Bücher: Sechs Bücher, die die Anschaffung vieler anderer erübrigen

Yes, I received your letter yesterday
about the time the doorknob broke
when you were asking me how I was doing
was that some kind of joke?

Bob Dylan, „Desolation Row“

Peter Handke ist Bob Dylan. Ein hochintelligentes, hochgelobtes, Standards setzendes Früh- und Mittelwerk. Dann der Bruch, der Sturz, vom Motorrad, in das, was das Feuilleton „Innen“ nennt, der Verlust der Leichtigkeit, der Versuch, der immer schmerzhaft mit anzusehen ist, nicht mehr nur noch mit der eigenen Zeitgenossenbande zu reden, sondern sich in großen Zusammenhängen einzurichten (Goethe, Gott, Geschichte), einen Platz (Heimat) suchen, das Handwerk lernen wollen, in lebensmüder, gefährlicher Mißachtung der Welt um einen herum, todesmutig Aug’ in Aug’ mit der radikalen Peinlichkeit des Ich, durch die 70er Jahre ächzen. Und dann richten sich wieder die Augen auf diese Leute. Man könnte mal wieder reinhören. Den kann man ja mal wieder lesen. Es erscheinen Platten, Bücher, die wieder gute Sätze, Songs enthalten, um dann wieder zu versiegen, zu verkümmern, im Elend des Idealismus, des Gospel, der totalen Selbstzufriedenheit, die immer in der schonungslosen Selbstkritik eingeschlossen ist. Es ist wirklich schwierig mit den beiden, und keiner darf sagen, daß er mit ihnen fertig wäre. Handke war auch der letzte Star, in jedem Sinne, der deutschsprachigen Literatur, vor der Durchsetzung Bernhards, einer, der ungeschützt und ohne verläßliche Erfahrungswerte wie kein anderer durch das Growing Up In Public durchmußte, wie Dylan. In Nachmittag eines Schriftstellers, dem besten Handke seit langem, so herb-lustig wie auch schmerzhaft peinlich (besser eben: painful), stehen diese Sätze: „Was bin ich? Warum bin ich kein Sänger – auch kein Blind Lemon Jefferson? Wer sagt mir, daß ich nicht nichts bin?“ Nikki Sudden würde es ihm sagen, wenn er ihn fragen würde. Ja, ich habe Ihren Brief gestern bekommen. Als Sie mich fragten, wie es mir geht, glaubte ich, Sie scherzen.

Ja, hier liegen so viele Bücher, die ich für den Spex-Leser-Urlaub empfehle, weil sie in so glückhafter Gleichzeitigkeit und Plötzlichkeit die Geisteswelten verschiedener heute wichtiger, lebender und toter Geister so klar und so zugänglich in jeweils nur einem Buch zusammenfassen. So auch Gesammelte Irrtümer, was gesammelte Interviews mit Heiner Müller sind, eines der wenigen funktionierenden marxistischen Gehirne dieses Planeten. Müller spricht über seine verwirrende, aber von ihm offenbar genossene Lage als in der BRD erfolgreicher, in der DDR privilegierter, mit diesem Staat aber in links-oppositionell-kritischer Haltung verbundener vielgereister Kontrolleur von Zeitgrenzen auf eben diesem Planeten. Hier ist der Mann mit der materialistischen Globalperspektive, der keinen Widerspruch seiner Existenz verdrängt oder verschweigt, sondern alle absorbiert und dazu nutzt, ständig in einem lustigen und eleganten Denk- und Arbeitsprozeß Privattheorie in materialistisches Denken zu verwandeln, sich zwingt, bis an die Grenzen dessen, was dieses Denken aushalten kann, dieses anzureichern. Immer wieder die objektive und politisch objektiven Geographien abschreitend, lange Wege als kurze und umgekehrt beschreibend, die Grenzen der Zeit und des Raumes unter den heutigen Gegebenheiten neu vermessend. An diesem Buch stört nur der bescheuerte Titel, der sich auf eine unerträglich-platte und falsche Brecht-Herr-K.-Geschichte bezieht. Danach kann man Müller-Stücke lesen/sehen (letzteres nur zu selten in befriedigender Weise: „Mein Text ist ein Telephonbuch und muß wie ein Telephonbuch gelesen werden.“).

Im letzten Jahr war die nachwachsende Jugend extrem ergriffen und gerührt von Stefan Austs Geschichte der RAF. Auf was für abenteuerliche Irrwege man doch so geraten könnte. Ach diese armen Menschen! Das waren Zeiten! Pat Herold jagt Billy The Baader. Pastorentöchter und Neurotiker wie du und ich. Ich erinnere mich an Nachmittage in dieser Redaktion, wo Clara und ich versuchten, ergriffenen, jungen Artikelschreibern das Politische am Denken der RAF nahe zubringen, was einigermaßen vergebens war, zu stark die Schicht des frisch verschlungenen psychologistischen Abenteuerromans. Dagegen erschien jetzt ein kleines Buch, Die alte Straßenverkehrsordnung, mit durchweg hervorragenden Texten zu dieser Republik und ihrer heute wieder gerne und romantisch und verlogen geführten sogenannten Gewaltdiskussion, von unter anderem Wolfgang Pohrt, Karl Heinz Roth, den die Hamburger Leserschaft noch kennen sollte, der mir bislang unbekannten, aber sehr guten Gabriele Goettle und von Herausgeber Klaus Bittermann, nebst zwei RAF-Texten.

Gilles Deleuze ist es – soweit das überhaupt möglich und nach dem jetzigen Stand der Lektüre zu beurteilen ist – gelungen, die wichtigste neue philosophische Welt seit 1969, die Michel Foucaults, auf sensationell wenigen Seiten (189) nachzuerzählen, was im Sinne Foucaults (wie im Sinne Deleuzes) die einzig richtige Methode ist. Nach dreihundert deutschen Nörgel- oder Grübelbüchern über Foucault und fünfhundert amerikanischen Trivialisierung-zum-schnellen-Gebrauch-für-den-eiligen-Katalogtexter-Büchern, ein nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst. „Wieder andere aber denken, daß etwas Neues, etwas grundlegend Neues in der Philosophie entstanden ist und daß dieses Werk die Schönheit dessen besitzt, was es verwirft: ein strahlender Morgen“, heißt es auf der ersten Seite. Und in der Tat gibt es nichts Verheißungsvolleres als den Tod des Menschen, auch wenn er vorübergehend in die Hände der Reaktion gefallen sein mag, deren Werk doch eigentlich die Deformation ist, die wir heute als Mensch kennen und bedenken. Und dessen Tod als dieser strahlende Morgen verstanden werden muß, von dem Deleuze spricht, nicht so, wie die rattenhaft den stumpf gewordenen Apparat der alten Kritik verteidigende Philosophie sozialdemokratischer Institution ihn in der Regel liest und gelesen hat.

Ein kleinerer Geist als Foucault (wer ist das nicht?), aber ein großartiger Beobachter und literarisch-philosophischer Comiczeichner ist Jean Baudrillard. Sein Amerika ist um vieles lockerer, unverkrampfter hingeschriebene Spekulationsprosa als die viel beachteten Studien Lyotards zum gleichen Thema. Er sagt in etwa, was wir alle sagen, aber er sagt es mit dem Charme des Reiseführers (nur selten ins Zeitmagazin-hafte verfallend), der jede Entdeckung mit einer neuen Begrifflichkeit versieht, rappend aus dem eben noch zeigenden Zeigefinger gesogen. Andererseits ist er einer, dessen Überwindung von Kritik und Kommunismus, dessen Behauptung über die Macht der USA und die Macht USA in jedem Sinne sich den Vorwurf gefallen lassen muß, der falschen Seite zu dienen. Amerika ist das Paradies, sagt Baudrillard, die verwirklichte Utopie, die gelungene Revolution. Schon klar, korrekt gesehen. Aber es war die falsche Revolution, sein Beispiel lehrt nicht, wie es sein resignativ-kapitulierender Ton nahelegt, daß fürderhin keine Revolutionen mehr zu realisieren wären. Die formale Faszination der Kultur, Geographie und Architektur Amerikas besteht vielmehr gerade darin, daß sie die Realisierbarkeit von Revolution und Glück im Diesseits, im Jetzt als alltäglich und naheliegend und trivial behauptet, woraus uns Europäern aber die Verpflichtung erwächst, das nächste Mal dafür zu sorgen, daß es die richtige wird (vgl. Gorbatschow): Musik: USA / Text: UdSSR. Seit kurzem weiß man, daß vieles vom Besten an Baudrillard von dem großen Guy Debord vorgedacht wurde, aber materialistischer und richtiger, dessen Bücher (vier gibt es in Deutsch) sind bei Nautilus zu haben.

Zum Schluß ein großartiges, aber tragisches Köln-Buch. Aus dem Nachlaß von Rolf Dieter Brinkmann sind die Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch) erschienen. Warum tragisch? Erstens, weil bisher alle Nachlaßveröffentlichungen Brinkmanns besser waren als die zu Lebzeiten erschienenen Texte. Weil Brinkmanns Form diese Formlosigkeit der Tagebuch-Collage war, die er als Gedicht oder Experimentalroman durchzusetzen versuchte und die so immer unter dem bürgerlichen Terror des Gedichts, des Romans litt. Zweitens, weil er all das an den Menschen, seiner Zeit, seiner Umgebung, seines Undergrounds so präzise und richtig haßt, was ab ’77 von unserer Generation mit viel Spaß bekämpft worden ist. Keiner hätte so viel Spaß an Punkrock gehabt wie Brinkmann, der ihn nicht mehr erlebte. Drittens, weil bei ihm die Amerika-Begeisterung, die notwendige, auf eine tragisch-zerstörerische Weise verlaufen ist, indem sie sich auf den europhilen US-Underground bezog, auf den Schatten europäischer Avantgarde in Amerika, die sich doppelt geschattet bei Brinkmann traurig auf seine Texte legt, statt in klaren Gegensätzen und Widersprüchen zu kämpfen. Viertens, weil uns hier nachdrücklich vorgeführt wird, wie At The Right Place At The Wrong Time noch die Allerbesten kleinkriegt (so einer war Brinkmann), vor dem Hintergrund eines 71-73er Muff-Köln, dessen psychogeographische Erkundung ich mittlerweile seit zwei Jahren mit großem Genuß betreibe.

Peter Handke: Nachmittag eines Schriftstellers, Residenz

Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer, Verlag der Autoren

Klaus Bittermann (Hrsg.): Die alte Straßenverkehrsordnung – Dokumente der RAF, Edition Tiamat

Gilles Deleuze: Foucault, Suhrkamp

Jean Baudrillard: Amerika, Matthes & Seitz

Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch), Rowohlt