menge an Wahrheit und Qualität, die unter den Bedingungen des parlamentarisch verfaßten hoch/postindustriellen Kapitalismus entsteht, ist immer gleich groß. Wer etwas anderes sagt, hat private Probleme.

VERHERRLICHUNG UND VERHARMLOSUNG. Verherrlichung und Verharmlosung von diesem und jenem soll unter Strafe gestellt werden. Alle Kunst aber ist nichts anderes als Verharmlosung und Verherrlichung ihres jeweiligen Gegenstandes. Spricht sie von dem Bösen, verherrlicht und verharmlost sie das Böse. Soll sie aber relevant sein, muß sie das ganze Leben umfassen. In Zeiten, wo Zeitgeistschweine nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen haben, sind Aktivitäten wie die von Alice Schwarzer/Emma im Prinzip zu begrüßen, nur falsch gedacht, da sie für die Bekämpfung eines Symptoms die Allianz mit denen in Kauf nehmen, die den Staat tragen, der die Entstehung des Symptoms erst möglich macht. Ihre Forderung, die Grenzen zwischen Pornographie und Kunst fallen zu lassen, die mir kolportiert wurde, ist in ihrem Fanatismus sympathisch, träfe aber mit Brinkmann, Apollinaire, Proust, Shakespeare, Bataille, Genet, Klossowski genau die, deren Schriften, auch deren pornographische (für die ich diesen Begriff ablehne), es unter anderem möglich machen, das Gegenteil und die Überwindung des Staates zu denken, der die Krankheit und die Bosheit, die unter anderem das Symptom Pornographie hervorbringt, zuläßt und fördert und notwendig macht.

DER FALTENWURF einer Samtrobe läßt sich heute nicht nur, wie schockierenderweise seit mehr als hundert Jahren, fotografieren (wo eine Maschine immer noch Wirklichkeit als Rohmaterial brauchte), sondern vom Computer ausrechnen. Eine künstlerische Existenz kommt mittlerweile fast ohne Körper aus, deswegen schlüpfen viele so hysterisch in ihre Körper und peitschen sie durch die Gegend. Wirklichkeit ist ja nichts anderes als die Wechselwirkung elastischer und fester Körper unter physikalischen Gesetzen im Raum. Und wie fühlt sich das an? Wir können von Sinneseindrücken nichts lernen, eine mehr als zweimal gemachte Erfahrung neigt tendenziell dazu, dumm zu machen. Trotzdem ist der Ernstfall (sterbliche Körper in der Wirklichkeit) im Jahre 1987 zurückgekommen, sein Vehikel war der Tod. Der Tod als der einzige Grund, vom Computer aufzustehen und sich umzuschauen. Die Regierung will das wahrscheinlich nicht und auch deswegen Horrorvideos verbieten. Das Gesicht von Uwe Barschel auf dem Stern-Titelbild: Innere Vorgänge wurden wohl erst unter dem Eindruck der Todesangst so stark, daß sie sichtbar wurden. Die Kunst verweist auf den Ernst des Lebens, den sie zwar verharmlost, aber verherrlicht. So läßt sich’s leben. In der Welt der Popmusik – die am meisten verherrlicht und am wenigstens verharmlost – wahrscheinlich am besten. In hysterischen Charakteren (Morrissey), weinerlichen (Lawrence/Reid-Brüder) und alten weisen Blues-Indianern (wie Hüsker Dü) ist dieses Wissen um den Ernst am stärksten, sie hatten ein gutes Jahr.

AMERIKANISCHE WISSENSCHAFTLER fanden heraus: Niemand haßt die Yuppies so sehr wie die Yuppies. Was aber ist diese Charaktermaske in ihrer berechenbaren Begrenztheit und Abhängigkeit von vorübergehenden wirtschaftlichen Verhältnissen gegen den Typus des neuen Kultivierten, der Filme und Bücher und Platten in sich hineinfrißt, um ein Symptom (Kultiviertheit) zu erzeugen, das sich nunmal frühestens mit Vierzig als Ergebnis eines wachen, neugierigen, kämpferischen, süßen und sauren Lebens ergibt. Vorher irrt man nunmal notwendig, baut Scheiße und sieht sich ab und an gezwungen, Land und Stadt und Leute und Insel zu verlassen (auf komischen altmodischen Schiffen, die dann und wann untergehen). Nichts ist so sehr ein Feind der notwendigen (und nie ganz erfolgreichen) Bemühungen um den Ernst des Lebens in der Kunst (der ein großer Spaß ist) wie die von diesen Leuten so heftig genossene „gut erzählte Geschichte“ oder der „schön fotografierte Film“.

ZEITSCHRIFTEN haben den Namen nach mit der Zeit zu tun. Zeitlichkeit ist Eigentum von Pop. Die Yuppies und neuen Zyniker, die sich dieses Eigentum ausborgten, sind im wirklichen Leben der ehernen Verhältnisse gescheitert. Zeitschriften wie Der Spiegel, der im letzten Jahr einen so noch nie erlebten Niedergang durchmachen mußte (nur ein Symptom von vielen, daß man jetzt auch dort auf den Kulturseiten massenhaft sachliche Fehler fand), haben weniger denn je mit der Neuheit des Neuen zu tun, man findet sie immer mehr in eigentümlichen Special-Interest-Magazinen, in den Randgebieten. Bizarres Metaereignis, daß sich die ausdrücklich und hysterisch dem „Zeitgeist“ gewidmeten Zeitschriften vollkommen dem Wahnsinn erfundener Anlässe ausgeliefert haben, aber ein Beweis dafür, daß das Kapital, das hinter diesen Gründungen steht, durchaus spürt, wie ihm die wirkliche Welt unter den Händen wegrutscht. Hat je ein Begriff mehr von Todesangst gesprochen, als „Zeitgeist“? So gesehen doch sehr aufschlußreiche und zeitgenössische Publikationen, so gesehen war der Teevee-Stern das Zeitgeist-Mag des Jahres.

JUTTA DITFURTH hat im letzten Jahr mehr als einmal die Wahrheit gesagt, dafür verdient sie alle Solidarität. Überall finden endgültige Entscheidungen zu lange schwelenden Vorgängen statt, das Ende der Dekade beginnt mit seinen Vorarbeiten: Eine Politikerin sagt die Wahrheit, ein Politiker geht in die Badewanne. Otto Schily beantragt die Aufnahme in die FDP. Die einen ballern los, die anderen arrangieren sich endgültig mit dem Staat. Es ist sinnvoll, in Dekaden zu denken, tatsächlich werden überall hektisch die Karten gemischt. Das die Boulevard-Presse empörende Goldene-Zitronen-T-Shirt (Barschel in der Wanne, Schrift: „Wann geht der Nächste baden?“) erinnert an das 70er-Graffiti „Buback, Ponto, Schleyer – der Nächste ist ein Bayer“ und gibt wieder, wie sich das Verhältnis zum Staat und zu seiner Abschaffung geändert hat: aus dem Glauben an die Liquidierung wurde die Hoffnung auf die Selbstliquidierung (vgl. RECHTSFREIE RÄUME/Yippies).

„SONNENENERGIE GEHT NUR IM SOZIALISMUS“, mußte neulich ein CDU-Experte zugeben, weil die Sonnenenergie keine Warenform annehmen kann, nicht zu besitzen ist, und sich die Öl-, Atom-, Kohle-Lobby solange dagegen stemmen wird, wie es eine Wirtschaftsform gibt, die Lobbyismus zuläßt.

CEAUCESCU IST EIN FASCHIST. Rumänien (neben Äthiopien) das grauenhafteste der Länder, die sich sozialistisch nennen. Ob Gorbatschow Lenin und Jelzin Trotzki ist, werden wir nicht zu klären vermögen. Respekt für einen Staatsmann, der sich sechs Wochen frei nimmt, um sein Credo zu schreiben. Abrüstung ist ein Fake-Ereignis, allenfalls wirtschaftlich und propagandistisch von Interesse. Das Zurückziehen der Sowjetunion aus allen möglichen umkämpften Teilen der Welt nicht nur einem berechtigten Afghanistan-Trauma zuzuschreiben: die können nicht mehr. Was indes passiert, wenn südafrikanische Imperialisten keine Angst mehr zu haben brauchen (und sei es vor kubanischen Beratern), zeigt das Beispiel Mozambique.

LAIBACH haben die deutsche Idiotenpresse mehr durcheinander gewirbelt als fast alles andere (Die Kritiken zur Aufführung von Rainald Goetz’ Theaterstück in Bonn ähnelten den Laibach-Artikeln): Die haben da so hochgestochene Theorien, aber ich bin zu faul und zu dumm, um die zu verstehen (und meine Leser werden mir dies gewiß nicht übelnehmen, denn wir sind ja alle kleine, dumme, faule Sünderlein), also werden sie schon faschistisch sein, konnte man sinngemäß im Zeit-Magazin und im Spiegel lesen. (Brav dagegen, wie Augstein sich mit seinem Heidegger herumschlägt.)

„DIE ICH RIEF DIE GEISTER WERD ICH NICHT MEHR LOS“ ist, wenn nicht der blödeste, dann der den meisten Blödheiten Vorschub leistende Satz von Goethe. Baudrillard soll sich also nicht beschweren, wenn sich New Yorker Künstler auf ihn berufen, obwohl man sich auf seine Theorien ihrem Wesen nach, seiner Meinung nach, gar nicht berufen könne. Aber jeder niedergeschriebene Satz leistet zunächst mal nichts anderes, als ein Unrecht zu rechtfertigen, bis er zur Ausbreitung von Recht und Schönheit beiträgt (dies sind nicht die einzigen Kriterien, ihn zu bewerten, aber das, was die sogenannte Verantwortung des Autors bezeichnet). Was die Künstler betrifft, kann man ihnen nicht vorwerfen, Theorien falsch zu verstehen oder sich falsch auf sie zu berufen; in New York bedeutet jede neue Theorie in einem Künstlermund nur: gegen Pollock, gegen Schnabel, lieber für Woody Allen – wie erbärmlich das auch sein mag: Jeff Koons ist, egal ob da ein Zusammenhang besteht, ein guter Künstler, ein Geist, über den sich Baudrillard nicht zu beschweren braucht.

DASS DEUTSCHE PROFESSOREN neuerdings Kunstzeitschriften vollschreiben und alle Situationisten sein und gewesen sein wollen, wird nur noch von Malcolm McLaren übertroffen, der jetzt malt (und natürlich schon immer Situationist gewesen sein will).

NIRGENDWO bekommt man es so massiv mit dem Charakter des Künstlers zu tun wie in der Pop-Welt, was einer ihrer größten Vorteile (mindestens im gewesenen Jahr) ist: Nirgendwo lernt man Leute wie Henry Rollins, Eugene Chadbourne, Alex Chilton, Kid Congo oder Andrew Eldritch kennen, nirgendwo merkt man so schnell, daß Annie Lennox, John Cougar Mellencamp oder Sting Arschlöcher sind.

RECHTSFREIE RÄUME kommen in der westlichen Welt umgekehrt proportional zur jeweiligen Wahlbeteiligung oft vor. In den USA gibt es die meisten, nur daß sie in der Hand ideologieloser Faustrechtler sind (Street!), während wir hier die Chance haben, sie in deutscher Tradition philosophisch-politisch aufzuwerten und erst so dem Staat unangenehm werden zu lassen, bis sie zu staatsfreien Räumen werden. Eine Yippie-Illusion?

SITUATIONISTISCHE UNFÄLLE häufen sich derweil im alten Europa. Autofähren sacken auf den Meeresgrund und fossile U-Bahn-Stationen brennen aus (auch hier: Ernstfall. Zwei der weitest verbreiteten, archaischsten Alpträume werden wahr. Träume werden wahr – daran erkennt man die Wirklichkeit). In den USA ist der Luftraum so hoffnungslos überfüllt, daß die nächsten Katastrophen sich schon vorausberechnen lassen. Während ich dies schreibe, höre ich eine Früh-70er-Platte der Staple Singers, deren Cover die Singers zeigt, wie sie in einer Düse der damals neuen Boeing 747 der Linie Delta Airlines sitzen (eine der von Katastrophen und Unregelmäßigkeiten am meisten betroffenen Gesellschaften), und lese in einem Buch, das mir die Mekons empfohlen haben, daß Wittgenstein den Jet-Antrieb theoretisch schon während des ersten Weltkrieges erfunden hat.

IM FERNSEHEN sitzen ein Junge und ein Mädchen vor dem Fernseher, und Sammy Hagar erscheint auf dem Bildschirm in voll lächerlicher Rockistenpose. Das Mädchen greift zur Fernbedienung und will umschalten, der Junge hält sie ab: „I dig Hagar“. Dann nimmt dieses supernette Video seinen Lauf. Die wirklichen Jugendlichen sitzen einen Kanal weiter und diskutieren zu den Startbahnschüssen. Gewalt hilft nicht gegen Argumente, sagen sie ein ums andere Mal, vermutlich auch noch den eigenen Einberufungsbefehl für ein Argument haltend.

DIE LEGISLATIVE LÜGT, die Exekutive wendet Gewalt an. So geht ein Staat. War dieses Jahr so krass und bunt wie noch nie im Fernsehen. Wer das verharmlost oder verherrlicht, ist wirklich kein Künstler.