Franzosen haben von jeher eine größere Sensibilität in Fragen des Styling, der äußeren Repräsentation von Haltungen und Ideen. Eine andere Wahrheit über Frankreich, die durch häufige Wiederholungen nicht falsch wird, ist, daß der wichtigste kulturelle Export der letzten zwanzig Jahre die einzigartige Entwicklung von Theorie und Philosophie in diesem Land war, die dem Rest der Welt immer noch ziemlich genau zwanzig Jahre voraus ist.
Und aus genau diesen beiden Ingredienzien setzt sich auch der französische Beitrag zur weltweiten neuen Musik-Bewegung zusammen: Labelpolitik, die von dem bundesdeutschen Komplex „Nur kein Warendesign“ frei ist und einmalige Ideen entwickelt hat, Schallplatten in gröBere Zusammenhänge der künstlerischen Verpackung unterzubringen, und ein ausgeprägtes intellektuelles Raffinement bei der mitgelieferten philosophischen Haltung und Konzeption.
Da dieser Artikel von Sordide Sentimental handeln soll, handelt er nicht von Illusion und nicht von Bain Total, den anderen beiden französischen Ideenproduzenten, die allerdings noch nicht so lange arbeiten und sich bislang weniger profiliert haben, die aber auch weniger Prätention und mehr Frische aufzuweisen haben als die Grübler von Rouen.
Organisator von Sordide Sentimental sind Jean Pierre Turmel und Yves von Bontee, der 1978 die erste Ausgabe einer gleichnamigen Zeitschrift herausgab, die mir allerdings nie unter die Augen gekommen ist. Die Musikwelt wurde aufmerksam, als Throbbing Gristle’s Single „We Hate You, Little Girls“ im DIN A 4-Klappcover mit einem ultra-sensiblen, aus Fotos, Zeichnungen, effektvoll eingesetzten Schmuckfarben zusammengebautem Layout veröffentlicht wurde. Nicht nur, daß TG hier eins ihrer besten Werke den beiden unbekannten Franzosen zur Verfügung gestellt hatten, die Verarbeitung der Musik durch ein faszinierendes Wechselspiel aus extremem Kontrast zur radikalen Musik (verträumte Graphik, softe Farben) und einem äußerst normalen Foto ihrer Produzenten (ein Foto, auf dem TG aussehen wie Steeleye Span oder Fotheringaye, auch wenn Cosey Fanni Tutti natürlich myriadenmal hübscher ist als Sandy Denny – Gott habe sie selig!) erregte die Aufmerksamkeit auch derer, denen der Name Throbbing Gristle seinerzeit noch nichts sagte.
Das dritte Produkt war dann noch aufsehenerregender: Kurz vor Ian Curtis Tod kam die Single „Licht und Blindheit“ von Joy Division mit den Titeln „Athmosphere“ und „Dead Souls“ auf den Markt (den kleinen, alternativen, versteht sich) und traf das Herz des beginnenden JoyDiv-Kults durch seine äußerst ambitionierte Verpackung („prätentiöse Spinner aus Frankreich“, schrieb JoyDiv-Fan Michael Ruff in Sounds); aber der normale JoyDiv-Fan bewegt ja für gewöhnlich Megatonnen Weltganzes in seiner Seele. Nun ja, die limitierte Auflage von 1578 Stück wurde später neu zugänglich gemacht, mit einer schlichteren Verpackung.
Turmel und seine Mitstreiter machten weiter mit einer neuen Auflage von ihrer Zeitschrift, die sie jetzt „Isolation Intellectuelle“ nannten, und da keine Schallplatte beigelegt war, blieb diese Ausgabe auf 300 Exemplare limitiert und war damit quasi unzugänglich. Alle Veröffentlichungen bis zu diesem Zeitpunkt (frühes 1980) sind heute vergriffen.
Noch erhältlich ist die Single von einem Amerikaner namens Billy Synth, die wieder im gewohnten DIN A 4-Klappencover mit der inzwischen identifizierbar gewordenen typischen Sordide-Graphik und einem Text von Yves von Bontee erschien. Der Text „Un orchestre sans tête“ war bislang das profilierteste Statement des rätselhaften Labels, das sich bis dahin nur durch eine vage Affinität zu deutschen Romantikern und Existenzphilosophen auszeichnete. Der (schlecht) auf deutsch und (gut) auf englisch auf einem Beiblatt übersetzte Text wird von einer „Warnung“ eingeleitet, deren kurze Theorie der „publicité“ (in der deutschen Version irreführend mit „Werbung“ übersetzt) entfernt an Gedanken von Jean Baudrillard erinnert. Die Musik von Billy Synth erfreute sich, ähnlich der JoyDiv-Veröffentlichung, eines kleinen makabren Werbegags. Die drei rohen Anti-Songs des Mannes aus Harrisburg fielen in ihrer Entstehung mit dem Reaktor-Unfall zusammen. Aber die Platte ist toll, und der Aufwand von Sordide macht sich erstmals bezahlt, weil hier ein selbst im alternativen Markt chancenloses Produkt durch individuelle Gestaltung die „publicité“ enthält, von der besagter Yves von Bontee sagt, sie sei die „allerletzte Theorie dessen, was existiert“.
Das nächste Produkt in den attraktiven DIN A 4-Plastiktaschen mit dem auffälligen Logo war die zweite Ausgabe von „Isolation Intellectuelle“, die aus Fotos bestand, die die kurz zuvor an Krebs verstorbene Lebensgefährtin von Turmel gemacht hatte (wieder ein makabrer Werbegag und konsequent im Sinne von Bontees Äußerungen, damit bis zum äußersten zu gehen und auch diesen naturgemäß sehr persönlichen Nekrolog zu veröffentlichen). Dazu gab es eine Single der französischen Synthi-Gruppe Ptose Production, die nur auf einer Seite bespielt war und nicht sonderlich bedeutend klang. Das letzte bislang erhältliche Plastiktäschchen enthielt eine Single der Akron-Underground-Pop-Band The Bizarros, die für mich eine der wunderbarsten ernsten Großstadt Pop-Songs seit „There she goes again“ (wer als „Rock Session“-Leser nicht weiß, von wem das ist, ist selber schuld) enthielt: „She’s goin underground / she says, she’s tired of hangin’ round / she’s going underground to the new life that she found“. Dazu gibt es einen mit Kierkegaard- und Thomas Rapp (Pearls Before Swine-Sänger)-Zitaten angereicherten Horror-Text von Turmel mit Versatz-Stücken aus romantischer Literatur, Charles Manson-Mythologie und Teilen der Bizarros-B-Seite „The Cube“. Etwas schwer durchschaubar das Ganze.
Die dritte Ausgabe von „Isolation Intellectuelle“ ist angekündigt. Bezugsquelle: entweder „Der Zensor“ in Berlin 62, Belziger Straße 28 oder Sordide Sentimentale, 34 Rue Louis Ricard, 76000 Rouen, Frankreich.




