Hubert Fichte: Sehen Sie allgemeine Kriteria für eine afroamerikanische Kunst?
Michael Chisholm: Ja.
F: Welche?
Ch: Der Gebrauch von Farben – violente Farben.
Auch die Notwendigkeit, soziale Inhalte in den visuellen Künsten zu reproduzieren.
Dissonante Farbzusammenstellungen. Die Farben werden gezwungen, aufeinander zu reagieren. Verschiedene Rots gegeneinander.
F: Der Gebrauch von Schwarz?
Ch: Schwarz ist keine Farbe.
F: Keine Farbe ist eine Farbe.
Ch: Go on!
F: Es scheint ihnen schwerzufallen, über Schwarz zu sprechen.
Ch: Black ist kein Wort. Black ist etwas Absolutes.
Hubert Fichte: Die Schwarze Stadt, Die Geschichte der Empfindlichkeit
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Globale Verhältnisse unter Hip-Hop
Hip-Hop ist die Erzählung, das Master Narrative unserer Epoche. Hip-Hop ist die Musik der Jugendlichen und der Minderheiten nach der Hoffnung auf Überwindung von Widersprüchen, auf Revolution und Utopie. Hip-Hop löst Rock’n’Roll als Musik der Metropolen und des globalen Austauschs ab. Aber Hip-Hop ist keine idealistische Musik mehr, die von etwas träumt und dann an falschen Verhältnissen scheitert. Die waren bei Hip-Hop immer schon falsch und höchstens konnte man mal jemanden dabei beobachten, wie er sich seine Fesseln etwas lockerte. Hoffnung ist bei Hip-Hop meist die Tatsache, daß es kaum schlimmer geht. Und daß die Formulierung von und Kommunikation über Verhältnisse selten zu deren Verschlechterung beiträgt. Hip-Hop ist eine nur noch antiintegrationistische Musik, das ist ihr Nenner, das ist das, was alle ihre Anhänger auf der ganzen Welt eint: nicht mitmachen. Aber jede Negation führt zu Positionen, und die reichen dann von neoutopischen linken Ideen, über Separatismus, religiösen Wahn und Nationalismus bis zum individualistischen (Gangster-)Karrierismus. Doch seine Drastik, Gereiztheit, Intensität und seinen Erfolg bezieht Hip-Hop immer noch aus der vorintegrierten Situation und antiintegrationistischen Haltung. Aber zuallererst ist Hip-Hop die Musik junger schwarzer (hauptsächlich männlicher und urbaner) Amerikaner. Alle weltweiten Jugendkulturen beruhten in der Nachkriegszeit auf Dekontextualisierungen schwarzer amerikanischer Kultur (was sie von den Vorkriegsjugendkulturen sehr zu ihrem Vorteil unterscheidet). Bislang machte aber keine dieser Musiken sowohl den Verwertern wie den Fans außerhalb der Community die Dekontextualisierung so schwer. Dennoch treten auch ins Zentrum des internationalen Hip-Hop-Diskurses Verkettungen von Mißverständnissen, die schon früher die Rezeption und den Import von sowie die Projektion auf schwarze Musik bestimmten: Ob im Soul-Liebeslied eine Intensität, die sich aus der schicksalhaften Verkettung materieller Verhältnisse mit Liebesverhältnissen ergab (Mann als Ernährer von Frau oder umgekehrt), von Mittelklassefamilienflüchtlingen als deren lustvoll erlebte Auflösung verstanden wurde, oder ob die vom Free Jazz unternommenen Versuche einer Rekonstruktion afro-amerikanischer kultureller Sicherheiten (Tradition, Formen, Autoren) als die moderne oder postmoderne Auflösung von Autorschaft, Form etc. gedeutet wurde.
Für den deutschen Leser, der in einem Land lebt, wo Sportreporter noch selbstverständlich von „schwarzen“ Eigenschaften reden, städtische Aufstände immer noch „Rassenunruhen“ oder„Rassenkrawalle“ heißen, sollte man vielleicht die alte Malcolm-Wahrheit hinzufügen, daß Anti-Integrationismus immer auch Integrationismus voraussetzt, keinen Verzicht auf Rechte darstellt, sondern nach deren Durchsetzung spielt1, sich vorbehält, die als Geschenke deklarierten Selbstverständlichkeiten zurückgehen zu lassen. Eine Frage der Würde. Und dann muß man dem deutschen Leser wohl auch noch sagen, daß es natürlich keine Schwarzen gibt2, sondern nur deren kulturell-politische Konstruktion. Mit der muß man allerdings nicht nur notgedrungen leben. Nur weil sie als Konstruktion falsch ist, hat sie nicht – deterministisch – auch nur falsches Bewußtsein erzeugen können. Ohne viel davon gehabt zu haben, haben sich die amerikanischen Schwarzen, deren Kultur und Sprache unter der Drohung abgeschnittener Zungen bei Benutzung afrikanischer Wörter begann und daher von Anfang an unter der „modernen“ Bedingung eines Verhältnisses zur Sprache als Material stand, immer wieder als Avantgarde eines neuen Grades oder Typus von Ausbeutungsverhältnis wiedergefunden. Diese Position ist mit Hip-Hop – der Musik der Gangs, Sekten, Stämme – in einer neuen historischen Situation – Bosnien, Los Angeles, Aserbaidschan – erhalten geblieben, nur daß es nicht mehr um Ausbeutung geht, sondern um das Elend, nicht einmal mehr ausgebeutet zu werden.
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Warum „Nowhere To Run“ „Nowhere To Run“ heißen muß
Gerri Hirshey3 hat ein Standardwerk über Soul der Sechziger geschrieben. Es heißt Nowhere To Run. Warum heißt es nicht „Tears Of A Clown“, „Respect“, „Heatwave“ oder „Money“ – um nur ein paar als Headlines des Jahrzehnts aus schwarzer Sicht ebenso treffende Songtitel von ebenso spektakulären und aufregenden Songs zu nennen?
Die Tränen des Clowns4 fließen nicht nur für zwei Jahrhunderte afroamerikanischen Unterhaltungsgewerbes, wo oft genug lustig sein mußte, wer traurig war, sondern das Lied begründet auch den zum schwarzen Anteil neuer sozialer Mobilität der Sechziger gehörenden Anspruch auf eine bürgerliche Subjektivität mit Innenleben und ästhetischer Theorie: „Don’t let my glad expression give you the wrong impression. Baby I’m sad. But like a clown I pretend to be glad.“ Das war in der schwarzen Pop-Musik noch nicht so zusammen ausgesprochen worden: daß es innen nicht nur anders aussieht als außen, sondern beide Seiten ein Spannungsverhältnis unterhalten. Im Gegenteil, Schwarze Musik neigte eher zu „reinen“ Kommunikationsverhältnissen: Cool Jazz hier und Blues da. Mit dem Rücken zum Publikum im eleganten Anzug der rassistischen Zuschreibung vom schwitzenden Gefühlsbündel widersprechen (Miles Davis in den Fünfzigern) einerseits. Aussprechen der intimen Vorgänge, auf ihre, einer fremden oder falschen Welt entgegengesetzte Echtheit bestehend (jenseits jeder „Bewußtseins“-Kontrolle im Gospel-Ritual des „speaking in tongues“5 in der Gemeinde aufgehend oder allein vor einer weltlichen Gemeinde beim Blues) andererseits. Beides gehört natürlich zusammen: Die Offenheit, die in der Gemeinde möglich war, verbot sich unter kulturindustriellen Bedingungen. Um die Aufrichtigkeit zu retten, mußte der BeBop-Künstler, erst recht der Cool Jazzer Geheimsprache sprechen: „Jive“ = „Wir beide verstehen uns, er da hinten hat keine Ahnung, wovon wir reden.“ Dem Publikum den Rücken zuwenden. Die Offenbarung des Inneren gelingt unter den fortgeschrittenen Bedingungen des Cool Jazz mit seinem weißen Establishment-Publikum erst durch sein Verbergen. Beiden Kommunikationssituationen ist ein hohes Bewußtsein von den Gefahren des Verstandenwerdens durch ein Außen bzw. eines zu schützenden Innen gemeinsam. Beide entsprechen sozialen wie auch sprachlichen Techniken, besonders solchen, die wir „rhetorisch“6 nennen würden. Die von Smokey Robinson beklagte Lage steht für einen Übergang, für eine neue Orientierung der Rhetorik afroamerikanischer Kultur während der sechziger Jahre.
Denn während in den Fünfzigern Jazz zur „Kunstmusik“7 wurde, stieg die Nachfrage nach einer Wiederbelebung direkter Ausdrucksformen für alle diejenigen, die sich in einer Welt der neuen Mobilität zu befinden meinten: schwarze Jugendliche, Großstädter, neue Nordstaatler, Kriegsteilnehmer. Sie bediente der neue, elektrisch verstärkte R’n’B – Vorläufer von Soul (wie von Rock’n’Roll).8
Smokey Robinsons Clown und dessen falsche Impression von einer falschen Expression einer verbotenen Impression verkörpert das Prinzip von Motown, der ersten Plattenfirma in schwarzem Besitz, bei der genau ein dem weißen Publikum schmeichelnder Glanz („glad expression“) und elegante Showmanship sich zum als authentisch empfundenen urbanen R’n’B und seinem Lied der Widersprüche („wrong impression“) seit den frühen Sechzigern gesellten. Weder – wie von ihrem kritischen Verstand allzu eingenommene, weiße Blues- und R’n’B-Anhänger meinen – um diese „authentischen“ Feelings als richtige Zeugnisse falscher neuer urbaner Erfahrung zu domestizieren, noch um im Sinne des Cool Jazz die Authentizität des Gefühls durch seine verbergende Negation zu retten. So wie die frühe Motown-Produktion beides war, Klitsche und Community, Club und Fließband, neue Musik und Massenproduktion, schwarze Würde und schales Versprechen einer vergeblich erhofften Mobilität, wurde es möglich, unter Aufgreifung des alten europäischen Kitsch-Motivs vom traurigen Clown zu denken, daß in einem Song beides gesagt werden kann: Ich habe den Blues und ich verkaufe ein falsches Glück, das aber wirklich folgenreich wirkt, wie authentisches Glück. Ich bin frei, weil ich meine Unfreiheit benennen kann. Aber ich bin hoffnungslos unglücklich, weil ich nur das Glück aussprechen darf, das Unglück nicht. Das entsprach in etwa auch der Situation des Minstrels und Harlequins, also einer traditionellen Figur des schwarzen Entertainments (für Weiße). Doch dieser Song sprach nun auch noch aus, was nicht ausgesprochen werden durfte, und machte es zum Gegenstand, ja zur Voraussetzung seiner Klage. Das markiert das endgültige Ende der Minstrels und Harlequins und den Beginn von Massenmedien und Unterhaltungsindustrie. Integration zu der Kondition, daß das frisch Integrierte auf seiner Nichtintegrierbarkeit besteht, die allerdings erst in der Integration wirksam wird (Keimzelle dessen, was im Hip-Hop „explicit“ wurde). Mit einer Musik, die tatsächlich offenläßt – was die Stärke mancher Motown-Songs ist –, ob sie zu Tränen rühren oder euphorisierend zum Dancefloor führen will. Die harmony vocals sagen etwas anderes als das unglücklich hoppelnde Baritonsaxophon. Erst später teilen sich dann die zunehmend spezialisierteren Plattenfirmen und ihre spezialisierten Künstler Körper und Seele der schwarzen Musik der Sechziger untereinander auf.9
„Respect“10, mein zweiter alternativer Titelvorschlag für Gerri Hirsheys Buch, war nicht nur das Ziel der Bürgerrechtsbewegung. Ursprünglich bei Otis Redding, war es eh nur um den Respekt gegangen, den der Ehemann von seiner Frau verlangt, wenn er nach einem harten Tag heimkommt. Während sich der „weiße“ Protestsong der Sechziger immer an den Staat, das Establishment, die da oben oder die ältere Generation richtete, jedenfalls stets in einem Ton sprach, der eine ältere väterliche Autorität voraussetzt11, wendet sich ein später zum symbolischen Protest eingesetzter Song wie „Respect“ an den Ehepartner. Soul-Protest nimmt nicht nur in diesem Fall eher die Position einer an einen erwachsenen Partner gerichteten Beschwerde ein. Während der (weiße) Protest(song) immer nur im Konjunktiv oder Futur von einer Situation phantasiert, in der es zum Machtkampf kommen könnte/wird, in den imaginären Welten von Moral und Utopie spielt, sind die Machtkämpfe im schwarzen Song immer schon da. Fragt sich nur, welches Personal sie gerade austrägt: Mann und Frau, Mann und Gott, Pimp und Bitch oder – seltener – Black Nation und Unterdrücker. Aber bevor „Respect“ und sein wenig utopischer, realistischer Vorschlag zur Hymne werden konnte, mußte Aretha Franklin12 den Song covern. Daß hier eine Frau sang, machte zwar die Ausgangslage – arbeitender Ehepartner beschwert sich über den zu Hause Faulenzenden – nicht unrealistischer, entscheidend aber war, daß in ihrem Arrangement das Einzelschicksal in einem gospelartigen Chor eingebettet wird. In dem im Kollektiv eingepaßten Gesang wird das praktisch-persönliche Problem zum allgemeinen einer größeren Community wie etwa der Black Nation.13 Während also der „weiße Protestsong“ aus einer unerträglich gewordenen Familie hinauswill und damit auch die infantile Position festschreibt und zum Genrebaustein werden läßt, nimmt der Soul-Song die erwachsene Position der Verantwortung (für eine Ehe, Community etc.) ein. Da es sich allerdings um Verantwortung für ein noch zu gründendes oder noch bedrohtes Staatswesen handelt, die Verantwortung an Durchsetzung gekoppelt ist, die erst die Gesetze schafft, identifiziert sich der Jugendliche mit schwarzer Kultur, so wie er sich mit den Gründer- und Pionier-Mythen des Westens identifiziert. Der soziale/sprachliche Zusammenhang zwischen weltlich-individuell (Blues) und kollektiv-transzendental (Gospel) geht in den Sechzigern von Kirche/Kneipe über auf die Spezialisierung von Branchen, also zu verschiedenen Stilen, Labels, Produktionsweisen und wohl auch dahin, wo man jenseits von sozialen Funktionen von „gelungenen“ und schwachen Songs zu reden anfängt, zur „Kunst“. Der Übergang der individuellen bluesmäßigen Klage „Respect“ bei ihrem Verfasser Otis Redding zur schwarzen Nationalhymne bei Aretha Franklin markiert einerseits, wie die beiden genuinen schwarzamerikanischen Volks-Kulturformen zu kulturindustriellen Branchen werden, um andererseits inmitten dieses noch nicht ganz vollzogenen Übergangs zu beschreiben, wie die Koppelung dieser Formen mit der Sozialdynamik der Sechziger und der Kapitaldynamik der sich in neuen Größenverhältnissen einrichtenden Plattenindustrie Pop-Songs so übercodiert, daß sie als Hymnen funktionieren. Die Erinnerung daran wird allerdings ästhetisch nicht der vom Gesang geschützte Raum des Gospels bewahren14, sondern der Groove, mit dem der Gesang zu diesem Zeitpunkt eine Liaison eingeht, um ihn später – in der Funk-Epoche der Siebziger – als Aufbewahrungsort der Erinnerungen an Kollektivität und Transzendenz abzulösen.
Mein dritter Vorschlag war „Heatwave“15. Während andere Motown-Hits der frühen Sechziger in Europa rezipiert wurden als Hits wie andere Hits, freilich in enger Beziehung zum beginnenden Welterfolg des Beat, der Jugendkultur, der Beatles (die wie viele andere Beat-Bands mit „Please Mr. Postman“ auch einen Hit mit einem Motown-Song hatten), war „Heatwave“ weit über die kurzfristige Hitfunktion hinaus bedeutsam. Zum ersten Mal hatte ein europäischer Jugendkult, die britischen Mods, sich nicht auf eine weiß vorbehandelte Version schwarzer Musik gestürzt, sondern auf ganz bestimmte Originale. Was durch die eher studentisch-bohemistische, nicht direkt jugendkulturelle britische R’n’B-Begeisterung der ganz frühen Sechziger vorbereitet gewesen sein mag, bekam eine neue Qualität, als „Heatwave“ von Martha & The Vandellas zur Hymne der Mod-Bewegung wurde, neben anderen Motown-Hymnen, aber in einem besonderen Sinne. Die Begeisterung für „Heatwave“ war in manchem Sinne heißer als die erste Blues-Welle und deren Einfluß auf den beginnenden Beat: Es ging nicht mehr um rekonstruierbare, imitierbare Spielweisen, sondern um den reinen Effekt, der als überwältigender empfunden wurde als jeder Versuch, ihn sich – etwa über Nachspielen – aneignen zu können. Mit „Heatwave“ wurde zum ersten Mal das Andere schwarzer amerikanischer Musik (z. B. ihre Kollektivität) in seiner ursprünglichen, unbearbeiteten Form zum Totem eines weißen, britischen Jugendkultes und inaugurierte damit die Serie fruchtbarer Mißverständnisse, die die weiß-europäische Beziehung zum schwarzen Pop bestimmte. Die aller afroamerikanischer Kultur zugrunde liegende, distanzierte (und dadurch auch freiere, „künstlerischere“) Haltung zum Englischen, das Mißtrauen gegen eine Signifikation, die gar nicht so weit entfernten Vorvätern noch bei Androhung abgeschnittener Zungen beigebracht worden war, erreichte den jungen Rebell anderswo, der seine eigene Distanz zur vorgefundenen Sprache erlebte, ob er nun noch keine Sprache oder Stimme hatte oder sie auch ihm, von der Erwachsenenwelt, den Verhältnissen aufgezwungen vorkam: Sprache, als ein ungeklärtes Verhältnis, das seinem Stadium im Spracherwerb (nicht nur der Wörtersprache) entsprach. Gleichzeitig ist „Heatwave“ der Song, wo der vorgeschobene (oder nachgereichte) Inhalt am geringsten und zum ersten Mal erkennbar geringen Widerstand leistet gegen die Ebene der Anspielungen rund um das Wort „Heatwave“. Oder anders gesprochen: Wo „Heatwave“ von der Metapher zur Metonymie sich verschiebt, vom nur noch schwach miterzählten persönlichen Liebesdrama zu allen möglichen hedonistischen Hitzewellen, die Tanzen, Amphetamine und Sex jeder Romantik vorzogen. Die Übernahme von „Heatwave“ durch die Mods ähnelt der Übernahme „Respects“ durch die Bürgerrechtler, nur in entgegengesetzter Richtung.
Schließlich „Money“16. Lustigerweise war es Motown-Chef Berry Gordy selber, der den Schlüsselsong der „pragmatischen“ neuen schwarzen Städter schrieb. Der Chef der ersten nationwide und über „Rassenschranken“ hinweg erfolgreichen schwarzen Plattenfirma hatte sein Programm formuliert: „The best things in life are free / but you don’t give them to the birds and bees / I want money / that’s what I want …“ Nicht die dubiosen Klitschen der traditionellen race-records-Firmen, die legendär viele Blues-Legenden um ihre Tantiemen gebracht haben, haben die geschützten Räume der schwarzen Kultur zerstört, die Kirche und den Blues. Sondern, wie konnte es anders sein, der erste schwarze Kulturindustrielle zog die Konsequenzen aus einem veränderten Klima. Der sprichwörtliche Ort der schwarzen Musik war die zugige Straßenecke Manhattans geworden, wo die DooWop-Gesangsgruppen entstanden. Gordy war der erste in einer Reihe von schwarzen und weißen Plattenfirmenbesitzern, der, anders als noch der Rock’n’Roll-Einzelhändler und Elvis-Entdecker Sam Phillips, in industriellen Dimensionen dachte und seine Stars nicht an die RCAs dieser Welt verkaufen mußte (wie Phillips). Er verwandelte nicht, wie allgemein angenommen, Stile, Inhalte etc. in Waren, sondern vorgegebene Architekturen sozialer Räume in Entertainment-Räume, womit sie nicht aufhörten, soziale zu sein, also auch Spuren ihres Gewachsenseins bewahrten. Im Gegenteil, das kam nicht nur ihrem Funktionieren als Entertainment zugute, es entsprach auch den säkularisierten Verhältnissen in der urbanen Community. Andererseits war die Funktion der alten Räume durch nichts ersetzt worden: Schwarzes Entertainment hat diese auch auf industriellem Level sofort mitübernommen.
„But there was a problem. The very causes and energy that once pulled that world (die der schwarzen Musik – d. Verf.) together began to pull it apart, and here it is not just instructive but, to me, essential that we look at what it all meant for the music. I can’t shake off the feeling that in the enormous groundswell of change in the black community since World War II, something crucial has been lost (…) the very success of the movement spelled the end of the R&B world. One of the underlying assumptions of integration was that a solid education among whites would produce blacks qualified intellectually and socially to fit into middle-class, white-collar, corporate America (…) since white values were held up as primary role models, many blacks (…) lost contact with the uniqueness of their people, and with their own heritage (…). ‚Black is Beautiful‘ has been answered in the eighties with nose jobs and blue contact-lenses“, schreibt der moderate Nationalist Nelson George in seinem hervorragenden Buch The Death Of Rhythm & Blues.17 Seiner Diagnose von den Dilemmata des Integrationismus kann auch ich mich, als Nichtanhänger der üblichen europäischen Kulturpessimismen und ihrem Horror vor Kulturindustrie, mit Einschränkungen anschließen. Denn im Zuge der Zulassung immer mehr Schwarzer zum allgemeinen amerikanischen Konkurrenzkampf, gibt deren Massenkultur den Einwand gegen das Verständnis via kleinsten gemeinsamen Nenner durch das weiße Entertainment auf. Dem so Verstandenen bleibt schließlich keine andere Wahl als die Gesichtsoperation, das liegt in der Natur des Verstehens im Kommunikationskapitalismus. Auch hier trägt die schwarze Kultur Amerikas existentiell aus, was man als Luxus-Debatten aus der Independent-Szene kennt: klein, sauber und intensiv bleiben oder ausverkaufen? Im selben Zuge zieht sich die durch den sozial-verbindlichen Charakter der Räume Kirche, Blues etc. konstituierte Bedeutung zurück aus dem Signifikaten in den Signifikanten. Und die daraus sich ergebenden Entwicklungen übergeht George pessimistisch, wenn er den Niedergang am Unterschied zwischen Aretha Franklin und ihrer Verwurzeltheit in den alten und in den späten Sixties neu instrumentalisierten Schutzräumen und der austauschbaren Schönsingerei von Whitney Houston festmacht. Wo sind Queen Latifah und Monie Love? Das immer schon ausgeprägte Bewußtsein für die Seite des Signifikanten, sozusagen für die Architektur der Räume, die für die Verbindlichkeiten bürgten, verläßt diese Räume, um sich „unbehaust“ oder an anderen Orten niederzulassen. Der schwarze Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates Jr. entdeckt eine Kontinuität dieses ausgeprägten Bewußtseins im afroamerikanischen Schrifttum der letzten 200 Jahre und in einer ebenso alten schwarzen Folklore-Figur: dem „Signifying Monkey“.
„The black rhetorical tropes, subsumed under signifying, would include marking, loud-talking, testifying, calling out (of one’s name), sounding, rapping, playing the dozens, and so on.“18 Signifyin(g) bezeichnet also nicht nur eine aus der Fremdheit gegenüber der Sklavenhalter-Sprache geborene, mißtrauisch-parodistisch deren Effekte nachahmende Redeweise unter Schwarzen, die sich aber eigentlich gegen das aufgezwungene Verständigungssystem (Sprache des Unterdrückers) richtet, sondern hat auch, als „testifying“ mit jenem heiligen Moment im Gottesdienst zu tun, wo – speaking in tongues – der losgelassene Signifikant die (verborgene) Wahrheit von Gottes Wort hervorbringt. Gates bezeichnet als „Signifyin(g)“ sowohl das Ganze schwarzer Rhetorik, als auch einen speziellen, der Ironie verwandten Fall, den er von den anderen wie „calling out“ unterscheidet und von dem im Folgenden vor allem die Rede sein soll. Schlagfertiges Beschimpfen, Parodieren im Straßentalk ebenso wie gegenüber dem Offiziellen der weißen Kultur, oft in Reimen. Dabei werden Buchstaben und Silben ausgetauscht, über Reimwörter argumentiert, Floskeln durch Wiederholung und Verschiebung ausgehöhlt, Sinn und Intention der Lächerlichkeit preisgegeben, Metaphern zu Metonymien, Zufälle und Buchstäblichkeit durch Insistieren und Wiederholungen bedeutsam. Gates wundert sich mit uns, wie ähnlich das Konzept des „Signifyin(g)“ in beiden Verwendungsformen dem ist, was seit Saussure über Lacan wie Barthes, von Kristeva, Bloom, Derrida, de Man und den anderen sogenannten poststrukturalistischen oder dekonstruktivistischen Sprach- und Literaturtheorien, sozusagen nachträglich als Produktionsweise längst geschriebener Literatur erkannt worden ist, obwohl der Begriff „Signifyin(g)“ seit 200 Jahren im schwarzamerikanischen Schrifttum around und nachweisbar ist – „Signification is the nigger’s occupation“, zitiert er ein altes Sprichwort.
Man mag einwenden, daß die literarische Moderne schon wußte, was sie diesbezüglich tat, bevor es ihr der Poststrukturalismus erklärte, etwa Ezra Pound, wenn er„Logopoeia“ erklärt: „‚The dance of the intellect among words‘, that is to say, it employs words not only for their direct meaning, but it takes count in a special way of habits of usage, of the context we expect to find with the word, its usual concomitants, of its known acceptances, and of ironical play …“19 Daß eine sprachliche Alltagskultur und Folklore-Praxis ein ähnliches Verständnis entwickelt, ist nicht nur bemerkenswert im Hinblick auf die immer wieder entstandenen Berührungspunkte zwischen Moderne wie Postmoderne und Black Culture (neben zahllosen anderen ausgegrenzten, marginalisierten oder revoltierenden Kulturen zwar, aber nicht erst in den Nachkriegsjahren auf besondere Weise20, wichtiger ist der Unterschied, daß es beim „Signifyin(g)“ seinem Wesen nach nicht um die „Kommunikation von Einzigartigkeit“21 geht, wie bei der Modernen Lyrik, sondern um die Kommunikation/Nichtkommunikation der „Einzigartigkeit“ eines (unterdrückten) Kollektivs, um die Konstituierung einer Differenz, die bis heute die „tiefste“ Wurzel ihres Separatismus darstellt. Dessen Anziehungskraft auf sich als „Boheme“ organisierende „einzigartige“ Prototypen der Moderne (Lyriker, Künstler, Individuen, Beatniks etc.) uns noch beschäftigen wird.
„Nowhere To Run“22 ist ein Song über einen weggelaufenen Mann, dessen Gesicht Martha Reeves überall wieder begegnet, wo immer sie auch hinrennt: „When I look in the mirror to comb my hair / I see your face just a smiling there / NO! Nowhere To Run“. Die Wahrheit im Gospel-Ritual, das Verstandenwerden im Blues-Bekenntnis, stellen sich nicht mehr ein. Es gibt kein Entkommen mehr, in der „Freiheit“ der Mobilität lauert die totale Abhängigkeit von einem Mann, einem Signifikanten, der von keiner konventionellen oder geschützten Signification mehr kontrolliert wird, von keinem Ritual: negatives testifying. Diese Konstellation faßt alle anderen zusammen. Der auseinandergebrochene Ausdruck in der Selbsterfahrung als Clown, das fremd-vertraute Gesicht im Spiegel, die ökonomische Abhängigkeit, die keine Community, keine Familie mehr regelt, der verlorene soziale Raum, der Bedeutung, Bezahlung, Wert und Selbstgefühl regelt: Das Signifikat der schwarzen Erfahrung, ihre besondere Form des Sozialen, landete auf der Flucht schließlich bei einem nun ganz fremden, negativen Signifikanten, verlor sich in Schizo-City. Zwar fangen der überpersönliche, immer stärker betonte Groove in den späteren Sechzigern beim Versuch der Rekonstruktion von Community und die vom Gospel abgeleiteten Singtechniken den irre gewordenen Song noch ab, die Fülle der Stimme hebt die alte, rituelle Hervorbringung von Wahrheit noch auf, aber schließlich erhebt der Signifyin(g) Monkey, nun in jedem Sinne frei geworden – frei von den Schutzräumen, die seinem Schutz ebenso dienten, wie sie von ihm gestützt wurden –, unbeeindruckt-lakonisch seine alte, neue Stimme. Die mythische Figur wird zum nachäffenden Gott des Rap. Er kann sich amüsieren über die Tragik der Mobilitätsopfer, denn er kennt ihr Spiel, die eigene Imitation des aufgezwungenen Fremden. Er weiß von der Notwendigkeit der Distanz zum aufgestülpten Universum der Sklavenhalter und seiner Regeln. Er hat weder für Integration noch für einsame Verzweiflung etwas übrig. Doch kommt seine Stunde 1965 noch nicht, in der er explizit verkünden können wird, daß die Identität des Afro-Amerikaners eben gerade in seiner zerrissenen Nicht-Identität bestehe, die sich nur noch in der Diskontinuität der Loops und Samples darstellen lasse, und von der sich reimenden Doublette „African-American“ benennen, die heute gekommen ist, wo Rap, also Signifyin(g), selbst zum Genre wird, aus seiner Rolle als Rhetorik in Rahmen und Räumen heraustritt und auf Platten veröffentlicht wird, die mit dem Etikett „Explicit Lyrics – Parental Advisory“ nur noch verkauft werden dürfen. Das Schein-Paradox des explicit Signifyin(g).
Zuvor hatten aber Millionen mit ihrer Existenz gewettet, die jetzt, d. h. in den Siebzigern, in jeder Beziehung „homeless“ wurden. „Nowhere To Run“ war ein dauerhafter Zustand zwischen der nicht aufgegebenen, zeitgenössischen Utopie des „Move On Up“ und dem verklärten „People Get Ready“.23 Die meisten blieben dazwischen: kein schöner Ort zum Leben, dort herrschen Zug, Bewegung, Fallwinde, Stress. Nowhere: was für ein Ort zum Leben, was für eine soulful Hütte! Nowhere to run, nowhere to hide … Nämlich ein Ort ohne Raum, eher eine Eisbahn, auf der das Rennen kein Ende nimmt und in deren polierter Fläche das Bild des Mannes, Geldgebers, Weißen sich spiegelt, wenn immer du hinsiehst. Wie Sophia Loren auf einer italienischen Landstraße in einer endlosen Ebene, gejagt von Tieffliegern, im Arm das herzkranke Kind.
Im selben Maße, in dem in den sechziger Jahren schwarze Songs auf keine transzendente Kollektivität mehr hoffen, sondern in einem ewig scheinenden Kampf angekommen sind, verleihen sie diesem Horror der Dialektik von Freiheit (Homelessness) und Abhängigkeit (Einsamkeit) Ausdruck. Was Berry Gordy in „Money“ noch optimistisch auseinanderhalten konnte – „your love gives me such a thrill / but your love won’t pay my bill“ – und was Gwen Guthrie in „Ain’t Nothin’ Goin’ On But The Rent“24 stellvertretend für die neue schwarze Mittelklasse der Achtziger wieder auseinanderhalten können wird, verschmilzt in „Nowhere To Run“ zu einer abschüssigen Perspektive. Wer am Fluchtpunkt ankommt, singt dann, wie James Carr, Clarence Carter, Aretha Franklin oder Percy Sledge „The Dark End of the Street“25, die Ballade vom sozialen Tod nach der erzwungenen Identifikation von Glück und Geld, man begegnet sich wieder an diesem dunklen Ort: „At the dark end of the street, that’s where we gonna meet, living in shadows where we don’t belong, hiding in darkness to hide ourselves / You and me / at the dark end of the street …“ Und hofft bzw. befürchtet: „They gonna find us, they gonna find us someday …“ Am dunklen Ende der Straße hat das Rennen sein Somewhere gefunden. Es ist der Ort eines Blues zweiter Ordnung, eines Blues nach der Großstadt-Erfahrung, der sich mit der „heil“ gebliebenen Tradition des Südstaaten-Soul und dessen Nähe zum klassischen R’n’B vermischt. Danach verschwindet nach und nach die Stimme als Träger kollektiver (Gospel-)Erinnerung und Erfahrung („testifying“), an ihre Stelle tritt der Groove. In den souligen Varianten des House-Sound von heute treten die (gospelorientierten, „traditionellen“) voluminösen Soul-Stimmen nur noch als Ornamente und Zierat auf. An die Stelle der individuellen Blues-Stimme aber tritt der Sprechgesang, Rap, das pure Signifyin(g).
Kurz nachdem ich „Respect“ von Aretha Franklin und von Otis Redding auf dem Soul-Kanal des Lufthansa-Inflight-Entertainment-Kanals auf einem Flug nach – natürlich – Amerika neulich wieder gehört habe, schalte ich auf den von Frank Laufenberg moderierten Oldie-Kanal, wo „You Never Give Me Your Money“ von den Beatles26 läuft. Darin heißt es irgendwann: „… but, oh, that magic feeling nowhere to go …“ Sein Geld nicht zu bekommen und nirgendwo hingehen zu können – was als bedrückendes Dilemma in der schwarzen Erfahrung des Kampfes zwischen Mobilität oder Emanzipation einerseits und Ausweglosigkeit, Heimatlosigkeit andererseits erlebt wird –, kommt in Europa an oder wird hier zu: Freiheit und Abenteuer. Das durch Verlust der sozialen und sprachlichen Sicherheit des alten Gospel-Kollektivs oder der Blues-Redeweise entstandene Gefühl wird hier willkommen geheißen als Name für die erwünschte Befreiung von Familie, Vater, Vater Staat. Das erzwungene Vagabundentum der in welchem Sinne auch immer Homeless ist hier, in fast denselben Worten, die Wohnung, über die die Eltern keine Kontrolle mehr ausüben. Wer auf der Straße schlafen muß, muß mitansehen, wie seine Not plötzlich zur Verheißung für all diejenigen wird, denen es zu Hause zu warm ist. „But, oh, that magic feeling nowhere to go …“ Die über die inneren Spaltungen der sekundären Sozialisation sich konstituierende, frische, pubertäre Subjektivität findet sich psychisch wieder im aus der Community vertriebenen oder aus dem Süden, der Sklaverei entkommenen Schwarzen. Doch was jenem Problem ist (Vertreibung), ist diesem Chance, was jenem als Chance (soziale Mobilität, Konkurrenzkampf) erscheint, ist diesem Riß, Vertreibung aus der Kindheit. Sich über Kreuz mißverstehend, schließen sie einen (einseitigen) Pakt.
Einige Jahre zuvor, 1966, entdeckten die Hippies von der West Coast Blues und R’n’B-Traditionals für sich. Anders als die rekonstruierende Haltung der britischen Blues-Sechziger, konnte die teilweise direkt aus der Beatnik- und Hipster-Tradition hervorgegangene San-Francisco-Szene sich noch auf einen Anteil gemeinsamer schwarzer und weißer Beatnik-Erfahrung berufen. Norman Mailer hält das 1957 in seinem Essay „The White Negro“27 für freiwilliges Erfahren schwarzer Lebensbedingungen bei weißen Hipstern im Interesse existentialistischer Erkenntnis: „So it is no accident that the source of Hip is the Negro for he has been living on the margin (…) for two centuries (…). So there was a new breed of adventurers, urban adventurers who drifted out at night looking for action with a black man’s code to fit their facts. The hipster had absorbed the existentialist synapses of the Negro, and for practical purposes could be considered a white Negro. (…) To be an existentialist, one must be able to feel oneself – one must know one’s desires, one’s rages, one’s anguish …“ Diese Idee von einer Kongruenz zwischen den Wahrheiten des Hip-Existentialismus, wie er sich von der Prosa Kerouacs bis zu Dylans gefälschtem Ausreißer-Lebenslauf zieht, mit schwarzer Alltags- und Lebenserfahrung erweist sich als gigantisches Mißverständnis, wenn man sich anhört, wie etwa die frühen Grateful Dead den alten Blues „I Know Your Rider“ singen.28 Selten sind die Worte „I drink muddy water, sleep in a hollow log“ mit mehr Euphorie und Begeisterung vorgetragen worden. Wer die Wahl hat, schlammiges Wasser statt Coca-Cola oder kalifornischen Wein zu trinken, empfindet anders als der, der es trinken muß. Doch beruht auf diesem Mißverständnis nicht nur bis heute jede Kommunikation zwischen „schwarzer“ und „weißer“ Pop-Musik (wie zwischen proletarischer Kultur und ihren bürgerlich-jugendlichen Freunden): die Umdeutung von Elend in „Freiheit“, von Fremdheit in „Wahrheit“ spiegelt sich natürlich auf die schwarze Kultur zurück. Der schwarze britische Theoretiker Stuart Hall wiederholte vor kurzem die unter schwarzen Intellektuellen verbreitete Idee, daß die postmoderne conditio humana schon immer die schwarze in Europa oder Amerika gewesen sei, und fügte hinzu, daß aber nun, „wo ihr euch alle so dezentriert fühlt, ich mir ausgesprochen zentriert vorkomme“.29
II
Black Differences
Greil Marcus vertrat neulich bei einem Vortrag in Graz30 über den mythischen Blues-Gitarristen Robert Johnson die Auffassung, dessen zentrale künstlerische Aussage sei, daß diese Welt kein Platz für Menschen sei, for no man and no woman. Bei den kleineren Blues-Größen sei diese Wahrheit noch immer in einer nachvollziehbaren Weise von sekundären, historischen und sozialen Bedingungen bestimmt, bei Johnson hingegen in einem überzeitlichen, existentiellen Sinne. There ain’t no home in this world als die Unbehaustheit von Blind Lemon Heidegger, dem plantationyodeler des Black Forest. Er ist nicht der erste, der darauf hinweist, daß die Entwicklung von Blues als der Musik Einzelner – im Gegensatz zur Community des Gospel – in jedem Sinne eine Musik der Freiheit war. Nicht nur ist ihre Entstehungszeit die der nominellen Emanzipation der Schwarzen, die, wie jeder weiß, keine war, es ist damit auch die Zeit des Aufbruchs Einzelner in den Norden. Freiheit heißt also in der Blues-Genese nicht nur Abwerfen eines Jochs, Abwesenheit des Jochs und sich nun mal umtun, was die Welt zu bieten hat, sondern Eintauschen des Jochs gegen eine unbestimmte, sozial ungesicherte, gefährliche, bedrohliche Freiheit. Daß Blues daher immer wieder davon handelt, als migration worker kein home in this world zu haben, ist für Marcus kein Grund, seine Analyse darin aufgehen zu lassen, daß die existentialistische Seite Johnsons mit den sozialen und historischen Bedingungen des Lebens der Blues-Sänger restlos zu erklären sei. Er hört aus Johnson eine überzeitliche, überhistorische Stimme der Geworfenheit, die er aus den sekundären Bedingungen herauslöst und zum Allgemein-Menschlichen rechnet: „Carlos Fuentes sprach einmal von dem Unterschied zwischen einer Literatur, die innerhalb der Grenzen der Soziologie und Ethnographie erfaßt werden kann, und einer, für die das nicht gilt. ‚Vielleicht hätten Babbit und Main Street nur von einem vollkommen determinierten, 1885 in Sauk Center, Minnesota, geborenen, nordamerikanischen Schriftsteller geschrieben werden können‘, sagt Fuentes über Sinclair Lewis. ‚Aber Absalom! Absalom!, Light In August und The Sound And The Fury hätten ihrem mythischen Wesen nach von einem weisen Wilden in Zentralafrika erzählt worden sein können, einem ehrwürdigen Wächter der Tradition im Himalaya, einem vergeßlichen Dämon oder einem reuevollen Gott.‘ Sam Charters (…) schrieb einmal, daß nur ein im Mississippidelta lebender Schwarzer der ersten Jahrhunderthälfte auch nur ansatzweise verstehen könnte, was Son House ausdrückte, als er ‚My black mamma’s face shines like the sun‘ sang. (…) Nichts Vergleichbares könnte je über Robert Johnson gesagt werden.“31
Marcus möchte Johnson ersparen, von einer soziologischen Konstruktion entpersonalisiert zu werden, ihm statt dessen eine Würdigung angedeihen lassen, die für jeden weißen Künstler selbstverständlich ist. Das kann ich gut verstehen. Es ist das alte Problem der Rockschreiber, daß sie sich in Forschung und Feuilleton mit einer Übermacht von entmündigenden Soziologismen konfrontiert sehen, das gilt doppelt, wenn es sich um schwarze Musik handelt, und dreifach, wenn es um Musik geht, die sich in irgendeiner Weise dem ästhetischen Transport dissidenter Konterbande zu widmen meint. Dabei vergißt Marcus, daß durch die Eingliederung ins Mythische all die Eigenschaften, die eine Individualität ausmachen, sich nach dergleichen Logik verflüchtigen, mit der die Soziologie schon immer die Revolten mit vorher schon gewußten Begriffen wegerklärte. LeRoi Jones, der heute Amiri Baraka heißt, erklärt die mythische Entstehung des Blues zu einem durchaus „historischen“ Datum, von wo an der Schwarze in Amerika nämlich ein schwarzer Amerikaner geworden sei. Im Blues löse sich der primäre Bezug auf das Verschlepptsein des Sklaven und der Blick richte sich auf den Ort, wohin er verschleppt worden ist: „Und spätestens dann, als jemand zum Himmel aufschaute und die Worte ausstieß: ‚Oh Lord ahm tired a dis mess‘, können wir ganz sicher sein, daß dieser Mensch Amerikaner geworden ist.“32 Ins „Black Self“ (Gates) wird also zunächst mal die prinzipielle Fremdheit gegenüber seiner Umgebung (mess) eingeschrieben. Das geht aber nur, wenn er Amerika etwas entgegenzusetzen hat, das eine solche Fremdheit begründet, also selber, statt sich zu unterwerfen, seine Differenz denkt und ausfüllt. „The single most pervasive and consistent assumption of all black writing since the eighteenth century has been that there exists an unassailable, integral, black self, as compelling and as whole in Africa as in the New World, within slavery as without slavery. What’s more, this self was knowable, retrievable, recuperable, if only enough attention to detail were displayed.33 Er wird also Amerikaner, indem er Nichtamerikaner wird. Seine Differenz findet sich im Detail: Er spricht eine andere Sprache. Von dieser anderen Sprache handelt die Mythologie vom Signifyin(g) Monkey, dem nachäffenden Affen, der durch Wiederholungen, Verdrehungen, Wortspiele nicht die Bedeutung, die sein Gegenüber ausdrücken will, beachtet, sondern die Signifikanten. Seine Vorfahren finden sich bei einer Gottheit der Yoruba. Sein Spott ist besagtes, aus unzähligen Songs, Gedichten und Texten schwarzer Kultur bekanntes „Signifyin“. Der Blues, hierzulande Master-Fetisch des Authentizismus der Rock-Kultur, beruht also in Wahrheit auf einer Rede der Fremdheit, Gespaltenheit und Zerrissenheit, deren Subjekte gerade nicht „genau das meinen, was sie sagen“. Im Nichtmeinen aber, durch den Schutz der Community, „authentisch“ sein können. Oder wie es mir einmal Grace Jones unter lautem Gelächter erklärte: „Bad means good in my language.“ Daß jemand nicht genau das meint, was er sagt, heißt andererseits nicht, daß er nichts meint. Nur liegt vor dieser Bedeutung das (bewußte oder unbewußte, industriell-kalkulierte oder traditionell eingeschliffene) Angebot der Bedeutungsoberfläche. Und diese ziert fast immer ein Angebot zu einem Miß- oder Teilverständnis. Diese Mißverständnisse nehmen die Form von Interpretationen an, die etwa in einem hochcodierten Minnetext nur ein Narrativ wahrnehmen.
Die Attraktivität des afro-amerikanischen Umgangs mit Sprache und anderen vorgefundenen Ausdrucksmitteln lag darin, daß sie sich mit urbohemistischen Strategien gut vertrug. Guy Debord kennt die Erfahrung, wenn er in Panegyric berichtet: „The Gypsies rightly contend that one is never compelled to speak the truth except in one’s own language, the lie must reign.“34 Was die „eigene Sprache“ der Afro-Amerikaner im Sinne Debords sei, ist Gegenstand von nationalistischer Mystik und Spekulation. Über Jahrhunderte wurde das Englische verwendet, aber so unterschieden vom normalen Sprachgebrauch, das der Begriff Dialekt nicht zur Beschreibung ausreicht. Der Unterschied wäre ja nicht ein regionaler, sondern ein funktionaler. War den Schwarzen in den USA der Gebrauch der Schrift bis vor gut hundert Jahren verboten, tauchten bald Schriftsteller auf, die auf der Höhe der Modernen waren. Sehr oft traf sich da der „verlorene“, anomische Zustand moderner Helden mit der Fremdheit, dem Zwischenzustand des Afrikaners in Amerika. Man muß kein Essentialist oder Nationalist sein, um die Eigentümlichkeiten beim Entstehen der schwarzen Kultur anzuerkennen. Keine politische oder kulturelle Bewegung, die diese im Namen allzu naiver Universalismen ignorieren wollte, hatte je eine Chance. Aber jede Bewegung, die sich auf die „Besonderheiten“ schwarzer Kultur einließ, landete bei religiösen oder anderen unbestimmten oder utopischen Zielen (auch wenn das in den sechziger Jahren noch half, wenigstens ein bißchen davon zu realisieren). Es scheint, daß ein Sicheinrichten im Zwischenzustand, in der Anomie des X, seinerseits die Stabilität erreicht hat, die einem Beobachter als „eigenständige Kultur“ erscheint. Norman Mailer war es 1957 zumindest zum ersten Mal möglich, die Vorstellung (den Irrtum) zu benennen, die weiße (und schwarze Mittelklasse-) Bohemiens so dauerhaft an schwarzer Volks- und Massenkultur fasziniert, als er „The White Negro“ schrieb. Der Free-Jazz-Pianist Cecil Taylor beschreibt das Verhältnis von der anderen Seite. In den fünfziger Jahren studiert er die europäische Avantgarde und ihre amerikanischen Verbündeten, von Stockhausen bis Cage: „(Cage) doesn’t have the right to make any comment about jazz, nor would Stravinsky have any right to make any evaluations about jazz, because they don’t know the traditions that jazz came out of. I’ve spent years in school learning about European music and its traditions, but these cats don’t know a thing about Harlem …“ und: „David Tudor is supposed to be the great pianist of modern Western music because he’s so detached. You’re damned right he’s detached. He’s so detached, he ain’t even there. Like, he would never get emotionally involved in it; and dig, that’s the word, they don’t want to get emotionally involved with music. (…) For them the ultimate in kicks is to be a machine.“35 Nur im Zwischenzustand, nur im X zwischen Europa und Afrika, zwischen Anglo- und Afro-American, ist Emotionalität noch möglich. Hierhin folgen ihm die Beatniks, dig? Aber sie kommen woanders her und wollen woanders hin.
In seinem Grazer Vortrag erklärte Greil Marcus auch, wie er überhaupt dazu kam, sich für Johnson zu interessieren. Als Aktivist der Studentenbewegung von Berkeley und faszinierter Beobachter der allgemeinen Jugendkulturrevolution der späten Sechziger, von tiefer Trauer über ihr Scheitern ergriffen, besann er sich, gerade im Begriff, zum professionellen Rockkritiker zu werden, der er noch heute ist, auf die Wurzeln der Musik, die er liebte: Wovon handelte sie eigentlich wirklich? Wovon sprachen die Bluessänger, deren Songs Cream und Rolling Stones gecovert hatten? Eine Woche, nachdem er in Altamont erlebt hatte, wie der Authentizismus der Hippie-Kultur sich, komplementär zum echten Regen und echten Sex von Woodstock, mit authentischem Blut getauft hatte, ging er in einen Plattenladen und kaufte sich Robert Johnson – The King Of The Delta Blues. Dies erzählt er uns wiederum als Antwort auf die Frage „Was ist Social History?“, die ihm die Veranstalter des Grazer Symposions gestellt hatten. Dazu hatten sie ihn gebeten, zwei Texte zu lesen, deren einer T.J. Clarks „On Social History“ war. Dieser Text, der im Laufe der Zeit zur Grundlegung einer kunstgeschichtlichen Richtung geworden ist, war das erste Kapitel von Image of the People.36 Geschrieben hat Clark dieses Buch über Gustave Courbet, von tiefer Trauer ergriffen, unmittelbar nachdem er sein Scheitern bzw. das Scheitern der in seiner Umgebung aktiven Stundenten- und Jugendbewegungen von ’68 erlebt hatte, dem King Mob und der Situationistischen Internationale in London, deren Mitglied er gewesen war. Auch er fragte sich, auf seinen Fall bezogen: Was meint das eigentlich, daß wir uns als wildgewordene Bohemiens für eine politische Kraft halten, worin hat dieses Modell eines revolutionären Künstlers seine Wurzeln, was bedeutet es eigentlich? Und er schreibt die Geschichte Courbets und der Pariser Boheme rund um die 48er-Revolution. Dabei entdeckt er, daß das Modell der Boheme in erster Linie eine gelebte, soziale Karikatur war, in ihm fanden sich wie und warum auch immer von der Dynamik des Paris des 19. Jahrhunderts entwurzelte oder beflügelte Gesellen, die ihre Fremdheit als Parodie oder nur Imitation neuer sozialer Rollen der wirklichen Welt codierten. Jeder neue soziale Typus habe in Bohemia sein Pendant gehabt, seine Verzerrung, Übertreibung, sein Spiegelbild. Seinen Signifying Monkey. „The effectiveness of the Bohemian style was this: in a city which still half believed in the first dreams and ideals of capitalism, in the fairy world of arcades, exhibitions, the bazaar, the entrepreneur and the vote for everyone, the Bohemian caricatured the claims of bourgeois society. He took the slogans at facevalue; if the city was a playground he would play; if individual freedom was sacrosanct then he would celebrate the cult twentyfour hours a day; laissez faire meant what it said. The Bohemian was the dandy stood on his head: where the dandy was the bourgeois playing at being an aristocrat (hence his pathos), the Bohemian was the bourgeois playing at being a bourgeois – the heroic, absurd, mythical bourgeois of 1789 (One could say that the Bohemian style only works in a capitalism with a myth of itself, a belief in its future. Hence the failure of its British variants; hence its reappearance in California.)“37
Das Scheitern des Versuchs, die Welt zu verändern, beflügelte offenbar die Lust Greil Marcus’ und T.J. Clarks, sich der Geschichte zuzuwenden (also anderer Leute Scheitern zu beobachten). Und etwas verdächtigender: Die historische Analyse der Wurzeln dessen, das die „weiße“ Jugend/Mittelklasse-Rebellion sich als fremde Träger, Codes ihrer eigenen, unanalysierten Unzufriedenheit ausgesucht hatte, relativiert diese entweder zur Episode von Sozialgeschichte oder sucht eine Beziehung über überzeitliche, existentielle Wahrheiten herzustellen (in den Fällen Clarks und Marcus’ jeweils mit den schönsten Ergebnissen, die uns enormen Gewinn bringen, aber das sei erst mal egal). Das wäre sozusagen der Zugang zweiter Ordnung. Nachdem das affektive Besetzen in der Jugendrevolte durch deren Zerschlagung (oder vielleicht auch durch das Eintreten in ein Alter, das das Mitmachen bei nur durch Jugendlichkeit bedingten Revolten nicht mehr zuläßt) gestört wurde, setzt eine historische Reflexion ein, die die primäre Besetzung einer „fremden“ Musik/Ästhetik/Lebensform entweder in eine historische und sozial bedingte Kontinuiät integriert (und durch das Erkennen dieser Bedingtheit entschärft) oder sie als sympathisierendes Einverständnis mit einer ewigen menschlichen Wahrheit kennzeichnet. Solches Vorgehen gibt die Hoffnung auf, den jeweils nächsten Schritt verstehen zu können, den der soeben noch affektiv besetzte Gegenstand macht. Clark wie Marcus versäumen den affektiven Zugang zu den Nachfolgern des Situationismus (Punk) ebenso wie zur nächsten Stufe schwarzer Musik (Hip-Hop). Bei aller Begeisterung für die Musik von Public Enemy lehnt Marcus ihre Militanz ab, weil sie nicht die „richtige“ Militanz ist (bei allem Verständnis für seinen Ekel vor der Beziehung Public Enemys zu Louis B. Farrakhans schwarzem Antisemitismus, die ein enormes Problem darstellt: Ihre Militanz erschöpft sich nicht in diesem Antisemitismus). Es gab noch nie die richtige Militanz aus der Perspektive des Historikers, aber in jedem neuen produktiven Mißverständnis von Militanz ist das alte enthalten. Die Verweigerung der (wie die Spiegelung in den) letzten weißen Zuschreibungen gehen – positiv, negativ – ein ins Signifyin(g). Einerseits erkennbar in der Präferenz der Hip-Hop-Militanz für staatengründende Modelle von Dissidenz (Black Nation, Nation Of Islam, „Let’s build a nation!“, „How we gonna make the Black Nation rise?“), gegen die die linksradikale, „revolutionäre“ Rhetorik eines Hip-Hop-Radikalen wie KRS-One die Ausnahme bildet: „We got to stop the violence and start the revolution. By any means necessary. Some people wanna stop the violence with a flower. We’re not living like that. Some people wanna stop the violence with a banner. We’re not living like that either. If negativity comes with a 22, positivity comes with a 45.“38 Beiden gemeinsam ist, daß die schwarzen militanten Sixties – im Gegensatz zu den weißen Sixties – weder für ein Revival noch als Kontinuität zur Verfügung stehen. Die Liquidierung der Black Panther durch das FBI war ziemlich erfolgreich. Trotz der Popularität des durch den Einfluß und Kontakt mit afrikanischen Befreiungsbewegungen vom Muslim-Separatisten zum linken Pan-Afrikanisten gewandelten Malcolm X bleibt die Orientierung an dem konservativen – und zumindest der Anstiftung des Mordes an Malcolm X verdächtigen – Elijah Muhammad dominant. Schließlich hat Louis Farrakhan die ursprünglichen Prinzipien Muhammads in der heutigen Version der Nation Of Islam wieder stark gemacht (nachdem Muhammads Söhne sie aufgegeben hatten): Separatismus, Unterordnung der Frau, Homophobie, mythologische Erklärungen zur Entstehung der weißen Rasse als gezüchtete Teufel. Ice Cube bekennt sich offen zur Nation Of Islam (N.O.I.), zum islamischen Recht, zum Auge-um-Auge-Prinzip, Daddy-O warnt vor schwachen Auslegungen der Religion und nennt als starke männliche Führer auch Muhammad und Farrakhan, Public Enemy bekennen sich zu Farrakhan (auch wenn sie öfters abweichend vom Muslim-Dogma mit Weißen kollaborieren). Die erst zurückhaltende N.O.I. hat ihrerseits angefangen, Hip-Hop-Bands und -Managements zu infiltrieren und in einem Buch, Nation Conscious Rap39, die Bewegung für sich reklamiert. Besonders populär sind die sogenannten 5%er, eine weitere N.O.I.-Abspaltung, die sich auf die Lehren von Clarence 13X beruft und der Bands wie Leaders Of The New School, Brand Nubian, Poor Righteous Teachers, Just Ice u. v. m. angehören. Beide Seiten sind also Historiker geworden. Denen, die die Geschichte der Dissidenz schreiben, stehen die gegenüber, die die Geschichte der Black Nation – man muß schon sagen – erfinden.40
Unter Adornos zahlreichen Ausfällen gegen Jazz fällt immer wieder auf, daß er sinngemäß der schwarzen Musik vorhält41, in ihrer Monotonie, die nichts anderes als ein Ausdruck von Entfremdung etc. sein könne, sei sie auch noch fröhlich, genieße ihre eigene Entfremdung. (Worin natürlich auch Hegels „Die Neger |…] sind als eine aus ihrer uninteressierten oder interesselosen Unbefangenheit nicht heraustretende Kindernation zu fassen“ nachklingt). Diese Rede setzt sich fort bis in die Spalten der Frankfurter Rundschau des Jahres 1991: „Wer bei Befreiung auf Monotonie setzt statt auf Phantasie, wer die Muster der Gesellschaft, von der man sich unterdrückt fühlt, steigert, anstatt sie zu verändern, wird entweder überhaupt nichts erreichen oder auf neue Formen der Unterdrückung hinarbeiten.“ Schreibt ein Michael Rieth42 über einen Hip-Hop-Abend. Man lasse sich nur das „anstatt sie zu verändern“ oder auch „neue Formen der Unterdrückung“ auf der Zunge zergehen. Wir finden lustigerweise hier genau die Beschreibung dessen, was Clark als die zentralen Elemente der sozialen Organisation ästhetischer Dissidenz beschreibt: „Steigerung der Muster der Gesellschaft“. Wir alle wissen hingegen aus eigener Anschauung, was passiert, wenn Leute sich auf die Phantasie und ihre gesellschaftsverändernde Macht berufen, vom Festival of Fools bis zur Totenkunst der Heller und Syberbergs. Umso interessanter, daß „die Steigerung der Muster der Gesellschaft“, die natürlich keine Steigerung ist, sondern eben jene Imitation, Parodie, „dance of the intellect among words“, vertikale „ signification“ über die Muster der Gesellschaft, mit denen man sein eigenes Gespaltensein auszumachen hat, eine Kontinuität kennt, die Courbets Kreis mit Greg Tates Beobachtung von der Gespaltenheit des schwarzen Intellektuellen wie mit dem „Signifyin(g)“ verbindet: „Du Bois talked about black folks and double consciousness. I think if you’re a black intellectual you got quadruple, sextuple, octagonal consciousness beaming around your brain. You’re always trying to square things that have no loners and hard edges. Like where Africa ends and Europe begins.“43 Jazz hat europäische Musiken bearbeitet oder verarbeitet wie heute Hip-Hop neue Technologien, als eine schon fertige Maschine, mit der man etwas macht, was nicht vorgesehen ist.44 Statt also, wie von Cecil Taylor der Moderne attestiert, die „Kreativität“ bis zum Maschinellen zu formalisieren, könnte man das Maschinelle als gegeben nehmen und sich in einer faszinierten Differenz zur Maschine erfinden (die aber nie hinter die Maschine zurückgehen kann). Demgegenüber wäre das eigene Eigene, das man aus dem Nichts, phantasievoll gesellschaftsverändernd, der falschen Sklavenhalterwelt gegenüberstellt, ebenso eine bürgerliche Illusion von FR-Schreibern, wie es machtlos wäre, Folklore. Das „black self“ findet seine Differenz erst im Umgang mit dem schon Fertigen, Abgeschlossenen der „weißen Kultur“. Das Besondere an der Musik der schwarzen Amerikaner war schon immer gerade, daß sie Bestehendes aufgriffen, formal ziemlich intakt ließen und über kontextuelle Verschiebungen und Verzerrungen verwandelten. Oder über andere Mittel, die sich weder „inhaltlich“ noch „formal“, eher mit Begriffen aus dem Spektrum der „attitudes“ (wie z. B. „cool“) beschreiben lassen; sie gewannen Form in Groove, im Beat, im Gospel-Ritual und seinen säkularisierten Verwandten und in deren Gemeinsamem: Signifyin(g). Gegenüber emotional codierten Aspekten der Melodie wird die von europäischen Ohren als Gleichgültigkeit, Gedudel empfundene Coolness bewahrt, in winzige rhythmische Verschiebungen wird der ganze Einsatz investiert. Von der Polka oder Blaskapelle bis zum wohltemperierten Klavier, von Hindemith bis zum Sampling-Computer sind die Erzeugnisse europäischer „Phantasie“ für die schwarze Musik große gesellschafts- oder staatsanaloge Maschinen, mit denen man am besten umgeht, wenn man ihre Wichtigkeitsindikatoren und ihre hierarchische Bauweise oder Bedienungsanleitung unbeachtet, aber (und also) ganz läßt, und stattdessen eine Steckdose findet, mit der man sie an den Groove ankoppeln kann. Natürlich gibt es diesen Zwischenzustand nicht als permanenten, er besteht aus lauter Momenten der Identifikation und (freiwilliger oder unfreiwilliger) Zurückweisung, was mit den Gespaltenheitszuständen korrespondiert, die der „Black Bohemian Nationalist“ Greg Tate beschreibt und das der Boheme-Idee so nahe steht, daß man das alles nicht ernstnehmen kann, aber dann doch wieder ganz entsetzlich ernst nehmen muß. Wie das Verhältnis von Jazz zu europäischer Musik der des Signifyin(g) zum Signifikaten der „weißen Kultur“ entspricht, hat Gates anhand von Coltranes „My Favourite Things“ gezeigt.“45 An diesem Beispiel, Coltranes Improvisation über einen im Original von Julie Andrews gesungenen Musical-Song46, läßt sich auch zeigen, wie der Aspekt der Relativierung, des schmunzelnden Einverständnis, ja des Humorigen überhaupt, das für uns zu Nachäffen, Parodie und Ironie gehört, mit Signifyin(g) nichts zu tun haben muß. Eher hat es mit der der Jazz-Improvisation eigenen „propensity to talk around a subject, never coming to the point“ zu tun, wie Gates Roger D. Abrahams, den ersten Wissenschaftler, der über Signifyin(g) gearbeitet hat, zitiert.47 Gerade bei Coltrane, der häufig besonders abgeschmackte Melodien aufgriff, liegt es den meisten Zuhörern fern, belustigt zu sein oder Humor zu entdecken. Noch verwirrender sind für viele die Kinderlied- und Zirkusmelodien, die ein radikalerer und brutalerer Saxophonist, Albert Ayler, um dieselbe Zeit aufgriff, ohne jede denunziatorische Absicht. „ Improvisation is the play of black differences“, zitiert wiederum Gates Kimberly W. Benston.48 Black differences unterscheiden sich von den weißen dadurch, daß sie sich nicht auflösen wollen, nicht in etwas Neuem aufgehoben werden wollen, sie finden sich eben in der Differenz zum schon Vorhandenen, im Dehnen und Zusammenschnurren dieser Differenzen. Daher kann ein Ergebnis der Parodie, Imitation oder Coverversion, gegen oder für die Vorlage, nie – wie aus Europa gewohnt – das letzte Wort haben. Signifyin(g) ist, wie Improvisation, prozessual und kann kein Resultat erzielen.
III
Signifyin(g) Noise
Es liegt eine neue Situation vor, wenn heute 1.) Signifyin(g) nicht mehr sozusagen zwischen den Zeilen des Textes stattfindet oder nur im musikalischen Umgang (Improvisation z. B.) mit vorgegebenen Formen, sondern im Mittelpunkt der aktuellen schwarzen Kultur steht, nämlich beim Hip-Hop; 2.) der Sampling-Computer nicht nur erlaubt, die gesamte vorhandene Musik kalt abzurufen und umzubauen, was ein Zu-sich-selbst-Kommen der schwarzen Musik und ihrer Methoden in einer neuen Maschine entspräche; und 3.) die aus dem Signifyin(g) hervorgegangenen rhetorischen Figuren in der Rede zeitgenössischer Militanz den Status von Argumenten erhalten.
Louis B. Farrakhan pflegte seine Zuhörer, nachdem er sie mit dem Muslim-Gruß „As Salaam-Alaikum“ begrüßte, darüber aufzuklären, warum die geläufigen Grüße in den USA für African-Americans nichts taugen können.49 „Hello?“, nun die Hölle (Hell) sei immer schon low gewesen, „Hi?“, African-Americans seien lange genug auf die falsche Weise „high“ gewesen, etc. Jalal Nuriddin, Dichter und mit den Last Poets Vorläufer der heutigen Rap-Künstler, interpretiert die Inschriften der amerikanischen Geldscheine, indem er aus den lateinischen Wörtern neue Bedeutungen herauslöst50, beurteilt die Kraft der Kunst, indem er herausfindet, daß „art is the rootword of heart. He Art.“ Und: „Wenn ich sage: Costa Rica – bedeutet das: Küste der Reichen. Wenn ich sage: Puerto Rico – bedeutet das: Hafen der Reichen. Wenn ich sage: Ame Rica – bedeutet das: Die Herrschenden Reichen.“51 Professor Griff, gefeuerter Public-Enemy-Informationsminister, spricht von der library als dem Platz, where they bury the lies, und fand es klar, daß die „Juden den Juwelenhandel kontrollieren“, schließlich komme jewelry von jew.52
So hört es sich an, wenn Signifyin(g) aus seiner Funktion in Alltagstalk, Poetry, Musik herausgenommen wird, wenn es statt eine Differenz zu konstituieren, vereinigen und zusammenschließen soll (wenn auch im Namen eines Separatismus), wenn es in die US-Medien-Demokratie fällt, seine „kritische“ oder distanzierende Funktion aufgibt und plötzlich sich mit einem argumentativen Diskurs mischt: wenn auf Signifyin(g) Staaten gegründet werden sollen. Von Jalal Nuriddin gibt es mittlerweile Manifeste, die komplizierte Argumentationsketten auf der Logik von Signifyin-Witzen aufbauen. Er nennt seine Methode Spok-eo-Graphics (und spricht damit auch einen anderen gerne betonten Aspekt des signs im Signifyin|g] an: den visuellen. Die Schwärze des Buchstabens auf dem weißen Papier, seine Positivität). Noch Farrakhan benutzte vor allem als schmückendes Beiwerk, Rhetorik eben, was bei militanten oder Consciousness-Rappern wie Professor X oder Pure Righteous Teachers53, erst recht bei ihrem Publikum, bereits die Argumentation regelt. Gleichzeitig benutzen Hip-Hop-Musiker, die die begleitende Musik zu solchen Argumenten herstellen, eine Maschine, die nicht nur über alle Töne so gebietet wie die Sprache über ihre Zeichen: Seit Sampling wird Musik nicht mehr gespielt, sondern abgerufen. Doch Hip-Hop-Sampling legt, im Gegensatz zum sauberen Drum-Sampling in immer mehr Mainstream-Rock-Produktionen, besonderen Wert auf Nebengeräusche, auf Noise, sowohl im fast futuristischen/avantgardistischen Sinne von Public Enemy („Bring Da Noise!“), vor allem aber auch als Zeichen von Geschichte (das Rauschen gesampelter, alter Platten, Reden schwarzer Führer, Filmdialoge aus Blaxploitation-Filmen, natürlich Scratchen und Tape-Rewinds) oder einfach als klassische Grooves: Geschichte schwarzer Musik. Aus der schwarzen Musikgeschichte wählt das Sampling – auch technisch bedingt – allerdings mit Vorliebe die Breaks und Intros, nie die Teile, die Melodien, Themen und Motive konstituiert haben (die Speicherkapazität bei den geläufigen Modellen ist dafür auch noch nicht groß genug). Statt sich also zu beziehen auf die schwarze Verfahrensweise, mit Genres als fertigen Modellen und Maschinen umzugehen, bezieht sich der Sampler auf die dabei abgefallenen Nebengeräusche als auf das sozusagen endlich entdeckte, ansteuerbare immer schon „Eigene“am Signifyin(g), das parallel dazu den Status erhält, selbständig Argumente zu tragen.
Ein ähnlicher Vorgang ist ja in den Strategien der Boheme zu beobachten. In dem Maße, in dem der Anteil der Imitation und Parodie an dissidenten ästhetischen Praktiken aufgewertet wird, zuungunsten der Erfindungen und des Fortschritts, in dem Maße, in dem postmoderne Künstler T. J. Clark nachträglich recht geben (oder einfach aus derselben Situation heraus arbeiten, von der aus er Geschichte geschrieben hat), kehrt das Eigene zurück als die Nebengeräusche, die während der Imitation entstanden sind – mehr und mehr isoliert vom Vorgang der Imitation. Der Genuß konstituiert sich im Anerkennen der eigenen Differenz zum bearbeiteten oder affektiv besetzten Material. Weiße Hip-Hop-Fans sind vielleicht die erste Jugendkultur, die die Geschichte der Mods mit „Heatwave“ – auch den Hang zu Style-Masken in der ganzen folgenden, immer eng an schwarzer signification orientierten britischen Jugendkultur – weiterführen, sich nicht identifizieren, sondern sich damit identifizieren, sich nicht zu identifizieren.54 Bleiben Fragen: Inwieweit hilft ein solches Denken der Differenz auch einem Denken der Segregation? Und inwieweit reicht es hier, darauf hinzuweisen, daß das genau das ist, was weiße Jugendkultur und Boheme von schwarzer Kultur immer wieder lernen konnte und gelernt hat, Strategien der Separation? Wie weit gilt das noch, wenn der Separatismus55 das Gesicht einer rigiden, frauenfeindlichen, teilweise faschistoiden, teilweise antisemitischen Organisation wie der Nation Of Islam erhält? Und wenn der adaptierte Separatismus weißer Jugendkultur sich zuweilen wie eine Parodie anfühlt – aber keine coole, kontrollierte, wie die des Signifyin(g) –, auf das, was die Kräfte, die die Weltwirtschaftsordnung tragen, ohnehin global durchsetzen: Segregation, Entsolidarisierung und Unübersichtlichkeit von Zusammenhängen, die nicht mehr als verbrecherisch erkennbar sein sollen? Sind insofern nicht die Pakte des Mißverständnisses möglicherweise wertvoller?
Denn jede Ambivalenz, jeder Zwischenzustand, der umkippt in eine Eindeutigkeit, die ihm ein falscher, usurpatorischer Kontext zuweist, wird terroristisch. In der Differenz der Sprachverwendung des Jazz, der Gespaltenheit des Signifyin(g), ja noch im Paradox der Erfindung des Archivs bleibt die Ambivalenz erhalten und stiftet einen Ort, von wo aus Dissidenz handlungsfähig bleibt. Essentialisierung verhindert das. Der „ewige“ Verzicht auf Essenz, das dauerhafte X wird aber auch nur eine neue Essenz (die es jemandem wie mir dann ermöglicht, den Begriff „Black differences“ zu zitieren). Dem wird der strategische, kontrollierte Essentialismus gerne als Strategie entgegengehalten bzw. als der bessere verkauft. Auf der anderen Seite ist vom Standpunkt des Machtlosen aus jeder Essentialismus, nicht nur der bewußt vorübergehend eingenommene, strategisch: Wer nicht die (definitorische) Macht hat, kann auch nicht essentialisieren, er kann aber zum Opfer der Essentialisierungen durch die Macht werden, denen er nicht entgeht, wenn er sich nur gegenläufig essentialisiert oder meint, dem Spiel der essentialistischen Zuweisungen zu entkommen. Greg Tate nennt sich Anti-Anti-Essentialist und bleibt damit zumindest dem Programm seines Black Bohemian Nationalism treu. Stärker als alle Programme ist unter chaotisch kapitalistischen Bedingungen das Produkt der Kulturindustrie und seine Verführung. Ice-T sah das richtig, als er sagte: „The problem is a white kid listening to a black man’s lyrics, but the real problem is a white girl falling in love with a black man.“56 In dieser Verführung liegt die Chance, die Mißverständnisse in der Schwebe zu halten, die Essenzen zu dekonstruieren, aber eben auch die Möglichkeit einer Fütterung noch jeder Barbarei auf diesem Globus mit der Energie schwarzer Musik.
- Besonders gut dargestellt bei Amiri Baraka, „Malcolm As Ideology“, in: Joe Wood, Malcolm X In Our Own Image, New York 1992. ↩︎
- Zwei Texte: Mit dem Phantasma der „Rasse“ räumt am eindrucksvollsten auf: Anthony Appiah, „The Uncompleted Argument: Du Bois And The Illusion Of Race“, in Henry Louis Gates Jr.: „Race“, Writing, And Difference, Chicago 1986. Die legalen Definitionen von „Rasse“ und „black“ in den USA stellt dar: F. James Davis: Who Is Black? – One Nation’s Definition, University Park, Pennsylvania 1991. ↩︎
- Gerri Hirshey, Nowhere To Run – The Story of Soul Music, London 1984. ↩︎
- Smokey Robinson & The Miracles, „The Tears Of A Clown“, u. a. auf: Smokey Robinson & The Miracles, Anthology, Doppel-LP, 1974. ↩︎
- „Speaking in tongues“ bezeichnet das in – nicht nur den schwarzen – Gottesdiensten des Südens bekannte Phänomen der Glossolalie oder Zungenredens, dessen Imitation mit Saxophon und Stimme man etwa von Albert-Ayler-Platten kennt. Dieses singende Lallen des Gläubigen in Ekstase wird als Sprechen in fremden Sprachen, die er nicht kennen kann, aramäisch, hebräisch etc., gedeutet und gilt als Beweis dafür, daß der Heilige Geist über den Betreffenden gekommen ist. Viele Rock’n’Roller der ersten Stunde haben davon gesprochen, besonders Jerry Lee Lewis, vgl. auch Dan Graham, „Rock My Religion“, in: Fareed Armaly (Hrsg.), Terminal Zone, New York 1988; bzw. in Brian Wallis (ed.), Dan Graham – Rock My Religion: writings and art projects, 1965-1990, Boston, MA., 1993, S. 80–95. ↩︎
- Fast alle Versuche, die Besonderheiten des schwarzen Englisch zu beschreiben, benutzen dafür die Begriffe der Rhetorik. ↩︎
- Die leidige, immer wieder gern mit viel Getöse abgeschaffte Unterscheidung zwischen E und U, high und low, Kunst- und Popularmusik schlage ich vor, folgendermaßen zu retten: Kunstmusik ist solche, die von ihrem Publikum Spezialisierung verlangt, Popularmusik solche, die das nicht tut. Da die meiste Popularmusik heutzutage auch, zusätzlich vom breiten Publikum, von Spezialisten rezipiert wird und darauf auch schon lange reagiert, ohne deswegen ihre populäre Funktion aufzugeben, kann es Musik geben, die beides ist. Cool Jazz war aber, mehr noch als Free Jazz, eine Musik, die nur von Spezialisten gehört wurde. ↩︎
- Der andere entscheidende Interessens-Unterschied zwischen den Jazzern der Fünfziger und der neuen schwarzen City-Arbeiterklasse war natürlich der, daß Jazz-Musiker, spätestens seit Charlie Parker oder Duke Ellington, den Kampf um Anerkennung als Künstler-Individuen unter großen Opfern gekämpft und gewonnen haben. Ein auch von mir verwendeter Oberbegriff „Schwarze Musik“ stellt in seiner soziologisierenden, Individuen weniger als Gattungen und ihre Bedingungen berücksichtigenden Tendenz angesichts dieses Kampfes auch einen partiell entmündigenden Rassismus dar. In dem Maße, in dem Jazz aber an dieser Front kämpfte, stand er für schwarze Massenkultur nicht mehr zur Verfügung. ↩︎
- Motown übernahm dabei zunehmend die Rolle der „Traumfabrik“, Stax oder kleinere Südstaaten-Label wie Hi standen für das, was der weiße Connaisseur gerne als Authentizität lobt, in Wahrheit wohl eher für die unterschiedlichen Bedürfnisse städtischer und ländlicher, bzw. mehr oder weniger industrialisierter Communities. ↩︎
- Otis Redding, „Respect“, 7″, 1965, u. a. auf: The Best of Otis Redding, 1972, oder Otis Redding / Jimi Hendrix Experience, Live At Monterrey, 1970. ↩︎
- „Come mothers and fathers throughout the land …“ Bob Dylan in dem Ur-Protest-Song, „The Times They Are A-Changing“. Der Vorwurf an die Eltern ist bezeichnenderweise mangelndes „Verstehen“ („Don’t criticize what you can’t understand …“), während es bei „Respect“ gerade um das Einhalten gewisser Grenzen geht („Just a little bit …“), bei schwarzem Protest im allgemeinen tendenziell immer eher um Selbstbestimmung, In-Ruhegelassen-Werden, bis zum Separatismus, wie es beim weißen um Revolution/Karriere, das Ganze geht. Aretha Franklin: „When I’m with my man, I don’t want no company“ („Dr. Feelgood“). ↩︎
- Aretha Franklin, „Respect“, 7″, 1967, auf unzähligen Samplern. ↩︎
- Dies ist nicht nur durch Anwendungen bei Veranstaltungen, Demonstrationen etc. belegt. Das Wort „Respect“ hat seitdem einen besonderen Sinn in der schwarzen Rede bekommen. Nicht nur etwa bei der das obligatorische „Special Thanks“ auf Hip-Hop-Platten ersetzenden Floskel „Respect is due to …“. Versucht man, Hip-Hop-Künstler auf offensichtliche inhaltliche Differenzen zu Kollegen und Brüdern festzulegen, kommentieren sie die widersprechende Äußerung des betreffenden Kollegen oft stereotyp mit „I respect him for that …“. ↩︎
- „Der Geist wird nicht ohne Gesang herabsteigen“, schreibt LeRoi Jones (alias Amiri Baraka) in Blues People und weist darauf hin, daß der Schutzraum Kirche, von dem auch hier die Rede ist, natürlich nur die mehr oder weniger ländlichen Gemeinden des Südens meint: „Die Kirchen der Mittelklasse propagierten stets die völlige Anpassung des Negers ans weiße Amerika. Die baptistischen und methodistischen Kirchen der Mittelklasse kämpften mit aller Kraft gegen jene Formen des Christentums, die sich die Schwarzen im ländlichen Süden angeeignet hatten. (…) Sie wollten sich von ihrem eigenen Volk trennen, um in Amerika aufgenommen zu werden.“ LeRoi Jones, Blues People, dt. Ausgabe, Wiesbaden o.J.,S. 169ff. ↩︎
- Martha & The Vandellas, „Heatwave“, 7″ und gleichnamige LP, 1963. ↩︎
- „Money“ wurde Ende der Fünfziger zuerst von Barrett Strong aufgenommen. Später haben den Song, mit dem sein Autor Berry Gordy sich das Startkapital für seine Firma Tamla Motown verdiente, unzählige Künstler gecovert, darunter viele wichtige Motown-Acts. ↩︎
- Nelson George, The Death Of Rhythm’n’Blues, New York 1988, S. xi f. ↩︎
- Henry Louis Gates Jr., Figures In Black – Words, Signs and the „Racial“ Self, New York 1987, S. 235ff. ↩︎
- Ezra Pound, Literary Essays, hrsg. von T.S. Eliot, London 1968, S. 25; zitiert nach Peter Fuchs, „Vom schweigenden Ausflug ins Abstrakte. Zur Ausdifferenzierung der modernen Lyrik“, in: Fuchs/Luhmann, Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 1989. Auch Henry Louis Gates Jr. zitiert Pound mehrfach, z. B. mit diesen Gedichtzeilen: „Singing a different stave, or closely hidden / Oh there is precedent, legal tradition, To sing one thing when your song means another“ (aus: „Near Perigord“), Gates, Figures, a. a. O., S. 167. ↩︎
- Generell und weitschweifig dazu: Diedrich Diederichsen, 1.500 Schallplatten, Köln 1989, S. 11-19; und ders., Popocatepetl, Graz und Madrid, 1989, S. 110-174. Kürzer und prägnanter Nelson George: „Indeed, at a time when lynching in the South reached this century’s peak, F. Scott Fitzgerald used ‚the Jazz Age‘, to describe a period of white indulgence – an indulgence that led them to explore, more for amusement than edification, the ‚primitive‘ artistic expression of blacks.“ George, Death Of R’n’B, a.a.O., S. 9. ↩︎
- Fuchs/Luhmann, Reden, a. a. O., S. 146f. ↩︎
- Martha And The Vandellas, „Nowhere To Run“, 7″, 1965, auf LP u. a.: Greatest Hits, 1966. ↩︎
- Beide Songs interpretierte am prominentesten Curtis Mayfield, den Gospel-Traditional „People Get Ready“ mit den Impressions, LP und 7″, 1965, sein eigenes „Move On Up“ auf der LP Curtis, 1970. ↩︎
- Gwen Guthrie, „Nothing’s Going On But The Rent“, 12″, 1987. ↩︎
- Der von den oben genannten und diversen anderen Interpreten, darunter auch besonders schön von den Flying Burrito Brothers (auf: The Gilded Palace Of Sin, 1967) aufgenommene Song stammt von den Memphis-Songwritern und Produzenten Chips Moman und Dan Penn. James Carr, „The Dark End of the Street“, 7″, 1967; Clarence Carter, dto. auf: The Best Of Clarence Carter, 1971 – vgl. auch sein Album Testifying, 1971. ↩︎
- The Beatles, „You Never Give Me Your Money“, auf: Abbey Road, 1969. ↩︎
- Norman Mailer, „The White Negro“, in: Advertisements For Myself, New York 1959, S. 340f. ↩︎
- Grateful Dead, „I Know Your Rider“, besonders euphorisch auf: Vintage Dead, 1966, erschienen 1970; aber auch auf Europe 72, 1972, und späteren Live-Alben. ↩︎
- Zitiert aus dem Gedächtnis, nach einer Nummer von Artforum der zweiten Jahreshälfte 1990. ↩︎
- Greil Marcus, Social History als Schatten, in: Texte zur Kunst, 2/91, S. 55–63 (deutsche Fassung des Grazer Vortrags). ↩︎
- Marcus, Social History, a. a. O., S. 62f. ↩︎
- Jones, Blues People, a. a. O., S. 11. ↩︎
- Gates, Figures, a. a. O., S. 115. ↩︎
- Guy Debord, Panegyric, London und New York 1991 (Orig.: Paris 1989), S. 10. ↩︎
- In: A.B. Spellman, Four Lives In The Bebop Business, New York 1985, S. 34ff. ↩︎
- Timothy J. Clark, Images of the People – Gustave Courbet and the 1848 Revolution, London 1973, S. 9–20; sowie ders., „On the Social History of Art“ wiedergelesen, in: Texte zur Kunst, 2/91. Darin auch die deutsche Fassung des ersten Kapitels von Images …: „Zur Sozialgeschichte der Kunst“. ↩︎
- Clark, Images, a. a. O., S. 34. ↩︎
- Boogie Down Productions, „Kenny Parker Intro“, auf: Live Hardcore Worldwide, 1991. ↩︎
- Joseph D. Eure / James G. Spady, Nation Conscious Rap, New York und Philadelphia o. J., darin finden sich u. a. die Außerungen von Daddy-O und eine Menge mehr hanebüchenes Zeug. ↩︎
- Vgl.dazu: Malcolm X, The Last Speeches, New York 1990 (hrsg. v. Betty Shabazz). Aber auch: Greil Marcus, Lipstick Traces On A Cigarette – A Secret History Of The 20th Century, Cambridge 1989. Marcus hat die Problematik, von der ich rede, durchaus erkannt und in diesem Buch berücksichtigt, indem er vermieden hat, eine Geschichte des Scheiterns (von Dissidenzbewegungen) zu schreiben, sondern die Perspektive des Wiederauftauchens bestimmter Motive in den Vordergrund stellt, mit der Gefahr der Mythologisierung (vgl. auch meine Rezension seines Buches in Artforum, 11/ 89). Die Orientierung vieler Hip-Hop-Musiker an der N.O.I. und den 5%ers hat unterschiedliche Ausmaße: von Glaube bis Orientierung („I’m interested in the situation, that’s why I’m down with the Nation“, Gang Starr). Lakim Shabazz z. B., noch vor wenigen Jahren dogmatisch-strenger 5%er, hat nach diversen Reisen eine ähnliche Wandlung durchgemacht wie Malcolm X. Die Differenzen werden aber nicht ausgetragen, sondern interessanterweise als Differenzen bejaht und respektiert (vgl. „Respect“). Die Bezeichnung 5%er verdankt sich der Einschätzung, 85 % wissen nichts, 10 % wissen, aber handeln nicht oder im Dienste der Herrschenden, 5 % wissen und handeln im richtigen Sinne. ↩︎
- Anregend kommentiert in: Robert Schurz, Ethik nach Adorno, Frankfurt am Main 1985, oder in: Jacques Attali, Noise, New York 1987 (frz. Fassung: Paris 1976). ↩︎
- Michael Rieth, „‚Ambitious Lovers‘ und sehr viel Unambitioniertes“, Frankfurter Rundschau v. 16.3.1991. ↩︎
- Greg Tate, „Can This Be The End For Cyclops And Professor X“, in: Wood, Malcolm X, a. a. O., S. 183–190. ↩︎
- Vgl. Diedrich Diederichsen, „Jazz – Die instinktiven Reisen der Leute und die Pfade des Rhythmus“, in: Spex, 1/91. ↩︎
- Gates, Figures, a. a. O., S. 243. ↩︎
- John Coltrane, „My Favorite Things“, u. a. auf der gleichnamigen LP 1960, auf: Live At The Village Vanguard Again, 1965, auf: Coltrane & Dolphy (auch unter anderen Namen erschienen), 1962. ↩︎
- Gates, Figures, a. a. O., S. 239. ↩︎
- Henry Louis Gates Jr., The Signifying Monkey – A Theory Of African-American Literary Criticism, New York 1988. ↩︎
- „7 Speeches by Minister Louis Farrakhan, national representative of The Honourable Elijah Muhammad“, Newport News, Va. o. J., S. 109ff. ↩︎
- Jalal Nuriddin, „E Pluribus Unum“, in: The Last Poets, Vibes From The Scribes, London 1985. ↩︎
- Dirk Scheuring, Interview mit Jalal/Last Poets, in: Spex, 7/89. ↩︎
- Zur Public-Enemy-Antisemitismus-Professor-Griff-Problematik: Günther Jacob, „Der Marsch der Millionen auf die Metropolen“, in: Spex, 6/90. ↩︎
- Professor X, „Years Of The 9“, 1991; X-Clan, To The East Blackwards, 1990; Pure Righteous Teachers, Holy Intellect, 1990. ↩︎
- Das hat die andere Seite, die Nam June Paik schon früh ansprach, wenn er bemerkte, daß die USA die Welt nicht mittels ihrer Raketen, sondern über imperialistischen Export der Rhythmen ihrer daheim nicht zur Macht zugelassenen Schwarzen beherrschen. Und die sich heute zeigt, wenn ein kompletter Kino-Werbeblock, von Langnese über Nike bis Wertkauf, sich ausschließlich schwarzer Grooves, schwarzer Mode und schwarzen Lebensstils bis hin zu romantisierten Ghetto- und Gangster-Szenen bedient. Solch Zynismus hat natürlich auch zur Voraussetzung, daß man das Andere nicht einmal mißversteht. ↩︎
- Zum Konflikt zwischen Separatismus und Integrationismus, Marcus Garvey versus NAACB, Malcolm X/Black Muslim versus Martin Luther King, Farrakhan versus Jesse Jackson, vgl. Nelson Georges Darstellung des Ur-Konflikts zwischen Booker T. Washington und W.E.B. Du Bois und seine Auswirkung auf Schwarze Musik und Entertainment-Branche, in: George, Death Of R’n’B, a. a. O. S. 3–11. ↩︎
- Bodycount, „The Real Problem“, auf: Bodycount, Bodycount, 1992. ↩︎