Nummer eins im Himmel (heut nacht)
Sparks: Change (London)
„Ich fühle mich wie ein Hund, den man auf die Straße geworfen hat.“ Wer hat sich nicht schon mal so gefühlt? Und sich dann eine Zeile gewünscht wie: „Ich weiß, daß Hunde nicht Auto fahren können, aber das ist so ziemlich der einzige Unterschied zwischen uns.“ Kann man sich etwas Aufbauenderes vorstellen? Diese ersten Sätze tropfen noch traurig zu einer verballhornten „Warm-Leatherette“-Sound-Effekt-Triade, doch noch bevor drei Minuten um sind, waren wir in einer Oper, einer Heavy-Metal-Schlacht, am Ende des Regenbogens, an der Biegung des Flusses, um endlich in den Gefilden zu verweilen, wo die Sparks zu Hause sind: Elysium, Heaven, das unsterbliche künstliche Paradies des Bombast-Pop. B-Seite: „This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us“ (Acoustic Version) Diese Welt ist nicht groß genug.
Nummer Eins auf der Erde
Prefab Sprout: Faron Young (CBS/Kitchenware)
Ich sagte es zuvor, ich sage es wieder: Prefab Sprout sind die einzige Gruppe der letzten zwei Jahre, die neue Popmusik machen. Eine typische Mitt-Jahrzehnts-Gruppe: fragil und komplex wie die großen Mitt-Jahrzehnts-Alben von Joni Mitchel („Court & Spark“, „The Hissing Of Summer Lawns“ und „Hejira“). „Faron Young“, als Single in einem dezent humorigen Country-Kostüm („Truckin’ Mix“), ist nicht einmal der beste Track der herausragenden „Steve McQueen“-LP. Diese Musik fällt vom Himmel, wie die Sparks mitten in die 70er gefallen sind, ohne Woher und Wohin, autonom, autochton und autark, wie alles, was man unwillkürlich liebt.
Nummer eins in der Hölle
Nico: My Funny Valentine (Beggar’s Banquet)
Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, daß der Tod. das Leiden, die Auszehrung von Tausenden von Ägyptern durch Prächtigkeit, Haltbarkeit und Minimal-Art der Pyramiden gerechtfertigt sind. Ich bin jetzt 27, okay? Nietzsche gefällt mir allenfalls noch aus stilistischen Gründen, Schopenhauer als bizarrer Griesgram, der aus Lebensunlust eine Philosophie braute, und am „Untergang des Abendlandes schätze ich allenfalls die ausklappbaren Tabellen. Trotzdem sind zehn Jahre Schrott und Auszehrung, romantische wie unromantische Verwahrlosung und die eigentlich doch so billige Geste, nach all den Jahren einen Evergreen mit einem Produzenten aus besseren Tagen aufzunehmen, durch dieses Resultat gerechtfertigt. Oh, Mensch! Diese leere, schwere Stimme, immer noch mit dem kultiviert deutschen Akzent („Waaaahlenteihn, iiietsch deeeeih ies Waaaahlenteihns deeeeeih“), den „Paul“ (Morrissey) und „Andy“ (Warhol) so liebten, singt nach vielen „Saisons en enfer“, als wäre nichts geschehen, zu einem Übungsstundenpiano von John Cale und läßt uns zwischen den Tönen ahnen, was alles passiert ist. Interessiert es, ob die Sphinx Leberzirrhose hat? Oh, ja. Die B-Seite heißt „My Heart Is Empty“ und ist mit Harmonium und Elektro-Beat wirklich traurig und bewegend: Oh Homer, oh John Cale, oh Sisyphos, oh Aischylos! Tod und Teufel!
Nummer eins in den Kommandozentralen der westlichen Welt
The Ramones: Bonzo Goes To Bitburg (Beggar’s Banquet)
Ob die Ramones singen „I’m a Nazi-Schatz and fight for the fatherland“ oder „Rocket To Russia“ oder ihren Präsidenten ganz frech „Bonzo“ nennt, ist völlig egal. Wer glaubt, links ist, wenn man Reagan und Kohl lächerlich findet, irrt natürlich. Denn lächerlich ist an beiden das Fehlerhafte, das Mißlingen. Nur ein Reaktionär, eine miese Ausgeburt der Hölle aber, kann wünschen, daß ihre Art von Politik gelingt. Ein feinsinniger, Böll-Trauerfeiern besuchender Weizsäcker ist allemal gefährlicher als ein lustvoll in die Fallen mangelnden Geschichtsbewußtseins tappender Bonzo. Möge er seinen Darmkrebs recht lange überleben! Was aber an dieser Platte so großartig ist, ist das Politik-als-Comic-Strip-Weltbild, das aus den eingangs zitierten früheren Ramones-Texten ebenso spricht wie aus dieser Platte und dem wunderbaren Billy-Wilder-Film „Eins, Zwei, Drei“. Bonzo, Adolf und Lemmy, der das phantastische „Go Home Ann“ auf der B-Seite der Maxi gemischt hat, als Gegner oder Verbündete von Captain America und Spiderman. So sieht man die Welt in Queens. Und so ist sie wohl auch.
Nummer eins in der U-Bahn
The S-Haters: „White Noise“ (Midnight Music)
Von mir aus können sie ewig Feedback-Lärm machen, die jungen Leute, Boxen kaputtdröhnen und sich vergiften, mit Acid, Heroin und Jägermeister von mir aus, wenn sie dabei nur nicht gelahrt und pfiffig werden und zu kleinen Experten für die 60er heranreifen. Die S-Haters klingen nicht wie eine bestimmte Gruppe der 60er-Lärm-Fraktion, sie klingen wie alle und keine und bezaubernd haltlos. Wenn man nur U-Bahn fährt und kein Licht in die Wohnung, ie. ein Kellerloch aus Hubert-Selby-Romanen, hineinläßt, sollte man die Welt so sehen und beschreiben. Denn so ist sie wohl auch.
Verantwortungsvoller Mainstream (GB)
The Redskins: Bring It Down (Decca)
The Smiths: That Joke Isn’t Funny Anymore (Rough Trade)
Topper Headon: Drumming Man (Mercury)
The Style Council: Come To Milton Keynes (Polydor)
Hipsway: The Broken Years (Mercury)
Win: You’ve Got The Power (Swamplands)
Simply Red: Money’s Too Tight To Mention (Elektra)
400 Blows: Mavin (Illuminated)
Die Redskins sind eine amerikanische Football Mannschaft. Und dann erst mal gar nichts. Dann Indianer. Und erst dann eine britische Band, die die gute Idee hatte, die Liebe zu kahlgeschorenen Schädeln, Leo Trotzki und Tamla Motown engagiert zusammenzuschweißen. Leider zuungunsten von jedem der drei Elemente: Trotzki macht besseren Soul, Berry Gordy hat noch kürzere Haare und in den Köpfen der echten Skins stecken die größeren Eispickel. „Der Witz ist nicht mehr lustig.“ Wer so was sagt, ist ein Arschloch, ein Spielverderber, ein Mistkerl. Ich hab’ nichts gegen die Smiths, einige meiner besten Freunde …, aber sie sind Mistkerle. Topper Headon spielt eine alte Gene Krupa-Nummer gönnt sich ein paar Wirbel – so langsam erfahren wir, aus welch verborgenen Leidenschaften diese ganzen Punk-Bands bestanden; was müssen die sublimiert haben, die armen Kerle! – und eine eher fade Eigenkomposition auf der B-Seite, sicherlich identifiziert er sich mit Nelson Algrens „Mann mit dem goldenen Arm“. Ja, die neuen Style Council sind zugegeben eine flotte Gruppe geworden, aber warum ist dieser Weller immer so unsicher und voller schlechten Gewissens, wenn die Musik manchmal so richtig geil in die postmoderne Scheiße umschlägt und muß dann immer versuchen, durch seinen Gesang die Authentizität zu retten. Ich ziehe jedes Haircut-100-Stück immer noch jedem Style-Council-Song vor. Die neuen britischen Soul-Boys? Ist Paul Weller nicht genug? Doch, aber er wächst aus seiner Rolle heraus. Hipsway machen die beste Figur (trocken, suhlig, Kartoffelchip), dicht gefolgt von Simply Red, die jedoch jedes Wohlwollen durch ihr Video versauen, und Win, die eklektizistische unter diesen Bands, braucht niemand, der um die Schönheiten eines „Word Girl“ weiß. Irgendwo dazwischen 400 Blows: Percussions wie ein Schluckauf, aber sonst, na, nennen wir’s fesch.
Nummer eins auf dem Campus
Weekend: Stella Marina (Virgin)
Man nehme alles, was gut und rechtschaffen ist: ein (weltbekanntes) Mao-Zitat auf dem Cover, den Last Poet Jalal als Rapper, Julie Tippets alias Driscoll als Special Guest, und wenn doch nichts Rechtes dabei herauskommt, war’s Working Week. Jeder für sich ist natürlich gut (Mao, Tippets, Jalal und auch Working Week).
Old Farts Go For It
Jeff Beck/Rod Stewart: People Get Ready (CBS)
Ein klassisches Duo hat wieder zusammengefunden. Und bei so einer militant schönen Ballade wie Mayfields „People Get Ready“ klingen ihre Organe, Rods Stimme und Jeffs Gitte, so schön wie damals, als man noch Margritte-Äpfel auf Schallplattencover tat.
Disco (mit gesprochenen Texten)
Paul Hardcastle/Werner Veigel: 19 (Chrysalis)
Anne Clark: Self Destruct (Virgin)
Für Hardcastle: Alles vergessen und vergeben. Mit der schwulen Veigel-Stimme ist „19“ ein grandioser Witz über das Prinzip des Dokumentarischen und den Glauben an das Authentische geworden. Für Clark: Noch ein Gedicht! Nochmal über Selbstmord! Für eine biogenetische Umwälzung! Neue Lebenspläne: dreißig Jahre Kindheit, dreißig Jahre Pubertät. Wer dann noch lebt, kann die verbleibenden Jahre einem normalen Beruf nachgehen. Wie schlecht diese Platte ist, glaubt mir eh keiner.
Alte Crooner in neuer Heimat
Feargal Sharkey: Loving You (CBS)
Vince Clarke/Paul Quinn: One Day (Intercord)
Roy Orbison: Wild Hearts (ZTT)
Feargal Sharkey hat seinen Song von Human Leagues Jo Callis co-writen und von Durans Roger Taylor co-producen lassen. Die Mixtur aus Abba und Human League ist als solche gelungen, aber nicht als das, was ein Mann tun sollte, der einst von Schokolade erzählen konnte. Dies ist Schokolade, aber zu süße. Vince Clarke und Paul Quinn sind dagegen zwei Talente, die sich auf eher bittersüße Art gegenseitig neutralisieren. Und Roy Orbison, früher so rechtschaffen traurig, debütiert auf ZTT mit einem Song, der aus einem Film stammt, der eine Begegnung von Einstein, Marilyn und Senator MacCarthy schildert – diese Idee konnte nur Nicholas Roeg haben. Keine gute Gesellschaft für so einen ehrenwerten älteren Amerikaner.
Narzißmus (Theorie und Praxis)
Prince: Raspberry Beret (WEA)
Kid Creole And The Coconuts: Endicott (WEA)
Explorers: Venus De Milo (Virgin)
Ich habe „Purple Rain“ nicht leiden können. Narzißmus wird unerträglich, wenn die Gründe, warum ein Narzißt sich liebt, allgemein bekannt sind. Dafür darf er jetzt aus der besten Platte seiner Karriere so viele Singles auskoppeln, wie er will. Er hat jetzt neue Gründe gefunden, sich, und nur sich, zu lieben (Die Zeitschrift „Wolkenkratzer“ hat sich kleinmütig darüber beschwert, daß Prince nicht mit einem Mädchen gehen wollte, das sich weigerte, mit ihm eine katholische Messe zu besuchen. Genau dazu hat er ein Recht. Judy Rifkas Freundin kann sich ja in Zukunft an profilierte Atheisten wie die Gruppe The Jesus And Mary Chain halten). Bei Kid Creole sind alle Gründe für die Liebe zu sich selbst restlos bekannt. August mag Cocktails, und er glaubt, er sei ein Cocktail. Den kann jetzt seine Schweizer Frau alleine trinken. Interessant ist der Fall der Explorers, Ex-Roxy-Musiker die sich einen Sänger geangelt haben, der wie der frühe Brian Ferry klingt: wir basteln uns einen Narzißmus, nach bereits bekannten Schnittmuster und hervorragenden, empirischen Werten. Prächtig!
Disco (mit ausländischen oder sensiblen Sängerinnen, die Cocteau unter der Bettdecke lesen)
Pinkie Maclure/David Harrow: Bite The Hand That Feeds You (INK)
Flo Sullivan: Higher (red flame)
Hard Corps: Je suis passé (Polydor)
Eine gewisse Pinkie Maclure hat sich mit dem Mann zusammengetan der mit Anne Clarke das revolutionäre Projekt der Lyrik/Disco-Fusion verbrochen hatte. Ödes, ereignisloses Gesinge zu ödem, ereignislosen Elektro-Beat. Flo Sullivan ist kein Floh, sondern ein Mäuschen (und Pinkie eine Krähe). Die Musik ist gedanklich genauso öde, geht aber ab (so sagte man früher), und sie ist so ein bißchen ausländisch. Wenn auch nicht so ausländisch wie die Sängerin von Hard Corps, die, ihr werdet es geahnt haben, eine waschechte Französin vorstellt und ihrerseits auch zu einem Elektrobeat singt, zu dem stumpfesten der drei, und zum besten. Als Trash brauchbar.
Disco (anspruchsvoll, komplex, weiß, mit „Blue-Monday“-Nachfolge-Ehrgeiz)
Wiseblood: Motorslug (Wise)
Clan Of Xymox: A Day (4AD)
Front 242: Politics Of Pressure (spv)
„Motorslug“ ist toll, Ein lautes, überbordendes Spektakel. Ein Schreihals zitiert Sätze aus dem „Roadhous Blues“ der Doors und Motorsägenfunk und plumpe, laute Technoeffekte sausen und knallen einem um die Ohren, daß es a Froide is. Clan Of Xymox basteln mit viel Erfolg an der anspruchsvollen, ideenreicheren Version von New-Order-Disco und kommen ganz ohne die Standard-Elektrobeat-Effekte aus, drehen statt dessen zeitweilig ganz ab. Weitgehend unterhaltsam. Front 242 haben dagegen am wenigsten Ideen und am meisten Message, jagen den Namen Ghaddafi durch Echokammern oder wie das Zeug heißt, als gelte es, das Durchschnittsalter gefallener US-Soldaten in Libanon an den Mann zu bringen.
Düsseldorf („I know where I must be, I must be in hell“, Lou Reed) oder Klein-Paris
DAF: Absolute Body Control (Ariola)
Tote Hosen: Battle Of The Bands (Virgin)
Wenn es DAF nicht gäbe, müßte man sie erfinden. Aber sie sind so milde „Checker’s“-Gänger geworden, lebende Cocktails wie der alte August, der milde Mestize aus New York, daß es absolut lächerlich klingt, wenn Gabi von Body und Sex singt. Alte Credos sterben früh. Also: lieber den ohnehin schlappen Disco-Stampf weglassen und gleich Sinatra-mäßig knödeln, was in der Yuppi-Hauptstadt, wo es keine Kneipe ohne Bar-Pianisten gibt, sowieso seit und für Millionen Jahren die hipste Sache ist. Die Toten Hosen, das andere Düsseldorf, ohne Barpianisten, zeigen sich in fünf verschiedenen Verkleidungen aus dem Formel-Eins-Film. Die Fotos der verkleideten Hosen sind allemal lustiger als die musikalischen Parodien, und wenn sie gesprochen als „Flinger Domspatzen“ „Frohe Weihnachten“ wünschen, ist das hübscher, als wenn sie mit lauen Persiflagen irgendwelche leichten Opfer zerleiern. Es wird Zeit, daß wir uns alle recht herzlich bei Insterburg & Co entschuldigen.
